Die Legende vom Bergschreck oder "Die letzten Helden"
Es fing mit einigen uralten Überlieferungen an, jemand soll mit dem Fahrrad nach Griechenland gefahren sein! Naja, so mündliche Nachrichten verändern sich bei jeder Weitergabe ein wenig, jemand läßt etwas weg, ein anderer dichtet etwas hinzu - doch irgendwo existiert doch ein wahrer Kern.
Es wird wohl in etwa so gewesen sein, daß jemand sein Fahrrad auf's Autodach gebunden hat oder es - etwas abenteuerlicher - mit der Eisenbahn nach Griechenland transportiert hat und dort zeitweise die Pedale getreten hat. Denn dort ist es ja heiß und bergig und unter solchen Bedingungen ist, wie ein jeder weiß, das Radfahren unmöglich. Mit dem Fahrrad von hier bis nach Griechenland? Ich bitte Sie, wir wollen doch realistisch bleiben! Dahin fahren professionelle Touristen ja noch nicht einmal mit dem Auto sondern nehmen natürlich das Flugzeug.
Alte Kamellen
Doch mit der Zeit häuften sich die Berichte von rauhen Germanen, die einzeln oder in kleinen Gruppen mit Fahrrädern die Alpen überquerten und die Völker des Mittelmeerraums heimsuchten. Die Verwandtschaft konnte da von einer unheimlichen Begegnung in Österreich berichten. Ahnungslos fuhren sie mit ihrem Wohnwagen auf der Großglockner-Hochalpenstraße als mein Onkel sie plötzlich sah. In der flimmernden Hitze waren sie zuerst nur als kleine Punkte auszumachen. Motorräder? Nein zu langsam. "Radfahrer!" krähte Heinz-Rüdiger von der Rückbank. Das kann nicht sein! Wer würde es wagen ... Doch da! Packtaschen in bunten Farben, glänzendes Metall, das Auf und Ab der Pedale - der Opel mit Wohnwagen zieht vorbei und hüllt die gespentische Szene in eine schwarze Abgaswolke ein. Ein Blick in den Rückspiegel: schwitzende, wilde Wesen mit entschlossenem Blick kämpfen gegen den Berg.
Dieser Anblick und allein die Vorstellung, in dieser Hitze Fahrrad fahren zu müssen, verursachten bei Onkel Ernst einen derartigen Schwächeanfall, daß er auf dem nächsten Parkplatz erst einmal halten mußte. Raus aus dem Wagen und einen Schluck kalten Zitronentee aus der Thermosflasche - die kühle Briese trocknete den Schweiß auf der Stirn. Das Pochen im Kopf ließ langsam nach und wurde plötzlich durch fröhliches Gelächter ersetzt. Onkel Ernst drehte sich um und traute seinen Augen nicht. Die Radfahrer hatten ebenfalls den Parkplatz erreicht und bereiteten auf einem Felsvorsprung eine Mahlzeit zu.
Später, auf der Abfahrt von der Paßhöhe, überholten die Radfahrer dann mehrere schwerfällige Wohnwagen-Gespanne. Daß darunter auch ein stinkender alter Opel mit schwitzendem Fahrer war, nahmen sie gar nicht wahr. Soweit der Bericht der Verwandtschaft, der auf den alljährlichen langweiligen Geburtstagsfeiern immer wieder vorgetragen wurde. Langsam geriet diese beeindruckende Geschichte aber wieder in Vergessenheit.
Einige Jahre später begann ich einen Job in den Semesterferien. Da ich schon immer Fahrrad gefahren bin, fuhr ich natürlich auch dort mit dem Rad hin. Das erregte in einer Zeit, in der jeder vernünftige Mensch Auto fuhr, natürlich das Interesse der Kollegen. Mein damaliges Rennsportrad (ich habe übrigens nie verstanden, was an dem Rad eigentlich sportlich war) wurde von den Fachlaien unter den Mitarbeitern kritisch begutachtet.
Zwei Verrückte
Nachdem ich dann einmal unvorsichtigerweise erzählt hatte, daß ich meine Tante im 30 km entfernten Dorf mit dem Rad besucht hatte, ordneten mich die lieben Kollegen endgültig in die Kategorie "verrückt" ein. Das führte wohl zu dem Entschluß, mich auf den anderen Verrückten im Betrieb aufmerksam zu machen. "Da mußt Du 'mal den Stefan kennenlernen, der ist mit dem Rad bis nach Portugal gefahren!" Ja, ja, mit dem Finger auf der Landkarte - dachte ich. Zu der Zeit habe ich in unserer Gegend jeden Radfahrer abgehängt - es gab ja auch nicht viele. Eines Morgens hatte ich wieder 'mal verschlafen und legte auf dem letzten Kilometer vor der Firma den Endspurt auf's Parkett als ein anderer Radfahrer an mir vorbeischoß und im Fahrradschuppen neben dem Pförtnerhäuschen verschwand. Wenn das mal nicht der sagenumwobene Stefan war!
Ein paar Tage später lief er mir in der Werkstatt über den Weg und wir kamen ins Gespräch. Das mit Portugal sei schon einige Jahre her, berichtete er. Inzwischen hätte er auch schon Norwegen und Griechenland erobert. Er lud mich zu sich ein, um mir einige Urlaubsbilder zu zeigen. Die Fotos gaben sicherlich nur einen Bruchteil des Erlebten wieder, zogen mich aber trotzdem in ihren Bann.
Als er mir dann sein Reiserad zeigte (damals kannte ich den Begriff "Reiserad" noch gar nicht), war ich sehr beeindruckt. Ein derart verschlissenes Vehikel hatte ich noch nicht zu Gesicht bekommen, man hörte förmlich den Mantel der Geschichte rauschen. Es hatte in fünf Jahren rund 70.000 km ertragen müssen - die Spuren haben es für's Leben gezeichnet. Der durchgesessene Kernledersattel erinnerte an ein mittelalterliches Folterinstrument und am Rahmen waren überall irgendwelche Halterungen und Klebestreifen, deren Funktion ich nicht einmal erahnen konnte. Einige Teile waren selbstgebaut, so waren die Gepäckträger ihrer Zeit weit voraus und aus dünnen, aber stabilen Edelstahlrohren gelötet. Auf dem Lenker befand sich ein selbstgebauter Vorläufer der heutigen Triathlon-Aufsätze. Irgendwelche Schriftzüge suchte man an dem Rad vergeblich, sie waren abgekratzt um Rückschlüsse auf die Qualität zu verhindern. Stattdessen war alles von einer stabilen Dreckschicht überzogen. Doch der desolate Zustand täuschte: eine Probefahrt überzeugte mich davon, daß das Fahrzeug von überragender Qualität war.
In den nächsten Wochen war ich oft bei Stefan und wir fuhren einige Radtouren zusammen. In dieser Zeit reifte bei mir der Entschluß: Reiserad fahren, das isses! Dazu mußte natürlich erst einmal ein Reiserad her. Mit Tips von Stefan und nach dem Studium diverser Fahrradbücher klapperte ich die Radläden in der Umgebung ab. Doch ein "Reiserad" kannte man hier nicht. Überhaupt schien ich nach dem Lesen von ein paar Büchern mehr zu wissen als alle Fahrradhändler in der Stadt zusammen. Glücklicherweise zog ich dann um in eine größere Stadt, wo es auch einen kompetenten Fahrradhändler gab. Als ich den Laden betrat, entdeckte ich sie sofort: die längst als ausgestorben geglaubte Spezies der Reiseräder.
Das neue Rad
Ein paar Wochen später holte ich es ab, das nagelneue Reiserad - und merkte sehr schnell, daß es besser war, wenn ich bei Fragen nach dem Preis log. Denn nachdem ich einmal meinen Nachbarn unvorsichtigerweise den Betrag genannt hatte, den ich für das Rad auf den Ladentisch gelegt hatte, gingen sie mir scheinbar immer öfter aus dem Weg.
Nun hatte ich das Super-Fahrrad, aber niemanden zum Mitfahren. Macht nichts - die erste Tour fuhr ich eben alleine und das Reiseziel war ganz bescheiden: von hier aus in die Schweiz und über die Alpen nach Italien! Mit viel zuviel Gepäck begann ich schon im Sauerland an meiner Idee zu zweifeln. Denn ich fuhr mit einer normalen Straßenkarte - und da waren bei so kleinen Bergen eben keine Steigungsangaben drauf. Mit dem Mut der Verzweiflung fuhr ich vier Tagen bis kurz vor Freiburg. Dort soff ich nachts im Dauerregen mit meinem Zelt auf dem Campingplatz ab und hatte am nächsten Morgen die Schnauze gestrichen voll. Ab in die Bahn und nach Hause.
Noch mehr Verrückte
Bei meinem allwöchentlichen Besuch im Fahrradladen fiel mir dann ein Flugblatt ins Auge, das auf dem Verkaufstresen lag: "ADFC Reiseradseminar in Gütersloh". Ich bin natürlich hingefahren und war begeistert! Über hundert Fahrradverrückte in unzähligen Seminaren, Vorträgen und Diskussionsrunden. Natürlich habe ich auch Leute hier aus der Gegend kennengelernt und war wenige Monate später Mitglied im ADFC. Die nächsten Jahre waren ein einziger Fahrradrausch. Im Sommer immer drei Wochen mit Rad und Gepäck in die Alpen und den Rest der Zeit ADFC-Touren.
In den Alpen wurde ich zwangsläufig zum ersten Mal mit dem Bergschreck konfrontiert - aber ich stand so unter Strom, daß der mich auch nicht aufhalten konnte. Wenn wir von Pausen in einem Berggasthof zur Auffahrt aufbrachen, konfrontierten wir die anderen Gäste immer mit Sprüchen wie "So, und jetzt fahren wir die Berge kaputt". Wir versuchten uns immer gegenseitig zu Übertreffen. Reiner schoß irgendwann den Vogel ab, als er einer Autofahrerin bei der Überfahrt über den tief verschneiten Albulapaß erzählte, wir würden nie bei gutem Wetter, sondern immer nur bei Schnee und Temperaturen unter Null Grad fahren - sie hat es wirklich geglaubt!
Irgenwann kam dann die Idee, den Bergschreck in gemäßigter Form in die ADFC-Touren einfließen zu lassen. Die erste Tour 1994 hieß dann auch "Der Bergschreck" und führte von Altenbeken aus im Zickzack-Kurs über das Eggegebirge. Das war damals, als die meisten Touren durch's Flachland gingen, schon eine ziemlich spektakuläre Radtour und wir hatten erstaunlich viele interessierte, aber auch ängstliche Teilnehmer, die vorher am Telefon genauere Auskunft wollten, bevor sie sich auf das Abenteuer einließen.
Dann ging es los und schon bei der Bahnfahrt nach Altenbeken fingen die meisten an, die Spannung mit Galgenhumor zu kompensieren. Ob der Tourenleiter denn auch die Coffeinspritzen und die Boxhandschuhe eingepackt hätte, um die Teilnehmer an Steigungen zu motivieren und an welchen Stellen denn die Schmerztabletten verteilt würden. Ein typischer Dialog, als wir von Neuenheerse ein kurzes Stück bergab fuhren und in der Ferne sich drohend der Fernsehturm von Willebadessen aus dem Bergrücken erhob, ging so:
Teilnehmer 1: "Schau 'mal der Fernsehturm da oben - sieht ja richtig heftig aus." Teilnehmer 2: "Ja, gut daß wir da nicht hochfahren müssen!" Tourenleiter: "Wie kommt ihr darauf, daß wir da nicht hochmüssen?"
Daraufhin erstarben sämtliche Gespräche in der Gruppe und ich hatte das Gefühl, daß alle Fahrräder plötzlich langsamer rollten, obwohl es doch bergab ging. Eine Viertelstunde später wurde auch nicht mehr geredet, denn an einer 12%igen Steigung hatte niemand das Bedürfnis danach. Eine von den vielen kleinen namenlosen Schweinereien ist dieser Anstieg: wenn man denkt, man ist oben, knickt die Straße nach rechts ab und es geht erst richtig los!
Teilnehmer: "Wo wären wir eigentlich angekommen, wenn wir dort unten geradeaus weitergefahren wären?" Tourenleiter: "Auch hier, aber das wäre die leichtere Strecke gewesen."
In dem Moment, wo ich den Satz ausgesprochen hatte, wurde mir klar, daß das ein Fehler war. Nur der Tatbestand, daß die Teilnehmer alleine nicht nach Hause gefunden hätten, hat sie wohl davon abgehalten, mich an den Willebadessener Fernsehturm zu fesseln und herumstreunenden Motorradfahrern zu überlassen. Das nächste Mal lüge ich wohl besser...
Nachtrag
Mittlerweile ist das Wort "Der Bergschreck" ein geflügeltes Wort für Touren geworden, die eben nicht durch's Flachland führen, wobei immer noch nicht so ganz klar ist, ob wir dabei die Berge erschrecken oder sie uns.
Tja, so war das mit dem Bergschreck. War doch alles halb so wild, oder?