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Die langgezogene Südstadt erinnert mich ein wenig an Berlin-Kreuzberg oder Köln-Ehrenfeld, ein erfrischend bunter Mix aus kleinen Läden, Kneipen und Straßencafés, ganz anders als erwartet. Auch das quirlige Zentrum gefällt mir erfreulich gut, dabei statte ich unter anderem dem Herrn von Goethe und der geschichtsträchtigen Nikolaikirche einen kurzen Besuch ab.
Außerhalb des Zentrums erhole ich mich beim China-Mann von dem ganzen Trubel, dann fahre ich weiter nach Bitterfeld und nach einigem Suchen finde ich gegen 20 Uhr mein Nachtlager neben einem kleinen Windpark.
Während die Windmühlen neben mir fleißig Strom erzeugen packe ich routiniert zusammen und radle nach Dessau.
Hier überquere ich zuerst die Mulde und kurz darauf die Elbe. Bei warmen und schwülem Wetter geht es durch den Naturpark Hoher Fläming, eines der am wenigsten besiedelten Gebiete in Deutschland.
Der Park zeichnet sich durch große Wiesen, von Wald umsäumten Feldern sowie sehr wenigen Dörfern, Autos und Menschen aus. In dieser ungewohnten Umgebung komme ich mir fast etwas verloren und auch ansatzweise einsam vor.
Auf meiner Landkarte ist kurz vor Brandenburg an der Havel ein Camping an einem See eingezeichnet, ein lohnendes Ziel, nichts wie hin... . Dort angekommen baue ich das Zelt in neuer Rekord-Zeit auf, denn zahlreiche Mücken haben wohl schon den ganzen Tag auf mich gewartet.
Die Nacht wird regnerisch und sehr windig, morgens frühstücke ich im Zelt, denn die Mücken von gestern Abend haben schon wieder großen Appetit.
Die Stadt Brandenburg hinterlässt bei mir einen zwiespältigen Eindruck: einerseits aufwändig restaurierte Häuser und idyllische grüne Ecken mit Blick auf Seen und Kanälen.
Andererseits etwas abseits Gammel und Verfall mit stumpf vor sich hin blickenden Menschen. Insgesamt empfinde ich den Ort als eher bedrückend und bin froh weiter zu fahren. Dann führt mich mein Trek durch eine wunderschöne grüne Landschaft mit großen Seen und folge darauf dem Havel-Radweg.
Dieser schlängelt sich durch weite Wiesen und Felder, fernab von jeglichem Autoverkehr.
Als ich vor einem abseits gelegenem Haus eine kurze Essenspause einlege, kommt nach kurzer Zeit ein etwa gleich altriger Mann aus seinem Haus gehumpelt und spricht mich auf mein ungewöhnliches Gespann an. Die Liebe hat ihn aus dem Rheinland hierhin verschlagen. Vor ein paar Monaten wollte er bei Reparaturarbeiten dem Dachdecker helfen und ist dabei unglücklich vom Dach gerutscht.
Wir unterhalten uns noch ein wenig über meine Tour und die unterschiedlichen Mentalitäten der Leute in seiner alten und neuen Heimat, dann fahre ich weiter bis zum Campingplatz Havelberg.
Gegenüber meinem Camp zeltet ein Radler-Kollege, der mit Anhänger und Hund unterwegs ist. Leider hat er nur eine kurze Hose dabei, keine gute Idee bei den auch hier zahlreich umher schwirrenden Blutsaugern.
Trotz sehr lauter Vögel in der Nacht schlafe ich gut und verlasse um 8 Uhr die Camping-Insel in Richtung Elbe.
Schon bald rolle ich durch das Storchendorf Rühstädt. Hier brütet jedes Jahr im UNESCO-Biosphärenreservat Flusslandschaft Elbe-Brandenburg die größte Storchen-Kolonie Mitteleuropas mit ca. 30 Paaren. In der Stille und Weite der Elbauen finden diese Tiere die für sie perfekten Bedingungen.
Bevor ich in Wittenberge die Elbe Richtung Norden verlasse, kaufe ich erst einmal reichlich Proviant für das kommende lange Pfingst-Wochenende ein.
Gegen Abend errichte ich mein Lager nach einigem Suchen kurz vor Groß Laasch neben einem Getreidefeld.
In der Nacht ist es angenehm ruhig, gefrühstückt wird, wie auch an den Vortagen, im geschlossenen Zelt: Vampir-Alarm!
Wieder unterwegs kreuzt ein ausgewachsener Fuchs meinen Weg, vorsichtshalber werde ich meine Schuhe die nächsten Nächte wohl im Zelt deponieren... .
Dann komme ich an der KZ-Gedenkstätte Wöbbelin vorbei, Mahnmal und Erinnerung an eine furchtbare Vergangenheit.
Rechte Hand wird der Himmel immer dunkler und bedrohliche Wolken ziehen auf, ab und zu donnert es beängstigend. Kurioser Weise ist das Wetter links von mir eher freundlich, da bin ich wohl mitten in eine Wetterfront geraten.
Leider ist an meiner Straße weit und breit keinerlei Unterstand auszumachen und als ich neben mir Blitze sehe, gebe ich Vollgas und fahre so schnell ich kann immer weiter Richtung Schwerin. Irgendwann kommt endlich eine Tanke und ich mache erst einmal eine Essenspause um das Himmelsgeschehen weiter zu beobachten.
Das Wetter verändert sich nicht: rechts gewittrig, links moderat freundlich. Nach einer ganzen Weile beschließe ich weiter zu radeln, Schwerin kann ja nicht mehr so weit weg sein.
Und dann fahre ich auf das Schweriner Schloss zu, welches auf einer eigenen Insel im Schweriner See liegt. Vor dramatischen Wolken und der strahlenden Sonne angeleuchtet: ein unwirklicher aber wunderschöner Anblick.
Auch die historische Altstadt ist sehenswert, als es zu tröpfeln anfängt, lege ich eine Döner-Pause ein.
Das Wetter wird zusehends freundlicher und ich durchfahre eine weite grüne Landschaft bis ich auf einer großen Wiese gegenüber einer Motocross Strecke kurz vor Grevelsmühlen mein Zelt aufbaue.
Kaum sind alle Utensilien einschließlich meiner Schuhe
sicher verstaut, setzt Regen ein und ein vollständiger Regenbogen zeigt sich am Himmel: langweilig war das Wetter heute bestimmt nicht.
Es regnet die ganze Nacht und kühlt dabei merklich ab, dafür mal keine Plagegeister zum Frühstück, statt dessen Nebel.
Nach 20km leicht welliger Fahrt treffe ich auf eine Fähre und setze nach Travemünde über: das inzwischen warme und sonnige Wetter sowie der Pfingstmontag hat zahlreiche Touristen angelockt. Es herrscht ein buntes und heiteres Treiben.
Mir fällt jetzt auf, das ich seit Schwerin wieder lachende und frohe Leute sehe, auch sind zahlreiche Gebäude nicht mehr so gammelig... .
So fahre ich beschwingt an der schönen Ostsee-Küste entlang, bis ich linker Hand Richtung Plöner See abbiege und auf dem dortigen Camping die Nacht verbringe.
Schon früh geht es am nächsten Tag auf kleinen Straßen nach Kiel, leider ist die Brücke über den Nordostsee-Kanal komplett gesperrt, so komme ich erst mal nicht weiter.
Von einem Einheimischen bekomme ich den Tipp, am Kanal bis Landwehr zu fahren und dort mit der Fähre Kolberg überzusetzen, vielen Dank nochmal.
Leider muss ich danach wieder ca. 10km gegen den kräftigen Ostwind zurück radeln, aber inzwischen fällt mir das gegen an fahren schon deutlich leichter, als zu Beginn der Tour.
Nach weiteren ca. 25km erreiche ich Eckernförde, inzwischen ist der Ostwind noch stärker geworden, so das die letzten Kilometer bis zum Camping direkt an der Ostsee nochmal sehr anstrengend werden. Nach gut 90km steht mein Camp dann kurz nach 20 Uhr windgeschützt hinter einer dichten Hecke: Schlafenszeit.
Der kräftige Ostwind weht die ganze Nacht durch, früh morgens laufe ich zum nahen Strand und genieße den wunderschönen Sonnenaufgang.
Dann geht es zurück zum Stadthafen Eckernförde und weiter Richtung Schlei, leider begleitet mich einsetzender Regen.
Vor einem Supermarkt halte ich einen kurzen Plausch mit einer sympathischen älteren Dame: wir diskutieren über das wechselhafte Wetter, Radtouren und Gartenarbeiten. Zum Abschied sagt sie: wenn es regnet denke ich an sie ... . Überhaupt sind alle Leute hier sehr freundlich, und der Standartgruß in allen Lebenslagen ist: Moin
.
Als der Tag sich seinem Ende nähert campe ich bei Langenhorn neben einem großen Solarfeld und schlafe 12 Stunden nonstop durch.
Obwohl der Höhenmesser meines Tachos steigenden Luftdruck anzeigt, startet der Tag mit Dauerregen und draußen herrscht ostfriesisches Einheitsgrau am Himmel. In der Nacht haben Heerscharen von Nacktschnecken Zelt, Bike und Anhänger in Beschlag genommen, diese gilt es jetzt erst mal einzeln mit Hilfe eines kleinen Astes wegzukicken.
Auf nach Sylt!
Vorbei an zahlreichen Windrädern radel ich bis Klanxbüll und fahre 1 Station mit dem Zug über den Hindenburgdamm bis Munkhoog.
Von hier ist es nicht mehr weit bis Wenningstedt-Braderup, und obwohl der dortige Camping ausgebucht ist, darf ich als Radreisender auf dem einzigen „Notplatz“ ganz hinten rechts für 2 Nächte bleiben, prima. Das Zelt ist fix aufgebaut und ich gehe erst mal durch den Ort und in einer volkstümlichen Gaststätte für einen schlanken Taler frisch zubereiteten Backfisch essen, sehr lecker.
Den restlichen Nachmittag laufe ich bei inzwischen schönstem Sonnen-Wetter am Strand bis Wenningstedt und zurück durch die Dünen: topp!
Am nächsten Morgen schaue ich bei Sonnen-Aufgang aus meinem Zelt: es ist sehr ruhig, keine Nacktschnecken, keine Mücken, kein Regen: unglaublich
.
Nach dem Frühstück fahre ich ohne Gepäck mit dem Go auf kleinen Wegen Richtung Ellenbogen, eine 330-1200 Meter breite Landzunge, welche Natur- und Vogelschutzgebiet ist.
Hinter einem Kontrollhäuschen führt eine mautpflichtige Privatstraße durch unberührte Natur bis zum Leuchtturm List Ost und auf einen Parkplatz.
Mein Ziel ist aber der Leuchtturm List West, nicht nur der älteste Leuchtturm an der Westküste Schleswig-Holsteins, sondern auch das nördlichste Gebäude Deutschlands und mein Endpunkt auf dieser Tour. Nach kurzer Fahrt erblicke ich ihn: leuchtend weiß mit rotem Käppchen steht er linker Hand auf einer kleinen Anhöhe, Tour-Ziel erreicht
.
Dann fahre ich über List und Kampen zurück zum Camping, unterwegs finde ich noch in der Blidselbucht ein paar schöne Muscheln als Mitbringsel für meine Herzdame.
Den restlichen Nachmittag genieße ich wie am Vortag mit lecker Fisch, Strand, Meer und Dünen. Ein toller Tag mit Traumwetter auf einer wunderschönen Insel.
Jetzt heißt es Abschied nehmen: Zelt abbauen, alle Habseligkeiten im Cyclone verstauen und auf zum Bahnhof Westerland. Mit dem rappel vollen RE fahre ich zurück nach Hamburg Altona, weiter geht es mit dem Go über die Reeperbahn nach Rotherbaum an die Außenalster.
Unterwegs fallen mir auf dem Heiligengeistfeld bunt geschmückte Wagen und jede Menge Leute in poppigen Klamotten auf, also lege ich einen kurzen Bratwurst-Stopp ein.
Auf meine Frage, was denn hier so abgeht, lacht die Wurstverkäuferin: das ist doch der Schlagermove, eine öffentliche und kostenfreie Veranstaltung zur Förderung des Kulturgutes Schlager: hossa! hossa! Alle wollen dabei sein, deswegen war auch der RE ab Sylt so voll.
An der Außenalster verbringe ich noch einige Zeit und fahre dann zum nahen Hauptbahnhof und von dort mit dem vorher gebuchten ICE nach Köln.
Um 20.30 Uhr bin ich dann wieder wohlbehalten im Basislager.
Kleines Fazit: einmal ganz durch unser schönes Land von Süd nach Nord radeln, dabei ein wenig Donau und einen Schlenker durch unsere neuen Bundesländer zufügen: das war das Rezept für meine diesjährige 3-wöchige Radreise. Mir hat es gut gefallen, wann fährst du los?
Frohe Grüße von Helmut!