(Wem der Text zu lange ist oder lieber ein Video anguckt:
Video auf Vimeo)
Seit dem 14. April ist für mich kein Tag wie gestern, heute oder morgen. Jeden Tag neue Landschaften, Menschen, Überraschungen. Routine nur das runde treten in die Pedale. Mit dem Fahrrad habe ich mich aufgemacht die Welt zu erkunden. Auf unbestimmte Zeit, keine Uhr tickt, kein Termin wartet.
Gestartet in Bad Krozingen, im Schwarzwald noch Schnee vorm Zelt. Entlang kleiner und großer Flüsse quer durch Deutschland. Die erste spontane Einladung im oberen Donautal, schlafen in einer Imkerhütte statt im Zelt, zum Abendessen Bier statt Wasser. Einsame Stille und lautes Vogelgezwitscher genießen im Thüringer Wald, durch wunderschöne Städte, Gotha, Weimar, Erfurt. Ruhetage in Berlin, an der Oder weiter gen Norden, zum Sonnenaufgang an den Kreidefelsen Rügens stehen. Drei Tage durch Dänemark, klein ist Bornholm.
An Schwedens Küste bis Göteborg, Vieh- und Landwirtschaft am Wegesrand. Die Landschaft wird „schwedischer“, die Hügel steiler, Seen statt Rapsfelder, Birken und Fichten statt Mischwald, immer häufiger Schotter statt Asphalt. Wälder statt bebauter Fläche. Auf und ab durch gletschergeschliffene, verblockte Landschaft. Abends bleibt der Schmutz des Tages in einem der vielen Seen. Zu Fuß in ein Naturschutzgebiet. Eine sechsköpfige Gruppe stolpert über mich – oder ich über sie. Unterwegs mit vollgeladenen Kanus, ein Koch an Bord. Produziert wird ein „Outdoor Gourmet Kochbuch“, eine Einladung wird ausgesprochen, mein Grinsen geht „bis über beide Ohren“. 3 Gänge vom Lagerfeuer, serviert in 50 Kilometer Entfernung zum nächsten Supermarkt. Sterneniveau, natürlich.
Hinab an die norwegische Küste, kurz hinter Trondheim. 15 Minuten dauert die freudige Abfahrt bis dem Hinterrad die Luft ausgeht. Reifen flicken in einer Parkbucht. Ein paar Meter weiter hatte ein LKW weniger Glück, der Anhänger liegt am Abgrund. Autofahrer können sich nicht entscheiden was die größere Attraktion ist, fahren langsam vorbei, stoppen, gucken.
Entlang der Küstenstraße Fv17 nordwärts. Auf und ab, das Schaltwerk klackt im Sekundentakt. Keine hundert Meter im gleichen Gang. Die Landschaft wird spektakulärer, Tag für Tag, Meter für Meter. Staunend bleibt der Mund offen, die Augen hängen an gletschergehobelten Monumenten, Skulpturen natürlicher Schönheit. Ab und an schlägt eine Bodenwelle den Blick zurück zur Straße, nur um Sekunden später wieder Richtung Meer, Fjord, Gebirge zu verschwinden. Hoch über einem Fjord steht das Zelt, ich sitze lange davor. Kann mich nicht sattsehen an der Bühne aus Meer und Fels auf der Wolken und Sonne ein verrücktes Schauspiel in unendlichen Akten aufführt. Spielpause 3 Minuten, Sonnenuntergang 1:08 Uhr, Aufgang 1:11 Uhr, Logenplatz. Eintritt frei, natürlich.
Nebel auf den Lofoten, eine weiße Wand als Begrüßung. Irgendwann nachts ein kurzer Blick auf die schroffe Küste, Appetit auf mehr. Viel mehr. Schmale Straßen führen an der schroffen Küste entlang, die Wohnmobile geben sich die Seitenspiegel in die Hand. Im Hostel warten bis mein russisches Visum eintrifft. Bei bestem Wetter Ausflüge in die Umgebung, herrliche Aussichten genießen, fangfrischen Fisch im Hafen kaufen, lange schlafen. Das Visum trifft nicht ein, die deutsche Post schickt die Unterlagen scheinbar stilecht mit dem Rad los. Weiter ohne Visum.
Ob man im Süden, Norden, Westen oder Osten einer der vielen Inseln entlang fährt wechselt alle paar Minuten. So der Wind, schiebt von hinten, drückt von der Seite, schüttet einen steilen Berg vor mir auf. Dunkel wird es schon seit Wochen nicht mehr. Die Sonne zwei, drei Grad über dem Horizont. Mitternachtssonne. Unglaubliches Licht über Stunden.
Nass in Tromsø. Mit den Radlern Eric aus Frankreich und Kristian aus Deutschland teile ich mir eine Hütte auf dem Campingplatz. Trocknen, waschen, duschen, Füße hochlegen. Wir essen länger als wir schlafen. Noch drei weitere Tage spannt mich die Post auf die Folter, dann endlich habe ich mein Visum in der Hand. Zurück auf die Straße, natürlich.
Das Wetter bleibt nordisch. Acht, Neun, selten mehr als Zehn Grad, kein Tag ohne Wolken, Wind, Regen. Aber immer wieder bricht die Sonne durch, immer wieder Lichtspiele vom feinsten, immer wieder stundenlange Sonnenuntergänge, nur ganz versinken will sie nie. Wie das Wetter die Straßen. Schmal, breit, flach, steil, kurvig, gerade. Dazwischen Tunnel. Licht einschalten, Warnweste anlegen, in die Pedale treten. Die Tunnel dürfen beradelt werden, ab und an teilt man sich die Röhre mit einem Rentier. Im längsten und steilsten – er führt 7 Kilometer und 212m unter einen Fjord – fällt an der tiefsten Stelle das Licht und die Belüftung aus. Schummrige Notbeleuchtung, keine Autos, Stille. Am folgenden Anstieg hallt mein keuchen von den Wänden, die Lampe erhellt einen schmalen Streifen, den Rest schluckt die „Nacht“. Immerhin keine Probleme mit eng überholenden Autos. Kurz vorm Ausgang die Erklärung: Wartungsarbeiten an der Beleuchtung, kurzzeitige Sperrungen den ganzen Tag über. Auf Radler wartet man nicht. Die brauchen zu lang, natürlich.
Ein erster Wendepunkt nach 5608 Kilometern: das Nordkap. Hier endet das europäische Straßennetz an einem großen Parkplatz. Der berühmte Globus versteckt hinter einem Besucherzentrum mit Multivisionsshow, Restaurant, Souvenirshop. Vollklimatisiert, natürlich. Nieselregen, Wind, 7 Grad. Meine Brillengläser beschlagen beim betreten. Der letzte beheizte Raum ein Supermarkt Tage zuvor. Improvisierte Nordkapfeier mit einem anderen Radler: Kaffee vom Benzinkocher, Blaubeerkuchen, „stories from the road“. Das obligatorische Foto vorm Globus, ein bisschen Smalltalk mit den Bustouristen, ein bisschen bestaunt werden, ein bisschen Exot sein. Zurück aufs Rad, natürlich.
Lippen schmal, Makeup dezent, Frisur extrem akkurat. Prototyp einer russischen Grenzbeamtin, direkt einem 70er Jahre Agentenfilm entsprungen. Drei, viermal vergleichen eisgraue, ausdruckslose Augen Passbild mit Wirklichkeit. Drei, viermal knallt ein Stempel. Bild und Wirklichkeit stimmen wohl ausreichend überein.
„Open, open, open, open“. Dabei deuten befehlsgewohnte Finger auf meine Packtaschen. Gründlich ist er nicht, eher neugierig interessiert, fragt in gebrochenem Englisch nach Route und Ausrüstung. Nach 15 Kilometer ein weiterer Kontrollposten, hier endet das Grenzsperrgebiet. Geharkter Sandstreifen, Stacheldraht, Bewegungsmelder, Kameras, Halogenstrahler. Der „Grünstreifen“ am Straßenrand für einige Kilometer.
Murmansk. Kein Traum für Radfahrer. Halbmeter hohe Bordsteine, Schlaglöcher auf der Straße, Schlaglöcher auf den Gehwegen, rücksichtsloser Verkehr. Doch die Menschen machen es wett. Iftikhar, Vertreter des „neuen“ Russlands, erfolgreicher Businessmann, Besitzer zweier Fitnessstudios, eines Hostels und ein paar Apartments zeigt mir die Stadt, die Sehenswürdigkeiten, die versteckten Plätze. Nebenbei erledigt er was er zu tun hat. Eine alte Radiostation mit grandioser Aussicht auf Murmansk, seine Studios, Monumente, Plattenbauten, Flugzeugträger, Baumärkte, Atomeisbrecher, Supermärkte, Restaurants, Computerläden, der Lieblingsgrillplatz hinterm Hügel. Echtes Russland, natürlich.
Unterwegs auf der M18. Lebensader in den hohen Norden. Asphaltiert – wenn nicht gerade gebaut wird. Und gebaut wird viel, auch mal 30, 40 Kilometer am Stück. Sumpfige Landschaft, flache Hügel, endlose Wälder. Mit jedem Meter südwärts wird der Wald „mehr“ Wald. Die vom langen Winter kleingezwungene Flora strebt nach höherem. Tundra wird zu Taiga zu Wald. 800 Kilometer die Strecke von Apatity bis Petrosawodsk, mit dem Rad Zeit genug die Veränderungen wahr zu nehmen, nicht zu erschrecken wenn da „plötzlich“ wieder richtige Bäume stehen.
Unbefestigte Wege führen in den Wald, dort finde ich meine Campingplätze. Nie ist die Straße außer Hörweite, Verkehr 24 Stunden, 7 Tage. Das ein oder andere mal stolpert ein Pilzsammler über mich – oder ich über ihn. Immer freundlich, selten einer Fremdsprache mächtig. Gelächter und ungläubige Gesichter wenn ich auf einer kleinen Karte meine Route zeige und auf das Rad deute. Unterhaltung mit Händen, Füßen und einem Salat aus deutschen, englischen und russischen Wörtern. Viel lachen, natürlich.
Mehr Schlagloch als Straße die Zufahrt nach Petrosawodsk. Zwei oder dreispurig – weiß der Teufel, die Markierung fehlt. Befahren werden vier, fünf Spuren plus Seitenstreifen, je nach dem. Das Hostel ist einfach und sehr sauber. Küche und Waschmaschine fehlen, Restaurant und Handwäsche angesagt. Teewassertemperatur in den Duschen, nicht regelbar. Heißwasserdesinfektion. Nötig nach 10 Tagen Wind, Wetter, Zelt. Spaziergang durch die Stadt. Prunkbau oder Plattenbauruine, wenig Facetten dazwischen. Dafür viele Grünflächen mit Monumenten, neben Lenin, Marx und Engels findet durchaus modernes Platz.
Viel Wasser an den letzten Tagen in Russland. In Seen links und rechts der Straße, als Tau auf und im Zelt, viel zu oft als Regen von oben. Ausnahme am zweiten Abend, pünktlich zum schönsten Camp in Russland. Vorgezogener Abschied.
Weiter Richtung Helsinki, auf und ab quer durch die finnische Seenlandschaft. Jeden Tag ein, zwei Stopps, das Vorderrad verlangt nach Luft. Trotz flicken im Mantel und Bastelei mit Tape scheuert ein dicker Riss auf der Innenseite immer wieder den Schlauch auf. Die neuen Mäntel warten in Helsinki. Wieder Regen, wieder kräftiger Gegenwind, natürlich.
Zwei Wochen „große Pause“ in Tallinn. Ein wunderbarer Ort dafür. Die Altstadt voller Kaffees, Kneipen, enger Gassen, pulsierendem Leben am Wochenende, ruhiger Abende unter der Woche. Arbeiten, planen, Ausflüge, spazieren gehen, wohlfühlen im Hostel. Nachts mit der Kamera durch die Gassen schleichen, mit Stativ und Fernauslöser bewaffnet die Skyloungebesucher im 24. Stock eines gehobenen Hotels verunsichern. Aussicht grandios, Eintrittspreis 2,30€ für einen Cappuccino.
Goldener Herbst. Vielleicht wo anders. Schmatzend gibt der Schlamm den Schuh frei, der Wind sprüht feine Wassertropfen ins Gesicht, Gänse in V-Formation am schmutziggrauen Himmel. Ihr Rufen weist den Weg gen Süden.
„Matkatee“ heißt mein Weg, 370km durch Estland, von Oandu nach Ikla, von Nord nach Süd. Neu eröffnet, gut beschildert, tolle Rastplätze, wunderschöne Natur und für Wanderer und Radfahrer bestens geeignet. So zumindest die Aussage auf der Webseite des estnischen Forstverbandes RMK. Bei Aegviidu südwestlich von Tallinn stoße ich auf den Weg, freue mich über schöne, autofreie Forststraßen, tolle, saubere Rast- und Zeltplätze am Abend. Gute 800 Meter hält am nächsten Tag das Vergnügen, der Weg biegt in den Sumpf ein. Das schwer bepackt Rad versinkt bis die Vorderradtaschen aufsitzen, modriges Wasser schwappt in die Schuhe – da hilft die beste Membran nicht mehr.
Die Herbststimmung bleibt. Blätter bläst der Wind in diesen Tagen zu Boden, auch ganze Bäume fallen. Windrauschen wird von knatternden Motorsägen begleitet die sich durch umgefallenes Gehölz fressen. Ein Ort hatte zweieinhalbtage keinen Strom, kein Problem für den Mann mit dem ich spreche. Gasherd, Holzofen, Kerzen. Alles vorhanden. Baden geht er eh immer im Fluss nebenan. Das hält gesund, natürlich.
Kaunas. Durchgangsstadt in Litauen. Das Wetter weiter herbstlich nass, Besserung nicht in Sicht. Das Hostel quasi leer, wer kann flüchtet gen Süden. Bestandsaufnahme. Antrieb am Rad will getauscht werden, Regenjacke alles andere als dicht, silbernes Klebeband ziert Regenhose, Überschuhe zerrissen, Kameraobjektiv defekt. Dringend Zeit für eine Stationäre Behandlung. Geht am einfachsten und billigsten daheim, natürlich.
Also mit Bus und Bahn nach Freiburg. In drei Wochen dann mit dem Flieger weiter nach Südamerika.
Fahrradfahren. Natürlich!