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#779262 - 12/14/11 07:51 AM
Marokko - Berber, Berge, Wüste, Werte
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Vom 18. November bis 4. Dezember fuhr ich mit einer guten Freundin von Agadir/Marokko nach Melilla, der spanischen Exklave in Marokko. Das erste mal, dass ich in Afrika war. Das erste mal, dass ich nach einer Reise kein Fazit ziehen kann. <><><> 18. November 2011 – Anreise, Agadir – Taroudant, Hennen oder Eier? Es ist vier Uhr dreißig, Hannover Hauptbahnhof. Um vier Uhr fünfunddreißig fährt die S-Bahn zum Flughafen und Karla ist noch nicht hier. Ich schalte mein Mobiltelefon ein und wähle ihre Nummer. „Oh, mein Wecker hat nicht funktioniert! Ich nehme ein Taxi zum Flughafen.“ OK. Ich habe das Zelt, Kocher, Werkzeug, Luftpumpe. Kann somit auch alleine fahren. Aber Karlas Rad und Packtaschen sind seit gestern abend abgefertigt und jetzt wohl auch schon im Flieger – der hebt in genau 55 Minuten ab. Irgendwie fährt diese dämliche S-Bahn nicht los. Es ist 4:40 Uhr, ich gehe zum Fahrer, will an der Tür klopfen. Da fährt das Ding endlich an. Am Abfertigungsschalter spreche ich mit einem jungen Mädel (bin bald 50 – da sind viele Frauen „Mädels“): „Meine Freundin kommt mit dem Taxi, müsste in zehn Minuten hier sein.“ „Knapp!“ sagt sie kurz. „OK – ich sage am Einstieg Bescheid, dass die Maschine bis auf den letzten Drücker warten soll.“ „Danke.“ Ich gehe zur Sicherheits-Schleuse. Was um alles in der Welt machen die ganzen Leute so früh hier? Sollten zuhause im Bett liegen, sorgen für ewig lange Warteschlangen. Na ja, ich bin eingebucht, Karla auch, die Kiste wird ohne uns nicht abheben. Ich sehe Karla um die Ecke biegen – sie wirkt ein wenig orientierungssuchend, aufgeregt, aber auch erleichtert. Schließlich ist sie eher da als ich dachte. Ich rufe, schicke sie nochmal zum Schalter-Mädel, dann ist erstmal Durchatmen dran. Und das um kurz nach fünf Uhr morgens. TUI-Flug Nummer sowieviel nach Las Palmas fliegt fast pünktlich ab. Im Flieger frage ich meinen Nachbarn erstmal, wohin wir eigentlich fliegen – „Las Palmas“ gibt es viele. „Gran Canaria.“ „Danke.“ Die vor uns lachen, mein Nachbar schaut fragend. Nach einem Flugzeugfrühstück, der üblichen Werbe- und Verkaufsqual, „Larry Crowne“ mit Hanks und Roberts, einem Zwischenstopp in Las Palmas und einem Umstieg in ein anderes Flugzeug landen wir pünktlich in Agadir. Es ist Mittag. Der Flughafen versprüht orientalisches Flair, die Fahrräder sind heil, das Gepäck komplett, das Wetter genial. Wir treffen einen Radler aus Frankfurt, der uns wertvolle Tipps für die Route bis Rissani an der Ostgrenze Marokkos gibt. Karla und ich bemerken, dass wir beide fast keine Zeit für die Vorbereitung und mentale Einstellung auf diese Reise, dieses Land, diese Kultur hatten. Uns nicht genommen haben. Eigentlich wollte sie noch ihr Französisch auffrischen und ich meine Planstrecke aus dem Internet in die Karte einmalen. Stress. Bei beiden. Blöd und nicht angemessen für eine solche Reise. Ich wollte mich auch nochmal mit der Kultur der Berber auseinandersetzen, durch deren Gebiet wir ja fahren. Wie begrüßt man sich? Wie wünscht man sich Glück? Dann müssen wir das eben unterwegs lernen. Bis Taroudant fahren wir eine vierspurige, viel befahrene Straße. Die Lockerheit der Fahrer fällt uns sofort auf. Und die Art der Fuhrwerke, die hier rumfahren. Vom deutschen Protz-Geländewagen bis zum Esel-Gespann. Wir fahren ganz rechts und dennoch überholen uns alle Autos, Laster und Mopeds auf der linken Spur. Unterwegs halten wir an einer Tankstelle für einen Tee. Tee? Tee auf marokkanische Art. Das Glas wird mit frischer Nana-Minze vollgestopft, darüber gibt es den Tee-Sud. Darüber noch einen Aufguss. Dazu wird ein Zuckerquader von zirka drei mal zwei mal ein Zentimeter gereicht. Den braucht das Gebräu auch. Aber dann ist das echt lecker. Zum ersten Mal kommen wir mit den Menschen hier in Kontakt. Total freundlich, bemühen sich sehr, französisch mit uns zu reden. Aber unsere Kenntnisse sind echt grottig. Ich nehme mir vor, mal einen Grundkurs bei der Volkshochschule zu belegen. In Taroudant finden wir ein kleines Hotel, das sauber und authentisch erscheint. Erstmalig erleben wir nach Zimmerbeziehen und Duschen einen typischen Basar. „Klein Marakesch“ wird das hier auch genannt. Ein Gewusel ist das – unglaublich: Fußgänger, Autos, Laster, Motorräder, Dreiräder, Esel-Gespanne, Pferdekutschen, Mofas, Fahrräder – alles bewegt sich offensichtlich ohne Regeln durcheinander. Die jungen Kerle auf den Mofas bremsen zum Teil mit den Füßen. Ich weiß nicht wie, aber sehe, dass es funktioniert. Wie Blut in den Adern. Nur mit Gegenverkehr. Mir gefällt die Unaufgeregtheit, mit der die Menschen hier mit sich selbst umgehen. Aber es stinkt, beißt in Nase und Hals. Es stinkt in dieser Stadt, weil die alten Diesel und Zweitakter das Öl zu dicken schwarzen Rauchschwaden verbrennen und ungefiltert in die Luft pusten. Die Fuhrwerke selbst sind zum Teil recht abenteuerlich – vor allem spannend beladen. Hier sind die meisten Fahrzeuge noch Mittel zum Zweck. Sie müssen transportieren, nicht als Statussymbol dienen. Der Pragmatismus der Orientalen, der mir als Deutschem so auffällt, hält nicht beim Beladen von Dreirädern auf – er geht bis ins Philosophische: Wir beschäftigen uns ja häufig mit der Frage, was zuerst da war: Die Henne oder das Ei. In Marokko wird die Frage wie folgt beantwortet: Beides. Egal. Aus der Henne wird eine Suppe, aus dem Ei ein Omelett. Warum sollten wir das in Verbindung bringen? Du kannst Hennen und Eier in einem Laden kaufen. Gleichzeitig. Warum fragst Du überhaupt? Wo ist Dein Problem? Beim Staunen und Denken wird der Gestank-Teppich von leckerem Meeresfrüchte-mit-Knoblauch-Bratfett-Geruch überlagert. Wie Hunde halten wir die Nasen in den Wind und suchen die Geruchsquelle. In einer Seitenstraße werden Fischteile, Scampis und kleine Sardinen frittiert. Die Bude ist rappelvoll und wir lassen uns einen großen Teller mit Frittiertem belegen. Dazu Brot und zweierlei Soßen. Zahlen sollen wir hinterher. Das ist lecker. Auch in diesem Lokal hier ist es wuselig – und dennoch nicht hektisch. Und dann der Preis: 15 Dirham, nicht mal ein Euro fünfzig. Für beide. Satt und müde gehen wir ins Hotel Atlas zurück. Zum Blog und allen Bildern dieses Artikels geht's hier: 18. November 2011 <><><> 19. November 2011 – Raus in die Landschaft, rein ins Herz Morgens bewundere ich nochmal die Ausstrahlung des Hotels – für mich ist das Ambiente ja neu. Was in Deutschland immer so kitschig wirkt, ist hier passend. Auf eine bestimmte Weise attraktiv. Die ganzen Verschnörkelungen, Verzierungen, Ornamente an Türen, Teppichen, Wänden, Decken, Griffen, und so weiter sind so ganz anders als der nüchtern-sachliche Bauhaus- und Moderne-Stil der deutschen Wohnweise. Nach einem petit dejeuner mit Pulverkaffee geht’s weiter. Ich glaube, hier in Marokko ist es besser, Tee zu trinken. Erst jetzt, nachdem wir aus dem Ort wieder rausfahren, fällt mir auf, dass Taroudant eigentlich eine Art Festung ist – die Stadtmauer ist mächtig und umschließt über rund sieben Kilometer das komplette historische Zentrum. Ein Stück noch auf der viel befahrenen Hauptstraße, dann biegen wir ab Richtung Irghem und Tata. Die Frau aus dem Hotel in Taroudant versuchte mir die Aussprache von Irghem beizubringen: Irr-Rramm. Normalerweise kann ich gut nachsprechen, aber arabisch oder berber ist schon noch schwieriger als spanisch oder französisch. Zumal die in der Karte geschriebenen Worte mit lateinischen Buchstaben häufig nichts mit der Aussprache in arabisch zu tun haben. Am Abzweig, der unbeschildert ist, frage ich nach dem Weg nach Irr-Rramm. Die Aussprache-Übungen bewähren sich, man versteht mich und weist den richtigen Weg. Wir fahren durch einen „Brutzel“-Stadtteil von Ait-Yazza (keine Ahnung wie das ausgesprochen wird): Eine Werkstatt nach der anderen. Eine Konstruktion vor den Werkstätten abenteuerlicher als die andere. Es riecht signifikant nach Schweißen. Alle möglichen alten Mofas und Peugeots stehen oder hängen in den dunklen Werkstätten. Hier wird nichts weggeworfen, hier wird auseinander- und wieder zusammengebaut und -geschweißt. Und bestimmt ist das alte Motobecane-Mofa hier vorn bald Teil des 504er Peugeot-Pritschenwagens da hinten. Hauptsache, die Dinger fahren und transportieren. Ich überlege, ob ich der Universität von Hannover empfehle, die Maschinenbau-Studenten nicht mal auf ein Praxissemester nach Ait-Yazza zu schicken. Man könnte garantiert voneinander lernen. Jetzt wird es bald wesentlich ruhiger. Vor uns sehen wir schon die Berge des Anti-Atlas. Die Landschaft ist karg. Auf den roten Schotter-Flächen stehen immer einzeln alte und junge Akazien. Dazwischen suchen Schafe und Ziegen die letzten grünen Pflanzen. Einige der Ziegen klettern dafür auch in die Bäume – skurrile Bilder. Die Menschen hier sind sehr freundlich. Egal ob jung oder alt – die meisten winken uns zu. Es gibt auch viele Fußgänger auf den Straßen außerhalb der Orte – für ein wohlmeinendes „Salam“ ist immer Zeit und Gelegenheit. Kleine Kinder winken und freuen sich, so dass mir das Herz aufgeht. Das kenne ich gar nicht mehr und erinnert mich an meine Kindheit, als ich – an der Straße stehend – immer den Autos der nahen Straßenmeisterei zuwinkte und die Männer auf dem Bock dann das Blinklicht zum Gruß einschalteten. Also winke ich hier den Kindern zurück und freue mich auch. Wenn Frauen irgendwo vor den Häusern hocken oder stehen und ich winke (sie selbst tun es von alleine nicht), zaubert es ihnen ein wunderschönes Lächeln auf’s Gesicht. Die Orte, an denen wir jetzt vorbeifahren, fügen sich harmonisch in die Berglandschaft ein. Auch dadurch, dass Häuser und Landschaft gleichfarbig sind, habe ich häufig das Gefühl, sie schmiegen sich an die vorgegebenen Konturen an. In irgendeinem dieser Orte testen wir dann die Art und Weise, hier einzukaufen. Diese kleinen Läden, die meistens mit einem Coca-Cola-Schild gekennzeichnet sind, sind Teehaus, Treffpunkt, Arbeitsplatz, Betstätte, Supermarkt und Geldwechselstube in einem. Gemäß dem uns empfohlenen Prinzip „Erst verhandeln, dann kaufen“ fange ich an, den Preis einer Flasche Wasser und eines Fladenbrotes zu erfragen. Der Verkäufer schaut mich fragend an. „Quelle prix?“ frage ich nochmal. Keine Reaktion. „Zwei Flaschen Wasser und zwei Brote von denen da bitte.“ sage ich auf französisch. Das wird verstanden und umgesetzt. Dazu kaufe ich noch 200 Gramm Couscous, 100 Gramm Mandeln, 100 Gramm Erdnüsse sowie 100 Gramm von irgendwelchen Sesam-Kräcker-Kugeln. Der Händler fängt an, wild auf seinem Taschenrechner herumzutippen, schreibt dann alles nochmal auf einen Zettel und zeigt mir die Zahl. 20 Dirham. Jetzt will er wissen, wo wir herkommen und wo wir hinwollen. Ich erkläre, dass unser wichtigstes Ziel Rissani sei. Darauf läd er uns erstmal zu einem Tee ein. Er platziert zwei Stühle in seinem dunklen Laden und wir sitzen somit an einem Tisch, der mit trocknenden Datteln belegt ist. Probieren sollen wir sie, diese Palmenfrüchte. Lecker. Echt lecker. Während wir Tee trinken erklärt er uns verschiedenste Wege, die alle nach Rissani führen sollen. Er malt auf einen Zettel -zig Straßen und Namen, erklärt auf französisch und arabisch und Karla und ich schauen uns an und fragen uns, was er da eigentlich erzählt. Nach ungefähr einer halben Stunde ist der Tee ausgetrunken, der Zettel vollgemalt, der Bauch voll mit Datteln und wir wollen weiterfahren. Der Abschied ist herzlich, ich schaue mir das Gestik-Ritual für Grüße zwischen Männern an und mache es nach. Nach einem mittelfesten Händedruck wird die rechte Hand nochmal zum Herzen geführt, während man sich verbeugt. Der Himmel zieht sich gegen abend zu und wir kommen zu unserem Tagesziel Irghem. Das ist ein ziemlich dreckiger Ort. Durchgangsort, Kreuzungsort. Und komplett ohne Frauen. Jedenfalls sehe ich keine. Vielleicht ist er deshalb so dreckig. Durch die Erfahrungen mit dem netten Hotel aus Taroudant ermuntert und wegen des aufkommenden Regens nehmen wir ein Hotel, das von außen ganz annehmbar scheint, ohne vorher die Zimmer zu besichtigen. Das rächt sich schnell. Zimmer, Dusche, Klo – alles ekelhaft schmuddelig. Manchmal komme ich aus Zeitgründen zuhause auch für eine oder zwei Wochen nicht dazu, zu putzen. Wenn ich den daraus resultierenden Zustand meiner Wohnung mit dem Zustand dieses Hotels vergleiche, haben die hier seit zirka dem Bau dieses Hauses nicht mehr geputzt. Kakerlaken gibt’s nur deshalb nicht, weil es hier so kalt und normalerweise trocken ist. Und dann soll die Butze auch noch 200 Dirham kosten. Na ja – wir packen unsere Schlafsäcke und Isomatten aus und werden uns wohl hier auf dem Zimmer mit dem eigenen Kocher ein Abendessen zubereiten. Ein Kellner kommt unaufgefordert und ohne Klopfen ins Zimmer (Schlüssel gibt es nicht) und fordert das Geld. Ich gebe ihm die 200 als einen Schein. Nach fünf Minuten kommt er wieder und gibt mir 140 zurück. Ich kapiere das nicht, frage aber auch nicht. Wir kochen uns eine Mischung aus Reis und Haferbrei. Zum Blog und allen Bildern dieses Artikels geht's hier: 19. November 2011 <><><> Fortsetzung folgt...
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Edited by joeyyy (12/14/11 07:52 AM) |
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#779267 - 12/14/11 08:04 AM
Re: Marokko - Berber, Berge, Wüste, Werte
[Re: joeyyy]
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Hallo Jörg, ich hab gerade schon den nächsten Teil deiner Reise vom 20. November verschlungen und frag mich, ob Du den Regenbogen mit Photo-Shop so stimmig und elegant dem Bergrücken angepasst hast. Sicherlich war das keine Landschaft zum Sterben. Für mich ist sie eher das Gegenteil, wenn ich das mal so sagen darf. Herzliche Grüße Jürgen Danke dafür, dass Du hier weiter schreibst
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Edited by Juergen (12/14/11 08:05 AM) |
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#779278 - 12/14/11 09:02 AM
Re: Marokko - Berber, Berge, Wüste, Werte
[Re: joeyyy]
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Da seid ihr also im Hotel "Rendez-vous" untergekommen, wenigstens ist es seit meinem Besuch nicht teurer geworden...
Gruß Gerold
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#779279 - 12/14/11 09:02 AM
Re: Marokko - Berber, Berge, Wüste, Werte
[Re: Juergen]
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Hallo Jörg, ich hab gerade schon den nächsten Teil deiner Reise vom 20. November verschlungen und frag mich, ob Du den Regenbogen mit Photo-Shop so stimmig und elegant dem Bergrücken angepasst hast. Sicherlich war das keine Landschaft zum Sterben. Für mich ist sie eher das Gegenteil, wenn ich das mal so sagen darf. Herzliche Grüße Jürgen Danke dafür, dass Du hier weiter schreibst Moin Jürgen, ja, ich schreibe gerne hier, weil ich hier auch gerne lese. Es gibt im Forum mittlerweile einfach so gute und qualitativ auch hochwertige Beiträge, dass ich begeistert bin und auch gerne etwas dazu beitragen möchte. Und da schreibe ich meinen Reisebericht halt in die Rubrik Reisebericht, damit er da auch steht und nicht als Reisebericht im Treffpunkt oder im Kurz-Reisebericht, da es ja kein Kurz-Reisebericht ist und ich mich in Marokko auch nicht mit so vielen Leuten aus dem Forum getroffen habe. Natürlich ist es natürlich, erstmal darüber nachzudenken, wo das Leben blüht oder auch nicht und so Landschaften und Stimmungen zu (er-)leben. Davon berichte ich viel und gern und genieße das auch. Aber für mich gibt es nur ganz wenige Orte auf der Erde, an denen ich sterben möchte. Wie gesagt: Das soll jetzt nicht mit meiner Morbidität verbunden werden - die ist ganz weit weg von mir (noch...). Aber vielleicht hat das auch was mit der Anziehungskraft der (gefühlten) Lebensfeindlichkeit (aus Sicht des Menschen) solcher Orte zu tun: Gletscher, Eiswüsten, Sandwüsten, Meer, Urwald, etc. Muss ich auf einer der nächsten Reisen mal reflektieren... Aber: Wir greifen jetzt schon vor - ich bin noch nicht so weit und will nicht, dass mein Reisebericht wieder in den Treffpunkt verschoben wird, deswegen will ich auch noch nicht sagen, dass ich im Blog schon weiter bin...
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Edited by joeyyy (12/14/11 09:05 AM) |
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#779373 - 12/14/11 04:20 PM
Marokko - Berber, Berge, Wüste, Werte
[Re: joeyyy]
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20. November 2011 – Eine Landschaft, zum Sterben schön Ich schlafe schlecht, das Haus ist sehr laut. Ich nehme die Ohropax aus den Ohren und höre Sturm und Regen. Ich stecke die Ohropax wieder rein und drehe mich nochmal um. Gegen halb acht sind Karla und ich dann beide wach. Ein Blick aus dem Fenster (unser Zimmer ist fensterlos – ich muss raus und aus dem Flurfenster schauen) verheißt nichts Gutes: Regen, Wind, Kälte. Für’s Frühstück werfe ich wieder den Kocher an, es gibt heißen schwarzen Tee, Oliven, Brot. Auf der Straße dann entscheiden wir, nochmal in eine Teestube zu gehen, um die hellen Flecken oben am Himmel abzuwarten. Vielleicht bedeuten Sie ja, dass der Regen aufhört. Außerdem würden wir uns beide über eine süße Abwechslung unserer Morgen-Ernährung freuen. In der Teestube, über der zwar „Patisserie“ steht, in der es aber – außer frischem Brot – keine Backwaren gibt, werden wir freundlich begrüßt. Es sitzen ausschließlich Männer um die Tische und trinken Tee. Als Karla und ich dann bedient werden und frühstücken, verlassen die Männer nach und nach die Stube und setzen sich draußen hin – in die Kälte und den Wind. Wir beide fragen uns, ob sie das wegen Karla tun. Sie trägt schließlich kein Kopftuch und tritt ziemlich selbstbewusst auf. Die hellen Flecken am Himmel bedeuten jedenfalls nicht, dass es aufhört zu regnen. Wir beschließen, jetzt loszufahren. Von Irghem aus geht es Richtung Süden erstmal bergab. Mit jedem Höhenmeter runter wird es spürbar wärmer. Irgendwann hört dann auch der Regen auf. Und die Sonne findet immer wieder Wolkenlücken, durch die sie die Landschaft wie mit einem Bühnen-Scheinwerfer anstrahlt. Dann fängt es mal wieder an zu regnen. Der Regen lässt die Bergstrukturen glitzern, als seien sie mit Silber überzogen. Da es jetzt nicht mehr so kalt ist, macht es mir überhaupt nichts aus, im Regen zu fahren. Im Gegenteil – es ist ein schönes Gefühl zu wissen, dass die Sonne gleich wieder rauskommt und mich trocknet. Und weil sich Sonne und Regen abwechseln, gibt’s auch schon mal Regenbögen. Rechts neben uns dicke Wolken mit Regen, links die Sonne. Zwei Kilometer weiter ist’s andersrum. Toll. Heute scheint irgendwie insgesamt der Tag der Landschaft zu sein. UNBESCHREIBLICH!!! Diese Farben, diese Formen, diese Komposition – grandios. Die Berge sind wunderbar konturiert – sie wirken wie vertikal geschichtet. Die Weite dieser Landschaft lässt mich über meine Endlichkeit nachdenken. Nein, ich bin nicht morbide oder krank oder mürbe oder erschöpft – aber mir kommt ad hoc der Gedanke: Hier könnte ich sterben – und es wäre gut. Dieses Gefühl hatte ich bisher nur auf dem Aletschgletscher in der Schweiz. Schön, dass sich meine Auswahl jetzt verdoppelt hat. Mit dem Wind macht sich die Nähe der Wüste bemerkbar. Sand wird durch die Luft geblasen. Der Wind ist so heftig, dass ich fast und Karla tatsächlich von der Straße geweht wird. Im Straßengraben müssen wir Zuflucht vor dem jetzt entwickelten Sandsturm suchen. Karla hat Sand unter ihren Kontaktlinsen und muss sie rausnehmen. Das funktioniert aber irgendwie nicht – vor allem nicht, wenn der Sand von allen Seiten kommt. Ich ahne, was es bedeuten muss, in einen richtigen und andauernden Sandsturm zu geraten. Nach rund einer halben Stunde ist der Spuk zunächst vorbei und wir können weiterfahren. Der Wind ist zwar immer noch stark, er weht aber nun von hinten und drückt mich mit knapp 50 Sachen auf der Geraden in Richtung Tata. Karla lässt es ruhiger angehen, ich finde das total klasse und trete gut mit. In der Zeit, in der ich auf Karla warte, kann ich immer wieder die Kamera aus der Lenkertasche holen und mich auf diese mir unbekannten Motive konzentrieren. Eine einzige Akazie – mitten in der Steinwüste hier. Warum nur sie? Wo sind die anderen? Warum genau hier? Wir brauchen noch Essen für heute abend und schauen in einem Dorf an der Straße nach einem Laden. Fehlanzeige. Das Dorf wirkt wie ausgestorben. Ich schiebe mein Rad in Richtung Moschee und kann eine Frau beobachten, die des Weges geht. Als sie mich sieht, versteckt sie sich schnell. An den Türen der Häuser sind die typischen Berber-Zeichen als Ornamente angebracht. Gegen fünf erreichen wir das Oued Tata, ein normalerweise ausgetrocknetes Flussbett, das aber durch den Regen der letzten Tage Wasser führt und die hiesige Oase mit dem Nass versorgt. Hier finden wir einen wunderschönen Zeltplatz direkt am Fluss, kochen uns Couscous mit frischen Zwiebeln und Paprika und genießen die absolute Stille der Gegend und vor allem den schwarzen Himmel mit einem Sternenbild, das ich schon ewig nicht mehr gesehen habe. Selbst die Milchstraße ist wunderbar zu erkennen – bei uns in Europa ist das wegen der „Lichtverschmutzung“ durch die Städte kaum noch möglich. Ich schaue nochmal auf meinen Tacho: 28er Schnitt über den Tag. Eigentlich viel zu schnell für diese Landschaft. Und das sage ich als Radfahrer… Zum Blog und allen Bildern dieses Artikels geht's hier: 20. November 2011 <><><> 21. November 2011 – Prozessionen, Polizei, Persönliches Kinder wecken uns – sind auf dem Weg zur Schule, schauen zu uns rüber, zögern, näher zu kommen. Schon lange habe ich diese süße Mischung aus Schüchternheit und Neugier nicht mehr gesehen. Danach folgt eine kleine Ziegenherde. Die Hirtin ist in einen dunklen Talar gekleidet. In Tata findet eine Prozession statt. Die marokkanischen Nationalflaggen flattern im Wind. Diese blutroten Tücher allerorten finde ich sehr schön. Vor allem mit diesem dunkelgrünen Stern in der Mitte. Ich mag den Kontrast. Ich weiß nicht ob es eine religiöse oder politische Veranstaltung ist. Jedenfalls singen die Männer (Frauen sind nicht dabei) Kanon-ähnliche Strukturen und Rhythmen. Die Schwingungen der Gesänge, die gleichmäßige Trägheit der Schritte, das Flattern der Fahnen – irgendwas wirkt da gerade sehr beruhigend auf mich. Stundenlang könnte ich zuschauen und zuhören, die Augen schließen und nur zuhören. Wir entscheiden mit Rücksicht auf die Kultur der Menschen und auf die uns unbekannten Motive und Ziele dieser Prozession, ihr nicht weiter zu folgen sondern jetzt raus zu fahren – Richtung Wüste. Der nächste Ort ist 75 Kilometer entfernt: Tissint. Wir prüfen nochmal unsere Wasservorräte und fahren los. Die Landschaft gewinnt an Weite, die Berge sind schwarz, braun, grün. Kurz vor Tissint kündigt sich die Sahara an: Eine Art Schlucht ist in festen Sand gefressen. Die Strukturen werden durch die um diese Jahreszeit tief stehende Sonne wunderbar schattiert. In Tissint kontrollieren uns zwei Polizisten. Sie fragen wo wir herkommen, hinwollen und wo wir schlafen wollen. Ich antworte, dass wir heute nur noch kurz und morgen bis Foum-Zguid wollen. Wann wir dort ankommen, wollen die Männer wissen. Gegen vierzehn Uhr. Einer geht mit unseren Pässen ins Gebäude, ich frage den anderen ob es Probleme mit oder für uns allgemein und an der algerischen Grenze im Besonderen gäbe. Nein – keine Probleme, alles sicher, alles klar. Ich überlege schon, was uns das kosten wird, hier wieder weiterzufahren. Was mich allerdings beruhigt, ist die Tatsache, dass das hier keine kleine Dorf-Polizei-Station ist, in der die eine die andere Hand wäscht. Hier gehen auch Zivilisten und Soldaten ein und aus. Und zwar dauernd. Der Polizist, der uns bewacht, und ich unterhalten uns in einer Mischung aus Englisch und Französisch. Nach rund fünfzehn Minuten kommt der andere wieder raus und fragt nach unseren Berufen. Manager und Scientist. Beide wollen wissen, was das bedeutet. Ich frage mich, warum die das wissen wollen. Ist es richtig, zu signalisieren, dass man einen einträglichen oder bedeutungsvolleren Beruf als andere hat? Ach – schnickschnack, was ist das ist. Ich bleibe bei der Wahrheit, auch hier. Nach einer kurzen freundlichen Erläuterung fahren wir weiter. Die Menschen hier sind irgendwie ganz anders als bei den Berbern in den Bergen. Dunkler, viele Schwarz-Afrikaner. Wir kaufen uns noch Wasser, Brot und etwas Käse und fahren weiter. Karla fühlt sich nicht wohl hier als Frau mit nackten Beinen. Im Oued el Maleh finden wir einen Bilderbuch-Platz zum Zelten. Ein kleiner Fluss fließt hier und wir stellen das Zelt auf einen Rasenplatz, eingerahmt von Dattelpalmen. Die Datteln können wir einfach so vom Boden auflesen, waschen und essen. Wir genießen den Luxus, uns und unsere Wäsche im Bach waschen zu können. Die Sonne malt beim Untergehen die Palmen orange und die Wolken lila an. Abends im Schlafsack gehe ich mal meiner Frage nach, warum eine Reise zu zweit so ganz anders ist als eine Reise allein. Es hat überhaupt nichts damit zu tun, ob Karla und ich uns verstehen oder nicht, ob wir gleich kräftig sind oder nicht, gleiche oder unterschiedliche Biorhythmen haben. Es geht auch nicht darum, was besser oder schlechter wäre. Es geht darum, das „anders“ zu erkennen. Ich merke, dass wir gegenseitig emotionale Impulse aussenden, auf die wir gegenseitig auch reagieren und mal mehr, mal weniger tief eingehen. Das bindet Zeit und Energie, die ich sonst für mein freies Denken, Fotografieren, Reden, Beobachten, Ausprobieren einsetze. Also gebe ich etwas auf, das ich sonst sehr schätze und von dem ich auf Reisen und auch hinterher sehr zehre. Andererseits genieße ich die Diskurse, die Karla und ich führen. Ihre Sicht auf die Verhältnisse hier, die Schilderungen ihrer so ganz anderen Gefühle, die sie hier entwickelt. Das nehme ich mit und das bereichert auch meine Eindrücke. Es ist eben „anders“, zu zweit zu reisen – nicht besser, nicht schlechter. Und es ist ganz „anders“, mit jemandem zu reisen, den man noch gar nicht so richtig kennt, noch nie in körperlichen, emotionalen oder sozialen Extremsituationen kennen gelernt hat. Ich weiß nicht, ob ich das nochmal machen möchte. Und für mich ist es auch ganz „anders“, mit einem Menschen zu reisen, den ich liebe. So wie mit meinem Sohn im Sommer von Goslar nach Berlin. Ich weiß, dass ich das gerne mal wieder machen möchte. Zum Blog und allen Bildern dieses Artikels geht's hier: 21. November 2011
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Edited by joeyyy (12/14/11 04:24 PM) |
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#780863 - 12/18/11 10:46 PM
Re: Marokko - Berber, Berge, Wüste, Werte
[Re: joeyyy]
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22. November 2011 – Ich. Arroganter Weltverbesserer. Bis heute nacht wusste ich nicht, wie Esel exkrementieren, fressen, stinken und schreien können. Nachts um vier prägt sich das aber schnell ein. Vor allem, wenn das Anschauungsobjekt genau zwei Meter entfernt agiert. Also wieder eine unruhige Nacht. Dafür entschädigt der Morgen. Die Sonne sorgt für thermische und optische Wärme. Karla und ich entscheiden, erst in Mrimina einen Tee zu trinken und jetzt ohne Frühstück loszufahren. Eine halbe Stunde später stehen wir an der Straße und schauen unsicher in Richtung des Dorfes. Einladend ist was anderes… Mrimina ist ein Wüstendorf, ähnlich einer Festung. Die Wege, die hineinführen, sind geschottert. Vor dem Dorfeingang sitzen ein paar Menschen, die im Schatten wahrscheinlich auf einen Bus warten. Karla fragt eine Frau in einem dieser typisch kräftig-farbenen Talaren, ob wir hier ein Brot kaufen könnten. Sofort kommt einer der Männer, die eigentlich woanders sitzen, um sich als Ansprechpartner zu präsentieren. Und er geht auch nicht auf Karla zu sondern auf mich. Er schickt uns rein ins Dorf, dort gäbe es eine „fête“, wo wir einkaufen könnten. Langsam fahren wir über die Sandpiste ins Dorf, zwischen Lehmmauern und nahezu fensterlosen Häusern. Die Stille hier ist seltsam. Ich habe mich auf meinen Reisen noch nie so fremd gefühlt wie in diesem Moment. Noch nie so uneingeladen, so unwillkommen. Die „fête“ scheint irgendwas religiöses zu sein – der Eingang sieht aus wie der Eingang zu einer Moschee. Wir rollen weiter. An einer Ecke steht ein Schwarzafrikaner – ihn frage ich nach Brot. Ob ich hier welches kaufen könnte. „No!“ – kurz und bestimmt. Ein älterer Beduine kommt hinzu, fragt auf arabisch nach. Nach einem kurzen Gespräch zwischen den beiden Männern sollen wir warten: „Attends!“ Der Alte geht in eines der Häuser und kommt mit einem halben Laib Brot wieder raus. Aus einem Nachbarhaus kommt noch ein Mann mit zwei kleinen Broten auf uns zu. Ich merke, wie die Menschen auftauen und sich die Mienen auf den Gesichtern erhellen. Als ich frage was ich zahlen soll, sind die Männer fast beleidigt. Ich gebe ihnen einen Erdnussriegel aus Deutschland, den ich noch als Notration in meiner Blechbüchse habe. Jetzt sollen wir noch zum Tee ins Haus kommen. Karla winkt ab, ihr ist es zu mulmig. Wir bedanken uns ganz freundlich und verabschieden uns herzlich. Der junge Schwarze fragt nach meiner Adresse. Ich überlege nicht lange und schreibe sie ihm auf. Dann fahren wir wieder zurück auf die Hauptstraße N12 und fragen uns, warum die Männer meine Adresse wollten – vielleicht als Anlaufpunkt in Deutschland. Karla und ich sind beide der Meinung, dass es richtig wäre, diesen Menschen in Deutschland zu helfen soweit das möglich wäre. Das sind keine Flüchtlinge! Das sind keine Extremisten! Das sind keine Verbrecher! Das sind keine Terroristen! Das sind keine Migranten! Das sind wunderbare, hilfsbereite und gastfreundliche Menschen, die unsere Gastfreundschaft genauso verdient haben wie sie uns ihre andienen. Was sehen wir denn schon auf unserer abgeschotteten Insel der Glückseligkeit in den Zeitungen und Nachrichten von muslimischen Ländern und dieser Gesellschaft? Das, was uns eben passiert ist? Die Unbekümmertheit der Kinder, die vor den Häusern spielen? Das wuselige Treiben auf den Märkten hier? Den Respekt, den die Menschen sich gegenseitig allein beim Grüßen und Verabschieden entgegenbringen? Nein. Wir sehen das, was wir sehen sollen, weil es das ist was wir sehen wollen. Wir wollen unsere Schubladen füllen. Und auf der Schublade „Arabischer Staat“ steht: Randale in den Vororten von Paris durch maghrebinische Jugendliche, Revolution in Tunis oder Algier, Al Quaida fasst Fuß in Libyen, Kriminalität durch Ausländer nimmt zu, und so weiter. Wir bekommen verkürzte Ausschnitte präsentiert, zugeschnitten auf ein sensationsgeiles Publikum, das ansonsten bei Wetten dass oder DSDS degeneriert und sich einen Scheißdreck darum kümmert, warum die Welt so ist wie sie ist. Wahrscheinlich weil die Degeneration des Denkens schon zu weit fortgeschritten ist… Wenn ich hier in der aus unserer Sicht „herrschenden“ Armut sehe, mit welcher Herzlichkeit Menschen miteinander umgehen können und dann an die Novembergesichter denke, die mich in Deutschland wieder daran erinnern, dass ich auf der falschen Radwegseite fahre, würde ich am liebsten hierbleiben. Diese Menschen sollen „arm“ sein? Diese Menschen sollen von uns lernen wie „man“ lebt? Betet? Konsumiert? Wenn wir nicht so arrogant wären, könnten wir hier lernen – von diesen Berbern, Marokkanern, Beduinen, Moslems – wie Herzlichkeit gelebt werden kann. Wie „Miteinander“ funktioniert. Wie Prioritäten gesetzt werden können. Nach zwei Stunden machen wir Pause. Eine Akazie spendet wohltuenden Schatten. Die Wüste meldet sich an. Karlas Vorderrad ist platt. Wir flicken es, ich wasche mir die Schmiere mit Sand und einem Mund voll Wasser von den Händen. Hier hat Wasser einen großen Wert. Auch wenn wir überall welches kaufen können (von Coca-Cola!), so haben wir doch Respekt vor dem Verbrauch. Mitten im Nichts in praller Sonne kann jeder Schluck lebenswichtig sein. Kamele haben sich ja sehr gut an diese Bedingungen angepasst. Einige von ihnen überqueren direkt vor uns die Straße. Ihre Bewegungen und offenbar auch ihr Gemüt sind extrem unemotional. Für das Überleben in der Extremsituation „Hitze“ optimiert. Während Karla versucht, eines der Tiere zum Bleiben zu animieren, denke ich darüber nach, was ich von diesen Tieren lernen könnte. Foum Zguid sehen wir schon von weitem. Dennoch sind es noch über zwanzig Kilometer bis dahin. Wir glauben das nicht – anscheinend täuscht uns diese Landschaft Entfernungen vor, die de facto viel größer sind. Der Ort selbst ist ein Touristenort. Eine große Kaserne und ein Campingplatz begrüßen uns. Auf dem Hauptplatz kaufen wir Obst und Gemüse, danach essen wir Mittag in einem Restaurant. Ich bestelle ein Omelett – es kommen zwei Sorten Oliven, Brot und ein Rührei mit Tomaten. Lecker. Ein großer Geländewagen hält direkt vor dem Restaurant – ein „originalgetreuer Touareg“ und vier amerikanische Touristen steigen aus und setzen sich an den Nachbartisch. Karla und ich diskutieren, ob eine solche Form von Urlaub legitim ist oder nicht. Ich empfinde diese Sorte Touristen als Zoo-Besucher, die sich im Schutz ihrer Klima-Anlagen und Zoo-Führer durchs Land karren lassen und zwar viel fahren, aber absolut nichts wirklich „erfahren“. Was Land und Leute hier wirklich ausmachen, zum Beispiel. Wie sich ein Sandsturm anfühlt, zum Beispiel. Wie man sich begrüßt, zum Beispiel. Karla sieht in meiner Sicht ein wenig Arroganz und verweist darauf, dass nicht jede(r) mit dem Rad durch die Wüste fahren kann. Ist ja gut… Ich bin noch bewegt von meinen Gedanken von vorhin und frage mich dennoch, ob diese Menschen ihre Einstellungen zu Reichtum und Armut auch mal aufgrund einer solchen Reise in Frage stellen. Oder ihre Einstellungen zu den sich andeutenden Süd-Nord-Wanderungsbewegungen (die sich zwangsläufig verstärken werden – allein schon wegen der demografischen Entwicklungen in der Welt). Ja, jetzt bin ich mal arrogant: Nein. Tun sie nicht. Die freuen sich, mit hundert Sachen im Jeep über die Wüstenpisten zu heizen und hinterher nur hundert Dirham für ein Vier-Gänge-Menü zu zahlen. Ach – was rege ich mich auf… Nur eins noch: Ich künde Karla an, dass, wenn jetzt hier ein holländisches Wohnmobil hier auftaucht, ich mich in den Sand werfe und eine halbe Stunde schreie. Diese Dinger und ihre Insassen haben mich in Südfrankreich im Herbst traumatisiert. Wir haben nicht mehr viel Zeit und fahren weiter. Die Berge rücken wieder enger zusammen und sind teils braunrot, teils grauschwarz, teils grünblau. Gegen halb vier kaufen wir noch mal drei Liter Wasser. Die Kinder, die neugierig um uns herumstehen, lachen uns an. Ein kleiner Junge trägt ein Fußballtrikot von Real Madrid. Ich sage auf spanisch: „Real? – Pah! – Yo soy de Barcelona! Fue alli y miré a Messi y Xavi y David Villa!“ Der Kleine schaut erst scheu zu mir, dann lache ich, dann grölen die Barca-Anhänger seiner Kumpels angedeutete Fan-Gesänge und dann lacht die ganze Bande. Rufen gegenseitig die Argumente für und gegen die beiden Klubs. Die Erwachsenen wissen erst gar nicht was los ist, lachen dann aber auch mit. Direkt an einem Fluss finden wir einen schönen Platz für unser Zelt. Eine Horde Kinder hat hier wohl gerade gebadet und gespielt – auf dem Nachhauseweg lächeln und winken sie uns zu. Es ist ein besonderes Gefühl, in einem so freundlichen und jungen Land zu sein. Zum Blog und allen Bildern dieses Artikels geht's hier: 22. November 2011 Gruß Jörg.
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#781038 - 12/19/11 06:08 PM
Re: Marokko - Berber, Berge, Wüste, Werte
[Re: joeyyy]
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Hallo, habe bisher keinen Bericht gelesen, der das Land derart idealisiert. Man muss sich fast schon fragen, warum auch dort die Menschen gegen die schlechten Zustände auf die Straße gehen und in das kalte, gefühllose und griesgrämige Deutschland (entspricht so gar nicht meiner Meinung) kommen.
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***************** Freundliche Grüße | |
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#781041 - 12/19/11 06:30 PM
Re: Marokko - Berber, Berge, Wüste, Werte
[Re: HyS]
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...bin ja noch nicht fertig und möchte nichts vorweg nehmen. Bisher bin ich noch erstaunt über die Fröhlichkeit der Menschen und ein wenig wehmütig darüber.
Dreck, Müll, Touristen-Nepp, Abzocke, Lügen, Wahltag, Umgang mit Frauen - kommt alles noch...
Warum die Menschen nach Europa kommen (werden), liegt auch jetzt schon auf der Hand: Ihre Neugier, ihre Bildungsbereitschaft werden geweckt - zum Teil durch Berichte in den Medien, westliche Filme und Werbung - und ihre wirtschaftliche Not treibt sie aus dem Land. Wobei die in Marokko nicht ganz so groß ist wie in den anderen Maghreb-Staaten. Die griesgrämigen Haus-, Straßen- und Platzwächter kennen die ja nicht. Und das graue Wetter auch nicht. Und selbst wenn, würde ich das nicht gegen die oben genannten Beweggründe aufrechnen.
Aber - wie gesagt - dazu später mehr...
Gruß
Jörg.
P.S.: Jetzt mal ehrlich: Wann hat Dir das letzte Mal eine Horde Kinder vom Straßenrand her zugelächelt und -gewunken? Wann bist Du das letzte Mal von wildfremden Menschen beschenkt worden? Wann das letzte Mal zum Tee in ein fremdes Haus eingeladen worden?
Ich meine: In Deutschland?
Das hat mir persönlich zunächst erstmal imponiert.
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Edited by joeyyy (12/19/11 06:34 PM) |
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#782623 - 12/24/11 02:38 PM
Re: Marokko - Berber, Berge, Wüste, Werte
[Re: joeyyy]
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Schöne Fotos - manchen von der Gegend kenne ich ja auch. Übrigens rufen die Kinder "Stylo" - d.h. sie hätten gerne Kugelschreiber, die ja ein Reiseradler in Massen mit sich führt. Aber Logik war noch nie die Stärke Marokkos...
Habe ich selten aber doch erlebt : sobald Steine fliegen ist Schluß mit lustig. Auf irgendeinem Anstieg zu einem Paß von der Küste Richtung Tafraoute habe ich - nachdem ich gemerkt habe, dass mir, der ich weil bergauf langsam unterwegs war, nachgeworfen wurde - das Rad gewendet und bin mit lautem Gebrüll (mit meinem beschränkten Französisch) auf die Kindergruppe zugefahren. Die sind in voller Panik einen steilen Abhang in Richtung zu ein paar Häusern weniger gelaufen als hinuntergepurzelt und haben sich die Lektion hoffentlich gemerkt (ein paar blutige Knie wirds schon gegeben haben) - zumindest mein hinter mir kommender Radpartner hatte einmal Ruhe.
Solche Sitten - kann ja auch durchaus gefährtlich werden - sollten nicht einreissen, da gibts von mit 0-Toleranz.
Das Steinewerfer wird übrigens auch von den einheimischen Erwachsenen nicht goutiert und Anhänger der gewaltfreien Erziehung sind die Marrokaner eh nicht...
Nach einiger Erfahrung mit Reisen in dem Land begegne ich der Landplage zunehmend offensiver und spreche die Kindergruppen selbst an : "Donnez moi un stylo ou une dirham svp !" - da sind sie fürs Erste so überrascht dass du meist deine Ruhe hast.
Gruß Gerold
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#782799 - 12/25/11 07:36 PM
Re: Marokko - Berber, Berge, Wüste, Werte
[Re: gerold]
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...oh danke für den Hinweis! Ich habe das einfach nicht verstanden, mein Französisch beschränkt sich aber auch wirklich auf "Überleben können".
Ja, die Kinder werden in der Tat auch selbst durch Steinwürfe von den Erwachsenen vertrieben, wenn sie nerven. Habe ich in auf einem Platz an den Source Bleue de Meski erlebt. Außerdem werfen Hirten öfter mal mit Steinen auf Ziegen und Schafe, wenn diese nicht parieren.
Also: Wenn die Kinder eben lernen, dass unerwünschtes Verhalten mit Steinewerfen quittiert wird, dann machen sie's selbst eben auch.
Aber ich habe auch gemerkt, dass energisches Reagieren die Kinder in die Schranken weist.
Gruß
Jörg.
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#782810 - 12/25/11 09:26 PM
Re: Marokko - Berber, Berge, Wüste, Werte
[Re: gerold]
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- d.h. sie hätten gerne Kugelschreiber, die ja ein Reiseradler in Massen mit sich führt. Och, denk man nicht. Auf meinen Touren durch Kuba habe ich zwar sicher keine Schneise Verwüstung hinter mir zurück gelassen aber irgend wie -gefühlt- eine Schneise voller Kugelschreiber. Aber ich hoffe doch, dass die Empfänger sich dereinst alle bei einer kleinen und feinen, regional tätigen, südwestdeutschen Gesellschaft versichern. Ist doch das wenigste, was man erwarten kann?
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#782845 - 12/26/11 06:52 AM
Re: Marokko - Berber, Berge, Wüste, Werte
[Re: Uwe Radholz]
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- d.h. sie hätten gerne Kugelschreiber, die ja ein Reiseradler in Massen mit sich führt. Och, denk man nicht. Auf meinen Touren durch Kuba habe ich zwar sicher keine Schneise Verwüstung hinter mir zurück gelassen aber irgend wie -gefühlt- eine Schneise voller Kugelschreiber. Aber ich hoffe doch, dass die Empfänger sich dereinst alle bei einer kleinen und feinen, regional tätigen, südwestdeutschen Gesellschaft versichern. Ist doch das wenigste, was man erwarten kann? Also die Kinder wollen keine Kugelschreiber um damit zu schreiben. Die Jungs und Mädels -in Marokko zumindest- haben ausreichend schreibfähige Kugelschreiber. Da mangelt es schon eher an Papier. Was die wollen und wonach sie schreien wenn sie "STYLO" "STYLO" rufen sind diese schicken europäischen Kugleschreiber mit Klick-Klick/Dreh-Klick-Hüpf/oder sonst welchen Spielereien. Es geht um Statussymbole, nichts weiter. Also darum das Kind nebenan neidisch zu machen und dazu zu bringen auch dem nächsten Radfahrer hinterherzurennen und "STYLO" "STYLO" zu schreien. Den Kindern Kugelschreiber zu geben ist ungefähr so kontraproduktiv wie ihnen Geld zu geben. Ich wusste das eigentlich als ich dort war aber als mich ein liebes kleines Berbermädchen so nett und höflich danach gefragt hat und dann auf mein "Nein" so enttäuscht abgezogen ist bin ich weich geworden und hab ihr doch noch einen gegeben. Die Folge davon war erstens, dass sie direkt nach einem weiteren Kuli gefragt hat und kurz danach sprinteten aus allen Ecken des Ortes die Kinder auf mich zu und ich hatte ca. 25 Kinder die sehr aggressiv "STYLO"-"STYLO" forderten um mich. Alle Versuche sie irgendwie abzulenken und mit erwachsener Gelassenheit zu beruhigen oder zu beeindrucken, scheiterten. Als sie schließlich anfingen meine Radtaschen aufzumachen und mir Sachen vom Fahrrad zu ziehen hab ich sie sehr böse angebrüllt, was sie auseinander getrieben hat. Damit hab ich mir Luft verschaffen können um aus ihren Fängen zu entfliehen. Sobald du was gibst wollen sie mehr und sobald einer was gibt wird das vom nächsten auch erwartet. Ich denke, dass auch europäische Schokolade (Mars, Twix, etc.) bei den Kindern nur Begehrlichkeiten wecken die sie eben nur stillen können indem sie Touristen anbetteln. Zu kaufen gibt es in Marokko auf dem Land eigentlich nur marokanische Schokoriegel. Gar nichts geben hab ich auch nicht geschaft, ich hab mich im Laufe der Tour darauf eingeschossen, immer ein paar einheimische Kekse und Mandarinen dabei zu haben und die hab ich bereitwillig verteilt wann immer ich mit mit einem gesprochen hab oder mir jemand einen Tipp gegeben hat. Um größere Ansamlungen von Kindern hab ich einen Bogen gemacht. Keine Ahnung ob meine Variante jetzt der Weisheit letzter Schluß ist, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass man "STYLOS" ebensowenig verteilen sollte wie Geld. Ich kann übrigens nicht bestätigen, dass die Marokaner sehr grob mit ihren Kindern umgehen. Hab im Gegenteil eher einen sehr liebevollen Umgang mit ihren Kindern beobachtet, autoritär sicherlich, aber nicht grob. Übrigens waren nicht alle Kinder so aufdringlich, aggressiv bettelnd wie die von denen ich grad erzählt habe. Der Kontakt mit Kindern war normalerweise sehr angenehm. Die haben sich einfach gefreut mir zuzuwinken, mit mir im vorbeifahren abzuklatschen oder mit mir zu "reden" oder ein Stück neben mir herzufahren. Die älteren Marokaner haben inzwischen genug Kugelschreiber und greifen nach höheren Werten. Zur Zeit scheinen amerikaniasche Handys ganz hoch im Kurs zu stehen, danach betteln sie nicht sondern sie versuchen sie gegen Teppiche einzutauschen und ignorieren dabei völlig, dass ich auf meinem Rad ganz sicher keinen Teppich mitnehmen werde.
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#782847 - 12/26/11 07:06 AM
Re: Marokko - Berber, Berge, Wüste, Werte
[Re: :-)]
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Teppich am Rad geht ja fast noch - mir wollte ein Händler am Auffahrt zum Tizn-Ticka (oder wie der heißt) einen ca. 10 kg schweren Stein verkaufen...
was ich jetzt immer dabei hatte ist eine simple Wasserflasche (zusätzlich zu meinen Radflaschen) - ich wurde schon sehr oft von Hirten neben der Straße/dem Weg oder auch Kindern um einen Schluck Wasser gebeten. Bei den Kindern kann man ja noch einsehen das sie ohne Wasser losziehen aber bei Hirten, die sich den ganzen Tag in schattenlosem Gelände aufhalten und dann offenbar nichts zu Trinken mitnehmen (ich war ja sehr oft auch auf Strecken unterwegs wo garantiert nicht täglich ein Radler vorbeikommt) - auch das typisch Marokko...
ist trotz allem ein wunderbares Radreiseland, aber 4 x Marokko in den letzten 6 Jahren reicht, heuer im Winter gehts mal nach Sri Lanka.
Gruß Gerold
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#782972 - 12/26/11 09:17 PM
Re: Marokko - Berber, Berge, Wüste, Werte
[Re: gerold]
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...ist trotz allem ein wunderbares Radreiseland... Gruß Gerold ...stimmt. Auch wenn das Wetter manchmal nicht so schön ist und die Kinder weiterhin nerven: 26. November 2011 – Regen, Sturm, Fossil-Museum Gruß Jörg.
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#790845 - 01/18/12 10:17 AM
Re: Marokko - Berber, Berge, Wüste, Werte
[Re: joeyyy]
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Thomas33
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Deine Fotos sind wunderschän... besonders die Farben!
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#793065 - 01/23/12 11:43 AM
Re: Marokko - Berber, Berge, Wüste, Werte
[Re: joeyyy]
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Ich stelle mir vor, dass sich die Menschen der verschiedenen Religionen freundlich einen „Guten Tag!“ wünschen. Hallo Jörg, kennst Du das Buch "Theos Reise"? Da werden die Religionen als Äste beschrieben, die in ihrer Ganzheit als Baum den Glauben an Gott darstellen. So hab ich es jedenfalls in Erinnerung und so wäre es auch für mich eine schöne Vorstellung. Danke nochmals Jürgen ps. in seinem neuen Buch schreibt Claude Merthaler über die Erfahrungen in Afrika mit seiner Freundin und dem Verhalten ihr gegenüber. Musste dabei oft an euch denken
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#793076 - 01/23/12 12:03 PM
Re: Marokko - Berber, Berge, Wüste, Werte
[Re: joeyyy]
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Danke, Jörg, für deinen Marokkobericht. Gerade die Schilderung deiner durch die Erlebnisse angestossenen Gedankengänge macht ihn so lesenswert. "Das erste mal, dass ich nach einer Reise kein Fazit ziehen kann." sehr sympathisch, darum bin ich in ein paar Wochen auch wieder dort, um mich jeden Tag auf's neue überraschen zu lassen... Gruß Christoph
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#795372 - 01/29/12 06:47 AM
Re: Marokko - Berber, Berge, Wüste, Werte
[Re: joeyyy]
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Du wolltest einen Kommentar...
Ein paar Intellektuelle aus dem Maghreb (Schriftsteller, Filmemacher, Künstler etc.) werden sicher eine "Bereicherung für unsere Kultur" sein - die Mehrzahl der "jungen Menschen aus dem Maghreb" sicher nicht - siehe die Entwicklungen in Frankreich oder Holland - teilweise auch bei uns. Die Gesellschaften dort haben den jahrhundertelangen Kampf für Unabhängigkeit von religiösen Spinnereien noch vor sich und Zuwanderer (so sie nicht dem ganz kleinen Teil der Agnostiker angehörden) gefährden nur das bei uns schon mühsam erreichte (ich - als Vast-Vegetarier - finde es abartig dass in Wien darüber diskutiert werden muss ob in den Kindergärten aus Rücksicht auf die Moslems kein Schweinefleisch verabreicht werden soll). Schau dir mal die letzten Wahlergebnisse in Marokko an : die religiös-konservativen Parteien sind dort auf dem Vormarsch. Und das in einem Land wo zwar in jeder größeren Stadt ein Palast für den König (der nach dortigen Maßstäben allerdings noch einer der erträglicheren sein dürfte) und seinen üppigen Hofstaat steht obwohl es der einfachen Bevölkerung an so ziemlich allen Sozialleistungen fehlt - wie du ja selbst feststellen konntest.
Und wer Autos und Handys bedienen kann sollte auch das Müllproblem lösen können - ich wüsste nicht was der Westen da verschuldet haben könnte. Fact ist, dass den Leuten ihre eigene Umwelt fast völlig egal ist. Noch eine kleine Story von meiner zweiten Marokko-Reise : irgendwo im Anti-Atlas kaufen wir in einem Straßenladen Trinkwasser aus Pet-Flaschen, füllen damit die Radflaschen voll und geben dem Verkäufer die leeren Flaschen zurück. Der schaut uns fragend an (so nach dem Motto : was soll ich damit ?) und wirft sie in seinen eigenen (!) Garten...
Ich bin froh in einer Zeit zu leben wo der politische und gesellschaftliche Einfluss der Kirche weitgehend zurückgedrängt wurde (hat unseren Vorfahren eh viel Blut gekostet) - den Import von noch schlimmeren Fanatikern sollten wir uns sparen. Es gibt auch andere Regionen dieser Erde von wo aus Leute zuwandern können...
Gruß Gerold (der sicher wieder nach Marokko radeln fährt)
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#795489 - 01/29/12 12:49 PM
Re: Marokko - Berber, Berge, Wüste, Werte
[Re: joeyyy]
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Hallo, auch von mir ein ganz offener und schonunglsloser Kommentar: Mir erscheinen deine Erkenntnisse und die Lösung (Einwanderung nach Europa) seltsam schizophren. Einerseits beschreibst du in deinen Reiseberichten, wie frauenfeindlich und menschenunwürdig mit deiner Frau umgegangen wird und wie mittelalterlich viele Lebenseinstellungen dort sind, andererseits hältst die Einwanderung in ein völlig anderes gesellschaftliches System, das die Menschen um Jahrhunderte in die Zukunft beamt für möglich, trotz negativer Erfahrungen in Europa mit dieser Art Einwanderung. Hast du eigentlich die Wahlergebnisse in den nordafrikanischen Staaten mitbekommen? Vom Wunschdenken im Westen ist da wenig übriggeblieben. Die große Mehrheit wählt islamistisch. In Ägypten z.B. war nur die Frage, gewinnen die Islamisten oder die ganz extrem fundamentalen Islamisten (Salafisten) die Wahl. Noch erschreckender für mich war eigentlich nur das Wahlverhalten, der bereits nach Europa eingewanderten Nordafrikaner. Auch die wählen gut zur Hälfte Islamisten. link1 link2 link3 link4 Was also bringt diese Einwanderung? Das Stichwort Bereicherung kann ich nicht mehr hören. Ich war mehrfach in Marokko und auch in anderen islamischen Ländern wie z.B. Kashmir. Was von dort an Lebenseinstellungen mitgebracht wird ist für mich keine Bereicherung, sondern eine Bedrohung. Ich bin mit unseren Werten und gesellschaftlichen Vorstellungen voll zufrieden und möchte keine Änderung. Es kann nur schlechter werden. Das bei uns Verzicht und mehr Bescheidenheit aus Umweltschutzgründen nötig ist mag sein, ich denke aber nicht, das dies die Einwanderer mitbringen, im Gegenteil, sie mussten verzichten in ihren Heimatländern und wollen sich hier verbessern. Selbst wenn man das Thema Lebenseinstellung ausblendet bleibt die Frage, was können die Menschen in Europa tun. Ein Europa auf dem absteigenden Ast, in dem viele Länder bereits eine enorm hohe Arbeitslosigkeit haben kann Einwanderern, die meist die europäischen Sprachen (außer vielleicht französisch) kaum sprechen und eher schlechter ausgebildet sind, als die Menschen hier, keine wirkliche Perspektive bieten. Die Einwanderer sind dann frustriert, arbeits- und perspektivlos und wie sich das auswirkt kann man in den französischen Vorstädten anschauen. Deine Erkenntnis ist bestenfalls ein weltfremdes Wunschdenken, das ich nicht mal ansatzweise nachvollziehen kann.
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***************** Freundliche Grüße | |
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#795604 - 01/29/12 05:05 PM
Re: Marokko - Berber, Berge, Wüste, Werte
[Re: joeyyy]
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Hallo Jörg, Ihr habt sehr viel (Inneres und Äußeres) in den vier Wochen erlebt. Ich habe deinen Bericht mit Genuss gelesen und deine Bilder sind einfach Klasse. Nimm die Kritik in meinem viel zu ausführlichen Kommentar bitte nicht persönlich (auch wenn es manchmal so klingt). Nur wenn ich das was ich sagen will noch weicher formuliert hätte wär der Text noch länger geworden und wer will das schon? du hast während deiner Reise eine Entwicklung durchgemacht. Zunächst hatte ich den Eindruck, dass ihr euch recht Oberflächlich vorbereitet habt und eben mit der von dir im Schlusssatz bemängelten Überheblichkeit das Land betreten habt. Das Karla nicht mit Kopftuch Rad fährt kann ich nachvollziehen, dass sie mit nackten Beinen unterwegs ist, ist ein gesellschaftlicher, zumindest ein diplomatischer Fehlgriff. Auch als Man sollte man in Marokko mit Beinkleid unterwegs sein. Du betrittst eine dir fremde Gemeinschaft und solltest dich soweit dir das möglich ist den Gepflogenheiten in der Gemeinschaft anpassen. Solltest du jemals einen Golfclub betreten solltest du auch nicht in Skaterklamotten und mit Punkerfrisur über den Platz laufen, ganz egal wie wenig Verständnis du dafür hast. Wenn du das in der Gastgebergemeinschaft von dir erwartete Verhalten moralisch, ethisch oder aufgrund von angelernten Überzeugen oder schlicht aus Stolz nicht an den Tag legen kannst, solltest du meiner Meinung nach die entsprechende Gemeinschaft nicht betreten bzw. mit Konflikten rechnen. Anderes Beispiel, in USA trinkt man öffentlich keinen Alkohol. Find ich voll dämlich, Ich trinke mein Bier gerne draußen und durchaus öffentlich. Wär ich in USA tät ich mich aber dran halten. Nach ein paar Tagen Touristengenussradelns in dörflicher Idylle und faszinierender weil fremder Landschaft seid ihr auf Schattenseiten gestoßen. Zum einen das Verhalten der Marokkaner gegenüber Karla. Meiner Meinung nach zumindest teilweise bedingt durch nicht angepasste Verhaltensweise. Ich habe auch Frauen kennen gelernt die Marokko alleine bereist haben und keinerlei Probleme hatten. „teilweise bedingt“ unbestreitbar herrscht in Marokko ein Frauenbild vor dass ich nicht teile und das es Frauen deutlich schwerer macht sich dort zu behaupten. Dazu kommt, dass es europäische Frauen gibt die Sextourismus in Marokko betreiben und die Marokkanischen Jungs „großzügig“ für gewisse Aufmerksamkeiten entlohnen. Viele Marokkaner wissen das und denken jede europäische Frau will hier nur das eine. Etwas verwirrend und mir unklar ist die Situation in den Berberdörfern, dort sind, wenn auch durch die Arabisierung nur noch selten, die Frauen Familienoberhaupt. Du hast da auch drauf hingewiesen. Wie auch immer, du(ihr) beeinflusst durch dein Verhalten ungewollt die Reaktion der Menschen auf dich. Die von mir erwähnten allein reisenden Frauen wurden in Marokko weit weniger belästigt als ich. Keine Ahnung warum, aber es geht. Übrigens, die Geschichte mit dem Prügelbereiten Alten find ich auch sehr erschreckend und durch nichts zu erklären oder gar zu entschuldigen. Die nächste Schattenseite die ihr kennen gelernt habt sind die Kinder. Genau die Kinder, die du in deiner Schlussrede als „gesunde Alterspyramide“ hervorhebst. Ich weiß nicht. Die Kinder und Jugendlichen sind zahlreich und für einen großen Teil des Tages unkontrolliert. Die Kinder waren für mich der größte Sorgenpunkt bei meinen Vorbereitungen und ich habe auch die gesamten drei Wochen gebraucht um eine gewisse Gelassenheit ihnen gegenüber an den Tag zu legen. Mit der passenden – erwachsenen – Gelassenheit, Überlegenheit und Autorität geht das schon. Im Prinzip wollen sie Aufmerksamkeit von dem exotischen Radler. Winken, Grüßen, Abklatschen. Manchmal und vor allem im Rudel (ohne Erwachsene Marokkaner in der Nähe) wollen sie Geld, „STYLO“, Süßigkeiten oder sogar einfach einen Schluck Wasser. Hauptsache du gibst was sie fordern. Das ist antrainiertes Verhalten und ich halte es für sehr wichtig, dass man Touristen klarmacht, dass man nach Möglichkeit nicht drauf eingehen sollte. Gegen Ende der drei Wochen bin ich halbwegs mit den Kindern zurechtgekommen, aber in ihrer Unberechenbarkeit sind insbesondere große Kindergruppen für mich ein Grund geblieben zügig weiter zu fahren. Du schreibst von einer gesunden Alterspyramide? Global betrachtet ist jede wachsende Alterspyramide ein Schritt in die falsche Richtung und genau, das grundsätzliche Problem was wir auf diesem Planeten haben. Wie Bernhard Grzimek schon unter jeden seiner Briefe gestempelt hat "Im Übrigen bin ich der Meinung, dass das Anwachsen der Menschheit verringert werden muss." Ich denke, in Marokko hilft die wachsende Bevölkerung auch lokal (also auf das Land bezogen) nicht wirklich auf eine sich bessernde Zukunft zu hoffen. Die Verkäufer, Vermittler und VerbalWerbeSpammer und Tauschhandelanbieter gehören zur Kultur. Ich empfand das auch als belästigend, aber zum einen wollte ich ja bei meinem Besuch in Marokko auch mit Menschen reden und zum anderen haben sie ein deutliches Nein eigentlich immer akzeptiert (spätestens beim fünften Nein ). Wenn ich deutlich klar gemacht habe, dass ich nicht mit zum TeppichgeschäftOnkel kommen werden (Nein, ich komme nicht, auch nicht morgen!) haben sie mich mit ihrem Verkäufergeschwätz in Ruhe gelassen, sind aber in der Regel bei mir im Cafe sitzen geblieben und haben sich dann wirklich neutral bis interessiert mit mir unterhalten. Bevor sie sich für mich als Menschen interessiert haben musste ich lästiger Weise oft erst klar und deutlich zu verstehen geben, dass ich kein Interesse habe an Steinen, Teppichen, Quadtouren oder Kameltouren in der Wüste, einer Übernachtung auf dem Campingplatz des Bruders oder was auch immer sie mir sonst andrehen wollten. Du willst die Grenzen öffnen und diese Verkäuferkultur zu uns lassen, noch mehr als sie eh schon hier sind. Bist du dir sicher, dass du das willst? Auf der anderen Seite hatte ich reichlich nette Kontakte, Leute die mich (wirklich nur aus Interesse und Hilfsbereitschaft) zum Essen eingeladen haben, Menschen die mich im Cafe auf einen Tee eingeladen haben (OK, oft, aber nicht immer um ein Verkaufsgespräch zu beginnen) Später bin ich offensiver geworden und dazu übergegangen die Herren die sich in dem Moment auf den Platz neben setzen, in dem ich mich für einen Stuhl entschieden habe, direkt anzusprechen und meinerseits auf einen Tee einzuladen. Sie sind überrascht gewesen, aber wie mir schien angenehm überrascht. Die Verkaufsgespräche verliefen wesentlich angenehmer bzw. kamen erst gar nicht zustande. Als Kontrast dazu wird man in Marokko nicht sich selbst überlassen. Du wirst nirgends auf der Durchreise in Marokko sein und keinen Gesprächspartner finden. Geholfen wird dir auf jeden Fall. Ein Gast, ein Reisender wird nicht allein gelassen, man hilft immer und überall egal ob Hilfe gewünscht ist oder nicht. Ein Marokkaner in Deutschland wäre vermutlich schockiert dass er hier tagelang durch die Straßen streifen kann ohne auch nur einmal angesprochen zu werden. Erst schockiert, später frustriert und enttäuscht. In Marokko sind die Menschen offensiv interessiert und ich bin es auch nicht gewöhnt ständig angequatscht zu werden. Aber in Marokko gehört das dazu, man hat Zeit und redet miteinander. Bei deinem Bericht stelle ich häufig fest, dass du den Menschen aus dem Weg gegangen bist. Abgehauen wenn dich jemand auf dem Rad anquatscht, keine Gespräche während der Busfahrt, stattdessen hast du deine Mitfahrer bewusst ignoriert und negativ bewertet (sie stinken). Ich glaube ihr habt sehr eindrucksvolle Erlebnisse gehabt aber ihr habt euch nicht auf die Menschen und die Kultur eingelassen. Gerade bei deiner Busfahrbeschreibung stelle ich wieder die von dir in deiner Schlussrede kritisierte „Leitkultur Denkweise“ fest. In dem Zusammenhang möchte ich erwähnen, dass mir deine Geschichte über die Verschwendung von Zeit sehr gut gefallen hat, die eben in der Form wie du sie in dem Moment praktiziert hast keine Verschwendung von Zeit ist. Auf meinen Reisen habe ich festgestellt, dass man seine Zeit intensiver erlebt und intensiver nutzt wenn man sich Zeit nimmt Erlebnisse zu verdauen und wirken zu lassen. Auch Orte erlebt man viel bewusster wenn man sich eine Weile dort aufhält. Erst wenn man Menschen beobachtet, wie du es in dem Cafe getan hast und die Atmosphäre eines Ortes auf sich wirken lässt prägt sich das erlebte ein. Sich Zeit zu nehmen erlebtes zu reflektieren (z.B. indem man einen Reisebericht schreibt) sorgt dafür dass man es gewissermaßen noch mal in Ruhe erlebt und erst dadurch wird es zu einem dauerhaftem und lebendigem Teil deiner Erinnerung. Von einem Erlebnis zum nächsten von einer Aktion zur nächsten von einem Highlight zum nächsten zu eilen ist nur Oberflächlich betrachtet ein mehr an Erlebnissen. Je schneller man unterwegs ist, desto weniger sieht man, desto weniger erlebt man (Statistisch betrachtet ). Ich denke, auch deswegen fahren wir Rad und nicht Auto, oder Wohnmobil. Mit dem Rad ist man näher dran, man sieht mehr und kommt in Berührung mit dem was man sieht. Wohnmobile sind schnelle Glaskästen – Aquarium – Die Welt wird durchfahren ohne wirklich in Berührung mit ihr zu kommen: So was ähnliches hab ich bei Peter gelesen der seit 2008 durch Afrika radelt – ich verfolge seine Reise fast von Beginn an, da ich ihn in Marokko getroffen habe und bin im übrigen sehr beeindruckt von seiner Reise. Eigentlich habe ich das auch in deinem Bericht gelesen, aber ich kann bei dir auch ein ordentliches Maß an gelebter, obwohl von dir ausdrücklich verurteilter Glaskastenmentalität feststellen. Übrigens kann ich das durchaus verstehen, Peters Reiseerlebnisse möchte ich auch nicht alle teilen, da würde ich mir auch einen Glaskasten wünschen. Nur verstehe ich deine Schlussworte nicht, wenn ich beobachte, wie genervt du teilweise unterwegs gewesen bist. Ich bin grundsätzlich ein Misstrauischer Mensch und weil misstrauische Menschen statistisch betrachtet seltener übers Ohr gehauen werden, ich mich fürchterlich ärgere wenn mich jemand übers Ohr haut und ich in dieser mathematischen Disziplin (ebenso wie du ) recht bewandert bin, bleibe ich dabei. Aber so oft es ging habe ich auf den langen einsamen Strecken angehalten wenn ich dort jemanden getroffen habe, oft freuen sich die Leute dann über ein kurzes Gespräch oder einen Schluck Wasser (wie weiter oben jemand erwähnt hat) den ich gerne bereit bin zu geben. Nur wenige haben in diesen Situationen Verkaufsgespräche begonnen und die haben recht schnell meine Rücklichter gesehen. Du sagst, du bist ein Vertrauensseliger Mensch und lässt dich zu „Damit ich meine Ruhe hab Käufen“ nötigen und dann sagst du am Schluss wir sollen für diese Menschen unsere Grenzen öffnen? In Marrakesch und auch in Ouarzazate habe ich übrigens Scheuklappen angelegt. Gerade auf dem Djemaa el Fna war die Verkäuferaufdringlichkeit für mich weit jenseits jeder Erträglichkeit. Und meine „Ich geh mal kurz auf den Verkäufer ein“ Verhaltensweise war hier völlig unbrauchbar. Erst an meinem letzten Abend (den es nur gegeben hat weil mein Flieger nicht gestartet ist) konnte ich den Platz und die Atmosphäre dort genießen und in das Treiben eintauchen. Da hatte ich Gesellschaft von einem jungen und vertrauensseligen Surfer der den gleichen Flieger wie ich nicht nehmen konnte. Zu zweit konnte ich mein Misstrauen weit genug reduzieren um mich auch auf dem Platz wohl zu fühlen. Den letzten Schritt deiner Entwicklung (nach Touristengenussradeln und kennenlernen von Schattenseiten) kann ich nicht nachvollziehen. Du schreibst in deinen Schlussworten, lass uns die Grenzen öffnen und die Menschen als Bereicherung zu uns holen. Ich wohne im Ruhrgebiet und die hier vorhandene Völkervermischung ist keine Bereicherung sondern liefert mehr und mehr Konfliktpotential. Es leben viele Marokkaner in Frankreich, das ich 2010 für fünf Monate bereist habe. Dort bietet die Vermischung ebenfalls reichlich Konfliktpotential. Warum, wo es doch eine Bereicherung sein sollte? Du hast die Kultur kennen gelernt. Ich habe am Anfang geschrieben, dass man sich in einer fremden Gemeinschaft soweit es einem Möglich ist anpassen sollte, Meiner Meinung nach habt sogar ihr das in nicht ausreichendem Maße getan. Du hast einen sehr guten Schreibstiel und schilderst die Gedanken die du dir machst in hervorragender Weise. Du gehörst eindeutig zu den Intellektuellen unseres Kulturkreises und du bist ideologisch relativ offen und nicht engstirnig. Trotzdem seid ihr innerhalb einer vierwöchigen Radtour nicht ohne Kulturelle Konflikte durch das Land gekommen. Der überwiegende Teil beider Kulturkreise ist nicht so offen wie du, nicht so intellektuell. Frauen in kurzen Hosen können den einen schon mal auf die Palme bringen. Minarette, die wir hier im Ruhgebiet haben bringen andere auf die Palme und Schafe die in einer Mietwohnung auf besondere Art geschlachtet werden bringen noch mehr Leute auf die Palme. Dann holen wir noch ein paar Chinesen dazu, die ihre Hundesteaks erstmal lebendig gut durchbraten und dann noch ein paar Inder die bei uns mit Sicherheit nicht in einer Schlachthalle für heilige Kühe arbeiten wollen. Ich bin tolerant, aber ich bin auch so tolerant, dass ich verstehen kann, dass solche Unterschiede nicht von jedem akzeptiert werden können. Sollte jetzt jemand sagen, "Na ja das mit den Hunden müssen die Chinesen halt lassen" Dann sind wir schon wieder bei dem Leitkultur Gedanken. Genaus sollten wir uns bei den Kühen zurückhalten (die im übrigen bei uns nicht weniger Leiden als die Hunde bei den Chinesen) - würden die Inder sagen. Es sind viele Details. Ein Araber gibt dir zur Begrüßung die Hand und lässt sie lange nicht wieder los, dabei steht er dir sehr Nahe. ca. 30 cm Nasenabstand werden von den meisten Europäern als ein eindringen in die Intimsphäre empfunden (Gilt für mich eindeutig). Für einen Araber ist der Europäische Intimspährenabstand von ca. einem Meter fast schon eine persönliche Abweisung. (mit den Maßangaben kann ich etwas daneben liegen, hab das mal gelesen und die genauen Daten vergessen… tut aber nichts zur Sache) Und schon gibt es erste Missstimmungen, ist so ähnlich wie bei Hund und Katz. Nicht jeder kann, nicht jeder hat die Zeit und längst nicht jeder will sich mit all diesen Kulturellen Unterschieden auseinander setzten und kaum einer will seine Verhaltensweise auf Dauer ändern. Eine Vermischung auf ganzer Linie führt im besten Fall zu einer Verwässerung aller beteiligten Kulturen und im schlimmsten zu Konflikten und Streit. Es ist immer schön wenn man eine ursprüngliche, unverwässerte Region besucht. Das gibt es in Österreich genauso wie in Ostdeutschland, Frankreich oder eben in Marokko. Zu starke Vermischungen wirken verwässernd, entstellen das Bild, passen nicht zu den Menschen und beieinträchtigen und verringern letzten Ende die Vielfalt. Beginnende Europäisierung habe ich teilweise in Marrakesch gesehen, Das gehört da meiner Meinung nach einfach nicht hin. Ist schlicht unpassend. Ich begrüße die Unterschiede, ich begrüße die Vielfalt. Nur durch die vorhandenen Unterschiede kann man voneinander lernen und nur durch die Distanz besteht die Chance das man das ohne Konflikte tun kann. Eine Vermischung führt entweder zur Verwässerung von beiden Kulturen oder zum Streit der in der Dominanz einer Kultur endet. Finde ich beides nicht begrüßenswert. Es ist doch viel schöner, interessanter und lehrreicher ein unverwässertes anderes Land und eine unverwässerte Kultur zu besuchen. Wenn sich einzelne Menschen zu einer entsprechenden Kultur oder einen Land hingezogen fühlen können sie auch ganz dorthin wechseln und als Menschliches Bindeglied zwischen den Ländern funktionieren. Lieben Gruß Jörg
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#795800 - 01/30/12 09:40 AM
Re: Marokko - Berber, Berge, Wüste, Werte
[Re: :-)]
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Ich bin sehr angetan von den Kommentaren hier und fühle mich sehr geehrt - im besten Sinne. Ist es doch eher selten heutzutage und in diesen Landen, dass sich Menschen wirklich mit anderen Menschen auseinandersetzen. Also erstmal vielen Dank dafür. Auf meinem Blog beginnt ebenfalls eine Diskussion zum Thema. Ich würde Eure Kommentare gerne dort mit aufnehmen und mir dann (hoffentlich morgen) Zeit nehmen, auf die Kommentare einzugehen. Ich merke, dass es nicht darauf ankommt, was der Sender sendet sondern was der Empfänger empfängt. Und da muss ich noch am Tuning arbeiten. Soviel schon mal vorab: Ich will niemanden einladen, genau heute hierher zu kommen. Das würde unsere Integrationsprobleme nur erhöhen und genau den Frust auf allen Seiten erzeugen, der dann möglicherweise zu Ghettoisierung, Intoleranz, Animositäten, Vorurteilen und schließlich Pariser Vorort-Verhältnissen führt. Ich will aber einladen, mal über den zeitlichen Tellerrand von fünf bis zehn Jahren (der uns individuell realistische Perspektiven eröffnet) hinauszuschauen. Dann werden die Szenarien so komplex, dass sie kaum noch überschaut werden können. Allerdings gibt es ein paar sehr wahrscheinliche Konstanten in einem 2050-Szenario: Demografie, Nahrungsknappheit, Klimawandel, Peak Oil, Peak Everything. Ich habe die Idee, dass wir uns vorbereiten müssen auf eine Migrationsbewegung in den nächsten Jahrzehnten, die etwas von der Goten-Wanderung haben wird. Und da werden wir gezwungen werden, unsere Kulturen zu durchmischen. Und ich bin eher dafür, dass wir uns jetzt schon kreativ damit auseinandersetzen und uns darauf einstellen als dass wir alten Europäer später gegen die jungen Afrikaner "kämpfen" müssen. Denn der Kampf wird biologisch entschieden (ich meine nicht irgendwelche Waffen sondern, dass alte Organismen eher sterben als junge - statistisch gesehen). Lass uns doch mal unsere individuellen Blicke beiseite legen und auf Deutschland im Jahr 2050 schauen: Wie wird das Land dann aussehen? Welche Menschen werden hier leben? Und wie? Dürfen wir so naiv sein, zu glauben, dass die Frontex-Idee uns gegen Wanderungsbewegungen abschottet? Wie wird die Ökonomie aussehen in einem Land, das "Rettungsinsel-Charakter" haben wird? Denkanstöße entwickeln die Volkswirte der Universitäten Göttingen und Oldenburg - schöner Vortrag hier: Postwachstumsökonomie Na ja, ich muss jetzt in die Firma - bin sowieso schon spät dran... Aber ich werde mich mit allen Kommentaren nochmal intensiv auseinandersetzen, bereichern sie doch das Erlebte und Geschehene um viele weitere Aspekte. Und geben sie mir doch einen Spiegel, in den ich so nie schauen könnte. Gruß Jörg.
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Edited by joeyyy (01/30/12 09:47 AM) |
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