Tandemtour durch Lettland und Estland 2010
Eine durch überfrierende Nässe erzwungene Zwangspause :-( gibt mir die Gelegenheit, endlich mal unsere Radreise aus dem letzten Jahr aufzuarbeiten und ein paar Impressionen ins Forum zu stellen.
Das Baltikum hatte uns schon länger gereizt, auch um persönlichen Wurzeln nachzuspüren. Zuerst dachten wir noch an eine Tour durch Litauen, Lettland und Estland, und ich dachte, wenn man schon mal in der Ecke ist, kann man auch noch St. Petersburg mitnehmen. Aber bei genauerer Betrachtung stellte sich das dann doch als unrealistisch heraus, so dass wir in den knapp drei Wochen (inkl. An- und Abreise) nur Lettland und Estland bereisten, wobei der Schwerpunkt auf Estland lag.
Bei der Vorbereitung hat uns Dietmar mit seinem Reisebericht und geduldigen Antworten auf ergänzende Fragen wesentlich geholfen, dafür noch einmal vielen Dank!
Zur Planung verwendeten wir eine Straßenkarte für Estland 1:275.000 aus dem Reise-Know-How-Verlag, die uns sehr gute Dienste geleistet hat. An manchen Stellen, wo die Karte uns noch vor ungeteerten Straßen warnte, war inzwischen schon Asphalt, aber solche positiven Überraschungen nimmt man ja gern mit. Außerdem hatten wir uns – noch fast druckfrisch – das Buch „Baltikum per Rad“ von Michael Moll direkt über den Verlag Wolfgang Kettler besorgt. Es kombiniert eine allgemeine Einführung mit Etappenbeschreibungen, die jeweils von einer kleinen Übersichtskarte ergänzt werden. Zu größeren Orten gibt es längere Texte, außerdem Übernachtungshinweise. Dabei wird nicht etwa nur eine Route durch das Baltikum dargestellt, sondern ein Streckennetz in allen drei Staaten. Für meinen Geschmack ist das zuviel für ein Buch, und die Gefahr, dass es alles ein bisschen kann, aber nichts richtig, besteht. Aber als Einstiegslektüre und zum Überblick war es uns auf jeden Fall eine Hilfe. Hilfreich war noch die Homepage
http://bicycle.ee/, wo man einen Überblick über die estnischen Radrouten mit Kilometerangaben findet.
Die Anreise gestaltete sich etwas schwierig, da die direkten ICs von Frankfurt nach Norden schon ausgebucht waren. In einem sehr frühen Zug über Mainz, Köln, Bremen war zum Glück noch ein Platz frei. Von Hamburg kommt man mit einem etwas mühsamen Umstieg in Lübeck nach Travemünde. Wenn man Zeit hat, kann man sich die letzte Teilstrecke mit der Bahn auch sparen und direkt mit dem Fahrrad zum Fährhafen fahren. Die Haltestelle Skandinavienkai ist übrigens nur für Fußgänger interessant, die dort in einen Bus steigen können. Wir mussten etwas suchen, bis wir dann endlich die Haupteinfahrt auf das Hafengelände gefunden hatten. Dann ging es auf die Fähre Travemünde – Riga, betrieben von AVE Line. Die Verbindung war letztes Jahr recht neu, ist aber leider schon wieder eingestellt worden. Für uns passte es sehr gut, da es günstige Preise gab und wir direkt nach Riga kamen. Nachteilig war nur die Ankunftszeit: 2.30 morgens. Außerdem steuerten wir wider Erwarten nicht den stadtnahen Hafen an, sondern einen Industriehafen, der etwa 16 km nördlich des Stadtzentrums gelegen ist. Über eine ziemlich ruhige Stadtautobahn kamen wir dann zum Hotel und konnten zum Glück noch jemanden rausklingeln.
Am nächsten Tag stand erst mal die Besichtigung von Riga auf dem Programm. Dazu gibt’s nicht viele Worte, sondern nur ein paar Bilder.
Die Freiheitsstatue von Riga. Wer Näheres zu ihrer interessanten Geschichte finden will, findet in der deutschen Wikipedia einen guten Artikel.
Leckere Pelmeni
Jugendstil ohne Ende…
Am nächsten Tag ging es dann endlich los mit der richtigen Radreise. Damit wir die Etappen locker angehen können und um uns die stressige Ausfahrt aus Riga (laut mehreren Beschreibungen nur auf einer riesigen Ausfallstraße möglich) zu ersparen, nahmen wir die Bahn bis nach Cesis. Das war auch ein Erlebnis für sich: alte, rumplige Wagen, gefühlte Durchschnittsgeschwindigkeit 30 km/h, Abstand zwischen Bahnsteig und unterster Stufe ca. 90 cm…
In Cesis erwies sich der Versuch, die in „Baltikum per Rad“ beschriebene Strecke nach Valmiera zu finden, als unmöglich. So nahmen wir die P20, auf der man gut vorankam. Ab Valmiera wurde es auf der A3 etwas ungemütlicher, aber wir machten gut Kilometer und erreichten am Abend an der lettisch-estnischen Grenze Valka/Valga, die ehemals geteilte Stadt. In Valka (LT) fanden wir eine nette Pension, mit deren Inhaber wir uns mühevoll verständigten (Englisch, Russisch, Zeichensprache). Fürs Abendessen fuhren wir nach Valga (EST), wo es in einer Kneipe sogar eine englische Karte gab. Auch die junge Kellnerin sprach perfekt englisch. Dieser erste Eindruck wurde noch oft bestätigt: In Estland können die jungen Leute alle recht gut Englisch, das Land wirkt insgesamt moderner als Lettland, wo an vielen Stellen noch ein leichtes Sowjetunion-Flair herrscht. An vielen Stellen kann man sich kaum noch vorstellen, dass dort vor 20 Jahren noch der Kommunismus an der Tagesordnung war.
Einer der vielen modernen Supermärkte. Die Preise liegen etwa 30% unter den deutschen; bei einem Durchschnittseinkommen von 800 – 900 Euro fragt man sich allerdings trotzdem, ob dort alle nach Herzenslust einkaufen können…
Die nächste Etappe führte uns auf dem estnischen Radroutennetz nach Otepää. Man hat dort vor allem kleinere Nebenstraßen zusammengestellt und ausgeschildert, auf denen man gut fahren kann. Genauso gut kann man sich seine Route natürlich auch selbst auf der Karte zusammenstellen. Aber es waren ein paar hübsche Strecken dabei, meist mit eher rauem Asphalt versehen, manchmal auch nur Schotterstraßen, die sich aber trotzdem recht gut fahren ließen. Generell ist in Estland viel weniger Verkehr als in Deutschland (kein Wunder bei nur 1,3 Mio. Einwohnern, von denen über 400.000 auf Tallinn entfallen) und es wurde sehr rücksichtsvoll gefahren.
Typische Straße
So sieht die ungeteerte Variante aus.
Otepää liegt in der estnischen Schweiz und so hatten wir in der Umgebung die einzigen nennenswerten Hügel der Reise zu überwinden. Außerhalb der Stadt liegt der Pühajärv, zu deutsch Heiligensee, der auf jeden Fall eine sehr erfrischende Bademöglichkeit bot.
Von Otepää ging es weiter nach Nöo mit einer hübschen alten Kirche. An der Kirchenmauer trafen wir einen freundlichen Handwerker, der uns gleich die Kirche zeigte und auf den Turm bat und dabei seine wenigen deutschen Vokabeln vorkramte. Die letzten 10 Kilometer nach Tartu muss man leider auf der A3 zurücklegen, auch die offiziellen Fahrradrouten haben keine bessere Option. Mit einer Autobahn ist es zwar nicht zu vergleichen, eher mit einer breiten, zweispurigen Bundesstraße, aber angenehm zu fahren war es trotzdem nicht. Bei großer Hitze erreichten wir Tartu, wo Moderne und Tradition aufeinanderprallen. In einem riesigen Einkaufszentrum vor der Stadt mit tausenden Parkplätzen fanden wir einen gut sortierten Fahrradladen, der Ersatz für unseren Sigmatacho hatte, der nichts mehr anzeigte. Tartu ist die estnische Studentenstadt, man fühlt sich fast an Heidelberg oder Freiburg erinnert. Überhaupt ist das Flair sehr „europäisch“, dabei ist die russische Grenze gerade einmal 50 km entfernt. Schön fanden wir auch, dass die Stadt nicht ganz so touristisch überlaufen ist wie Tallinn. Also, wer in Estland ist, sollte sich Tartu nicht entgehen lassen!
Überall zu sehen: die estnische Flagge
Vorbildliche Radroutenbeschilderung
Die Kirche von Nöo
Das neue Tartu
Das neue Tartu II
Marktplatz mit Rathaus
Schöne estnische Sprache
Diese Forderung können wir nur unterstützen!
Die beeindruckende Domruine
Eine beeindruckende Radreisefamilie
Das Hauptgebäude der Universität
Ein kräftiges Gewitter brachte Abkühlung und frische Luft. Der Wind kam von Westen, was auf unserer nächsten Etappe Gegenwind bedeutete. Trotzdem waren wir recht froh darüber, denn wir hatten von den Waldbränden in Russland gehört, die auch Tschernobyl-verseuchte Gebiete betrafen. Da war uns die Brise von der Ostsee lieber.
Gegen den Wind kämpften wir uns am nächsten Tag nach Viljandi, mit 20.000 Einwohnern die sechstgrößte Stadt Estlands! Sehenswert sind die Burgruine mit schönem Blick auf den See und die Hängebrücke. Auch eine sehr nette kleine Stadt.
Pause am Võrtsjärv
Kirche in Viljandi
Die Hängebrücke von Viljandi
Die nächste Etappe führte uns von Viljandi erst nach Nordwesten, auf einer herrlichen Straße durch den Soomaa-Nationalpark und schließlich an die Ostsee nach Pärnu. Man merkt, dass das ein traditionsreiches Seebad ist, das auch heute noch sehr beliebt ist. Die Ostsee ist in der Bucht zum Baden allerdings nicht so gut geeignet, da das Wasser auch nach 200 Metern einem erst bis zu den Knien reicht. Für Nichtschwimmer perfekt!
Im Nationalpark
So sieht es übrigens aus, wenn auf einer Schotterstraße ein Auto durchgefahren ist.
Die Ostsee bei Pärnu
Überall gibt’s kostenloses WLAN.
Am nächsten Morgen standen wir vor der Entscheidung, ob wir die kürzere Route auf einer befahrenen Straße nehmen sollen oder lieber den großen Bogen auf der Radroute. Nach wenigen Kilometern auf der Straße bis zum Abzweig entschieden wir uns für die zweite Variante. Das war die richtige Entscheidung, denn nun fuhren wir bis kurz vor Virtsu auf einer landschaftlich sehr schönen, ruhigen Straße, die sogar weiter geteert war als auf unserer Karte eingezeichnet. Von Virtsu brachte uns die Fähre auf die kleine Insel Muhu, wo wir auf einem Reiterhof übernachteten.
Schöne ruhige Straße durch den Wald
Unser Übernachtungsquartier auf Muhu
Am nächsten Tag ließen wir das wohl recht sehenswerte Museumsdorf Koguva rechts liegen und blieben auf der Hauptstraße. Diese führt über einen Damm auf die größte Insel Estlands, Saaremaa. Wenn man die Zeiten der Fähre von Virtsu im Kopf hat, kann man dort halbwegs unbehelligt in einer Verkehrslücke fahren.
Das Mehl für dieses leckere Brot war in einer alten Windmühle gemahlen worden, die wir unterwegs besichtigt haben.
Saaremaa ist insgesamt sehenswert, und im Nachhinein ist es schade, dass wir dort nicht noch mehr Zeit verbringen konnten. Wenn man die Insel komplett umrundet, ist man über 200 km unterwegs – zu viel für uns. So wählten wir den direkten Weg in die Insel-Hauptstadt Kuressaare auf schönen Nebenstraßen. Am nächsten Tag ging es an die Nordküste, wo wir in der Nähe von Leisi übernachteten.
Der Meteoritenkrater bei Kaali
Die Nähe zu Skandinavien ist unverkennbar.
Die Burg von Kuressaare
Den Touristen wird einiges geboten…
Ein beliebtes Fotomotiv: Die Windmühlen von Angla
Dann – zur Abwechslung mal wieder mit etwas schlechterem Wetter – setzten wir auf die Insel Hiuumaa über, und noch am selben Tag auf das Festland. Abends erreichten wir Haapsalu, auch eine sehr schöne Stadt mit langer Tradition. Tschaikowsky fand hier schon Inspiration; heute kann man sich auf eine Bank an der Promenade setzen, die dann automatisch seine größten Hits abspielt. Wegen eines Jazzfestivals in der Burg war es schwierig, eine Übernachtungsgelegenheit zu finden. Nach einer Stunde Suchen und Telefonieren gaben wir auf und gingen in ein recht teures Hotel mit mittelmäßigem Preis-Leistungs-Verhältnis.
Die Burgruine in Haapsalu
Nun ging es schon stark auf Tallinn zu. Wir nahmen nicht den direkten Weg, sondern folgten der Radroute entlang der Ostseeküste. Unsere letzte Übernachtung war in einem kleinen Ort namens Növa, in einer kleinen Blockhütte mitten im Wald. Unsere Gastgeberin beschrieb uns den Weg zum nächsten Restaurant, ca. 25 km! Damit hatten wir nicht gerechnet, mangels eigener Vorräte bereiteten wir uns auf ein Abendessen aus trockenen Keksen und Leitungswasser vor. Aber sie half uns aus der Patsche und brachte uns Nudeln und Gemüse (Tomati und Kurgi), womit wir ein schönes Abendessen kochen konnten.
Für die Schlussetappe hatten wir eigentlich geplant, ab Paldiski in den Zug zu steigen. Nun kam es uns aber doch feierlicher vor, bis Tallinn aus eigener Kraft zu fahren, und so nahmen wir die letzte Etappe auf. Über 100 km gegen starken Wind, ächz. Schon etliche Kilometer vor Tallinns Zentrum stellt sich ein Metropolengefühl ein, die Straßen werden immer größer, der Verkehr dichter und lauter. Flugzeuge am Himmel, ein ungewohntes Bild. Abends gingen wir noch kurz in die Altstadt, waren aber froh, die ausführliche Stadtbesichtigung auf den nächsten Tag verschieben zu können. Die Altstadt beeindruckt mit einer Vielfalt schöner alter Häuser, aber man schwimmt in einem Strom von Touristen und kann die Augen vor den negativen Begleiterscheinungen nicht verschließen. Am Markt kann man kaum in der Nähe eines Restaurants stehen, ohne von einem Reinquatscher angesprochen zu werden. Auch die englischen Stag-Partys sind wohl schon eine Plage. Trotzdem kann das den Charme der Stadt letztlich nicht trüben. Unser runtergewirtschaftetes Billighotel lag außerhalb der Altstadt, wodurch wir den Kontrast zwischen Tradition und Moderne mit einigen UdSSR-Hinterlassenschaften noch deutlicher wahrnahmen.
Die Wasserfälle bei Keila-Joa
An manchen Orten merkt man die Nähe zu Russland dann doch.
Das Denkmal für den Untergang der Estonia
Die Stadtmauer mit den markanten Türmen ist vollständig erhalten.
Tradition und Moderne
Das Okkupationsmuseum arbeitet die Zeit der zweimaligen russischen und der deutschen Besatzung auf. Sehr empfehlenswert!
Nun begann die Rückreise: Mit einer der riesigen Fähren, die im Zwei-Stunden-Takt (plus mehrere Konkurrenzanbieter!) über die Ostsee pendeln, erreichten wir Helsinki. Dort gab es erst mal den Preisschock zu verdauen. Statt wie bisher deutsche Preise –30% mussten wir jetzt eher deutsche Preise +30-50% bezahlen. Unsere zweitteuerste Übernachtung der Reise war ohne Frühstück in einem Studentenwohnheim… Trotzdem sollte man sich Helsinki anschauen, wenn man dort schon vorbeikommt (Direkte Fähren von Estland nach Deutschland gibt es leider nicht.). Die Tallink-Fähre nach Rostock legt nicht in einem stadtnahen Hafen ab, sondern ca. 20 km außerhalb. Wegen der deutlich höheren Preise als bei AVE verzichteten wir diesmal auf eine Kabine und schliefen in Pulmansitzen, oder genauer: davor, denn der Teppichboden in dem Raum für die Sparfüchse schien bequemer als die Sitze. Gegen Pfand konnte man an der Rezeption Decken ausleihen, ein netter Service. Nach einem schönen Tag auf See erreichten wir am nächsten Abend Rostock, nach einer Übernachtung bei Freunden brachte uns die Bahn wieder zurück nach Frankfurt.
Abschied aus Tallinn
Radfahrerzählung in Helsinki
Helsinki
Auf See
Fazit: Estland ist ein tolles Ziel für Radreisen, aber auch der kurze Eindruck von Lettland hat Lust auf mehr gemacht. Auf unserer Liste stehen auf jeden Fall noch weitere Reisen ins Baltikum!