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#725370 - 05/26/11 10:33 PM Baltikum: von Swinemünde nach St.Petersburg
Paarios
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:30.6.2008 30.7.2008
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:https://picasaweb.google.com/pemanz/Baltikum2008#


Baltikum 2008
Mit dem Fahrrad von Swinemünde nach St.Petersburg
30. Juni - 31. Juli 2008


Achtung: Bilder zum Teil nur über https abrufbar wegen Problemen beim Hochladen

(Ausführliche Bilderstrecke einfacher unter http://picasaweb.google.de/pemanz/Baltikum2008#)




Dienstag, 1.Juli [img:left]https://lh3.googleusercontent.com/_lIpNSetHS0c/SRoEadorc3I/AAAAAAAADmk/AQM7MSTKDf8/s128/DSC00270.JPG[/img] Anreise mit dem CityNightLine von Basel nach Berlin, ab hier weiter mit dem Regionalzug nach Angermünde. Wegen einer Stunde Verspätung verpasse ich hier den ersten Zug nach Stettin knapp. Dafür reicht es für eine kleine Stadtbesichtigung (eher ein grosses Dorf, aber sehr malerisch). Der Zug über die Grenze besteht aus 2 kleinen Wagen, und ab der Grenze fährt er nur noch mit 30 - 40 km, da die Geleise durch Wald und Gebüsch ziemlich wellig sind. Trotzdem landet er dann nach einer Stunde auf dem Hauptbahnhof Szczecin (etwa 5 Geleise !) an der Oder. Auch hier zuerst eine Stadtrundfahrt mit Velo zur Besichtigung der wiederaufgebauten Handelshäuser aus der Hansezeit, bevor es nach 2 Stunden mit dem Regionalzug nach Swinoujscie (Swinemünde) weitergeht. Die eigentliche Stadt liegt am Westufer der Oder auf der Insel Usedom und ist durch einen Fähre mit dem Bahnhof verbunden.
Am Bahnhof und Hafen beginnt dann endlich die eigentliche Baltikum- Tour, heute nur bis Medszyzdroie (ach diese Polen mit ihrer Sprache!, die würden viel besser das kyrilli-sche Alphabet verwenden: für 4 Buchstaben polnisch gibt es dort einen einzigen). Zimmer gibt [img:left]https://lh3.googleusercontent.com/_lIpNSetHS0c/SRXZcDDNJMI/AAAAAAAACfo/5ymC_w_suvE/s128/DSC00271.JPG[/img] es nur für mehrere Tage, also musste ich in ein Hotel, das allerdings auch nicht schlecht war (130 Zloty, das heisst dann mit unseren Buchstaben “Swuotä”), etwa 65 Franken. Hier sind eben überall Ferienorte, und es scheint, dass ganz Polen jetzt am Meer sein will. Leider gibt es auch fast nur Pizza- ,Hamburger- und Fischbuden und kaum ein Restaurant mit wirklich polnischen Essen. Aber Kohl und Kabis und Kartoffeln gibt es trotzdem überall dazu!



Mittwoch, 2. Juli [img:left]https://lh3.googleusercontent.com/-JnkWFB4LQPo/SRXZjucTxkI/AAAAAAAACf4/iIJsLVUWLU4/s128/DSC00276.JPG[/img] [img:right]https://lh4.googleusercontent.com/-z57ra...8/DSC00281a.JPG[/img] Heute geht es so richtig los, allerdings erst nach einer langen Suche nach meiner Lese-brille (ob es wohl das Bier vom Vorabend ist, das es hier immer nur Halbliterweise gibt? Aber schliesslich gibt dann der Liter auch den richtigen Kalorienvorrat, und den kann ich wohl brauchen). Gleich zu Beginn 20 km durch den waldigen Wolinsky- Nationalpark auf sandigen Waldstrassen, kleinen Asphaltstrassen (jeder Meter 5 Flicke!) oder auch auf Feldwegen, die ins Nichts führen. Auf jeden Fall brauche ich schon am ersten Tag ausser italienisch alle Sprachen , die ich kenne, da das Polnische aus dem Kauderwelschführer nicht ganz perfekt ist und für genauere Erkundungen doch nicht reicht. Die Wegsignalisation ist streckenweise auch mangelhaft, aber dafür kommt man sich menschlich näher. Zum Glück habe ich auch genügend Mückenmittel, denn im Wald sind die Biester gefrässig.
Auf kleinen Provinzstrassen lande ich schliesslich um 19 Uhr in Trzebiatow (86 km) in einer kleinen (wohl auch einzigen) Pension und kann in der Kirche gerade noch den Rest eines Orgelkonzertes geniessen.
Tages- Bilanz: 81 km, 5.3 Stunden im Sattel.




Donnerstag, 3. Juli[img:center]https://lh3.googleusercontent.com/-jP07c...2/DSC00300a.JPG[/img]

[img:right]https://lh6.googleusercontent.com/-jd7qO...8/DSC00300b.JPG[/img] [img:left]https://lh3.googleusercontent.com/-MgJIKJr_QOw/SRXZ7npfdJI/AAAAAAAAChs/5c5gs6JsuJw/s128/DSC00320.JPG[/img]
Zunächst geht es auf Provinzstrassen über Land. In den Dörfern gibt es noch wunderbare Dorfkirchen aus dem 14. und 15. Jh. mit bemalten Holzdecken. Überall kommt auch spontan jemand, um die Kirche zu öffnen. Dazwischen verlaufen wieder einzelne Abschnitte im Uferstreifen entlang der Ostsee durch Föhren und Eichenwälder. Schade, dass dazwischen immer wieder die Badeorte mit all dem Rambazamba kommen. Auf den Strassen macht mir zunehmend der kräftige Gegenwind zu schaffen, aber das ist wohl der Preis für das schöne Wetter. In Dabki finde ich nichts und gehe deshalb auf einen kleinen Zeltplatz, was sich aber als gute Variante erweist. Um 20 Uhr schlage ich hier nach 126 km endlich das Zelt auf und gehe nach dem Duschen zum Fischessen.
Tages- Bilanz: 118 km, 7.9 Stunden im Sattel.
Tages- Bilanz: 17 km, 1.3 Stunden im Sattel.

Freitag, 4.Juli [img:left]https://lh6.googleusercontent.com/-rRyfy80cs54/SRXaD0kNwpI/AAAAAAAACiE/EZHyUkMyU0k/s128/DSC00332.JPG[/img] [img:right]https://lh6.googleusercontent.com/-WIDcqqPGiQg/SRXaH6atSUI/AAAAAAAACiU/Cl88N5XcRHM/s128/DSC00353.JPG[/img] Der Tag beginnt gemütlich. Zuerst nach Darlowo zum Morgenkaffe, aber so einen gibt es um 8 Uhr morgens in diesem schönen Städtchen doch noch nicht. Da alle Läden offen haben, kaufe ich Schoco-Drink und feine Sachen aus der Cukernaja (der Name sagt es: alles süss, wie dänischer Plunder, aber noch besser!). Meine Vorstellung vom flachen Pommern musste ich längst korrigieren: es ist hügelig, und die Dörfer liegen jeweils auf 50 bis 80m hohen Hügeln. Also ständig auf und ab, dazwischen von Hauptstrassen bis schmale Feldwege so ziemlich alles. Der Höhepunkt kommt aber bei Peplino: nach Bike-Line Führer sollte es möglich sein, direkt nach Norden Richtung Meer (ca. 7 km) zu gelangen. Ein Bauer bestätigt mir, dass ich auf dem richtigen Weg sei. Aber schliesslich endet der Karrweg bei einem verfallenen Haus, von wo es nur tiefe Traktorspuren in die Wiese hinaus auf einen Wald zu gibt. Ich lasse vorerst das Fahrrad stehen und schaue zu Fuss weiter. Nach 600 m sehe ich in der Ferne ein Dach, also muss dort sicher eine Strasse sein: Zurück und das ganze mit dem Rad (schieben, ho-hes Gras, Löcher,...), doch schliesslich stehe ich vor einem 2,5 tiefen Graben, bei dem ehemals ein Durchlass gewesen sein muss, dessen Rohrreste noch herumliegen. Hinabsteigen und auf der anderen Seite hoch mit ca. 18 kg Ballst auf dem 15 Kg schweren Velo braucht alle Bierkalorien wieder auf. Und schliesslich geht es nochmals 800 m im gleichen Stil weiter, bis ich bei einem verlassenen Bauernhof wenigstens einen Sandweg erreiche, bei dem ich nach den Fahrspuren auf die Richtung schliessen muss, welche wohl eher zu einem Dorf führen könnte. Ich bin zwar an einem anderen Ort als geplant gelandet, aber immerhin. Trotz vorgerückter Zeit mache ich noch den Abstecher zum Museumsdorf Klucki, da es von dort dann eventl. auch einen direkten Weg nach Osten geben soll (die diversen Infos gingen hier total ausein-ander). Nach einer Besichtigung der eindrücklich hergestellten Bauernhäuser aus dem 19. Jh. starte ich um 18 Uhr den polnischen Radwegzeichen folgend. Schon nach 50 m sind nur noch hohes Gras und eine knapp sichtbare Traktoren-, dann Fussspur zu erkennen. Aber es ist eben alles Naturschutzgebiet. Der Pfad mit Schlammlöchern, Bretterstegen und manchmal ein wenig Sand wäre wirklich etwas für Mountainbiker! Nach mühsamen 6 km lande ich langsam wieder auf Betonspuren, die aber immer wieder Lücken haben. Bei 2 Löchern gibt es solche Schläge, dass wohl bei jedem anderen Velo Felge und Achse miteinander gebrochen wären. Aber mein Aarios scheint eben doch der richtige Kauf gewesen zu sein! Wenn es so weiter geht, werde ich noch Mountainbiker. Statt einer richtigen Strasse folgen schliesslich noch etwa 8 km Sandpiste, zwar durch schönen Wald, aber manchmal bleibe ich trotz Konzentration ein-fach stecken. Um 20 Uhr erreiche ich schliesslich Leba (das heisst “ Wuaeba”, weil es im “L” eben hier noch so einen schrägen Strich hat: wirklich schräg!), wo ich das erst beste Hotel nehme, das dann aber auch gleich das teuerste ist. Aber suchen mag ich ganz einfach nicht mehr!
Tages- Bilanz: 138 km, 9.2 Stunden im oder neben dem Sattel.


Samstag, 5.Juli [img:center]https://lh6.googleusercontent.com/-ZcE3A...8/DSC00369a.JPG[/img]
[img:left]https://lh4.googleusercontent.com/-Lmj3R...8/DSC00369b.JPG[/img] [img:right]https://lh6.googleusercontent.com/-UXf3M...8/DSC00382b.JPG[/img] Es geht gleich wieder in den Wald, diesmal ein holpriger Wurzelweg, auf dem ich ir-gendwo zu Beginn auch den Rückspiegel vor lauter Schütteln still und heimlich ver-loren habe. 2 km zurück hilft leider auch nicht weiter. Der Weg verläuft hier entlang den riesigen weissen Dünen, die oft mitten im Wald auftauchen und natürlich auch nicht fahrerfreundlich sind. Da hilft ab und zu wieder nur Schieben. Aber dafür überall Natur Pur!
Mit einer Leuchtturmbesteigung schliesse ich diesen Streckenabschnitt ab und lande nach 16 km wieder auf Inland- Provinzstrassen und schliesslich bei Karwia wieder am Meer, damit aber auch wieder mitten im Ferientrubel. Wladislawowo ist auch nur so ein riesiger Ferienort, weshalb ich angesichts bevorstehender Wetterverschlechterung gleich bis Jastarnia auf der Halbinsel Hel weiterfahre. Ein wunderbarer Abend auf wunderbarem Radweg bei schönstem Wetter. Falls es am Sonntag wirklich schlecht sein sollte, habe ich nur noch 15 km bis zur Fähre nach Danzig. Unterwegs ein Zwischenhalt im malerischen Hafen von Chalupy, und nach 103 km und 6 Stunden Fahrzeit schlage ich in Jastarnia das Zelt auf und stärke mich mit Lachs und Kabissalat (nicht ohne das Bier).
Tages- Bilanz: 96 km, 5.9 Stunden im Sattel.

Sonntag, 6. Juli
Der Sonntag beginnt entgegen den Erwartungen nach einem kurzen Sprutz doch wieder sonnig. Also schnell Zelt abbrechen und um 9 Uhr geht's auf fast leeren Strassen weiter ostwärts nach Hel zur Fähre. Hier kommen unterdessen Hunderte von Ausflüglern aus Danzig und Gdynia (auch mit Fahrrädern) an. Zum Glück bin ich so früh unterwegs; das würde am Abend ja ein schönes Gedränge! Unterwegs kommt auch bereits der erste Regenschauer, aber es hellt wieder auf und ist warm. Nach 2 Stunden kann ich mitten in Danzig mein Gepäck wieder aufs Rad binden. Wegen dem guten Wetter mache ich gleich eine erste Stadtbesichtigung, werde dann aber auch prompt von einem gewaltigen Wolkenbruch überrascht. Mit Regenzeug fahre ich westwärts und suche mein Hotel "Patron" (Nomen est [img:left]https://lh3.googleusercontent.com/-dgcVU...8/DSC00401d.JPG[/img] [img:right]https://lh4.googleusercontent.com/--Ki0E...8/DSC00401e.JPG[/img] Omen!). Niemand kennt das Hotel, und an der besagten Adresse steht nur eine gewaltige moderne Kirche. Ein Hüne von einem Priester betätigt mir aber, dass ich am richtigen Ort sei und bestellt mit Handy gleich den Manager. Es ist eine kirchliche Unterkunft für Pilger, die aber allgemein zugänglich ist. Ich kann mich gar nicht beklagen: Riesiges Doppelzimmer mit riesiger Dusche, TV, sehr sauber, das Fahrrad kann ich gleich ins Zimmer nehmen, und all das für 50 Euro inkl. Frühstück. Dazu gleich nebenan die S-Bahn ins Zentrum: was will man mehr?? So mache ich auch gleich bei inzwischen wieder schönem Wetter auf die nächste Stadtbesichtigung. Danzig ist grossartig:
Alles wieder aufgebaut wie vor dem Krieg, wenn man Günther Grass liest, kommt einem das alles bekannt vor. Morgen habe ich dann noch Zeit für Museen und Kirchen. Hoffentlich finde ich auch wieder einen Spiegel für die Weiterfahrt auf grossen Strassen.
Übrigens: Alle bei uns gängigen Vorurteile über die Polen vergessen: sie sind nett, hilfs-bereit (vielleicht hilft es auch, weil ich immer zuerst in Polnisch frage, so gut es geht), Sicherheit war nie ein Problem, ... hoffentlich geht es so weiter!
Tages- Bilanz: 25 km, 2.1 Stunden im Sattel; dazu gemütliche Schiffahrt.


Montag, 7. Juli [img:left]https://lh4.googleusercontent.com/-t3EIS...8/DSC00401h.JPG[/img] [img:right]https://lh4.googleusercontent.com/-0Wkh8B0ocrI/SRXaaccp5YI/AAAAAAAACkA/z5iXLUjd0j4/s128/DSC00440.JPG[/img] [img:left]https://lh5.googleusercontent.com/-SyvRDqy5VU0/SRXahAevRXI/AAAAAAAACko/QVMgKp1zrpM/s128/DSC00452.JPG[/img] [img:right]https://lh5.googleusercontent.com/-zJzT7ZqDcRI/SRXaijkJDbI/AAAAAAAACkw/U7DFokFdD8c/s128/DSC00458.JPG[/img] Ich nutzte den Tag zu einer ausgedehnten Besichtigung von Danzig. Es hat nicht nur am Sonntag unglaublich viele Touristen, der Montag ist kaum besser. Neben sehr vielen Polen sind es vor allem Deutsche, daneben etwas Amerikaner und wenige Asiaten. Schweizer konnte ich ein einziges Mal feststellen (vielleicht fallen die auch weniger auf?). Da es Führungen nur für Gruppen und auf Bestellung gibt, schloss ich mich einfach je nach Ort einer Gruppe an. So konnte ich Informationen zu Bernstein (den man hier in jedem 2. Geschäft angepriesen erhält) bekommen und vor allem viel über die Marienkathedrale mit der Astronomischen Glocke von 1407 sowie den diversen Figuren und Bauteilen erfahren, die zwar alle aus dem 15. - 18. Jh. stammen , aber wegen der starken Beschädigung im Krieg nach dem Wiederaufbau vor allem aus anderen Kirchen Danzigs in dieser grössten Kirche zusammen getragen worden sind. Besonders beeindruckend war die grosse Orgel, die vollständig restauriert worden ist. Am Abend besuchte ich dann auch noch eine kurze Messe, um sie zu hören.
Neben den unzähligen Kirchen sind es vor allem die historischen Fassaden, die beein-drucken. Einige der mit alten Fassaden hergerichteten Häuser beherbergen hinter den Fassaden aber moderne Wohnungen und Büros. Mit einem Abstecher zum Postgebäude, das von den polnischen Beamten 1939 heldenhaft gegen die Deutschen verteidigt worden war, und einer Wanderung zum Solidarnosc-Museum (leider montags geschlossen) beschliesse ich die Besichtigung der Stadt.
Ein Tag reicht eigentlich völlig, und ich freue mich auf die morgige Weiterfahrt. In einem Velogeschäft kann ich sogar auch wieder einen Spiegel für das Velo finden. Allerdings muss ich ihn am Abend einen Stunde lang mit Messer und Feuer und ein bisschen roher Gewalt bearbeiten, bis er schliesslich in die Öffnung meiner Lenkstange passt.



Dienstag, 8. Juli

Ich starte nach dem einfachen (kirchlichen) Morgenessen schon um 9.30 Uhr, um mög-lichst einfach nach Frombork zu gelangen. Deutsche, die ich in Danzig getroffen habe und die 5 Tage von hier aus mit dem Fahrrad unterwegs waren, meldeten, dass es 4 - 5 Fähren pro Tag von Krynica Morska nach Frombork gebe, also kaum ein grosses
Problem. Mit Nachfragen und etwas Gespür (nicht ganz immer richtig) finde ich schliesslich den Weg neben den vielen Hochleistungsstrassen aus der Stadt Richtung Osten und schliesslich auch die Landstrasse nach Sobszewo und kann die Fahrt mit wenig Verkehr geniessen. Hier taucht die erste Flussüberquerung auf: eine etwa 100 m lange Holzbrücke auf schwimmenden Pfeilern (Metalltanks, wie eine Pontonbrücke) Das ganze schwankt denn auch beträchtlich, wenn ein Lastwagen oder Bus darüber fährt. Der letzte Brückenteil ist zudem noch als Zugbrücke ausgebildet und kann bei Schiffsverkehr hochgezogen werden. Die nächste Querung folgt in Swibno: eine einfache Fähre, die von einem daneben fahrenden kleinen Motorschiff gestossen wird. Für Velo und Person bezahle ich 4 Zloty (knapp 2 Franken) ein Auto kostet 20 Zl. Eine deutsche Velotouristin behauptet hier ebenfalls, die Fähre nach Frombork fahre 4 - 5 Mal pro Tag, also keine Eile nötig.


Nach der Besichtigung einer wunderbaren Dorfkirche von 1688 in Stegna stosse ich wenig ausserhalb plötzlich auf einen alte deutsche Inschrift: "Stutthof" . Eine nostalgische Reminiszenz, oder was?? Wenig später die Info: Museum über das KZ Stutthof (noch nie gehört!). Also mache ich kurz kehrt und einen Besuch: absolut lohnend, wenn auch sehr bedrückend. Es war eines der grössten KZ in Polen und bedeutete das Ende von 65’000 Menschen. Teile des Lagers bestanden nach dem Krieg noch und wurden restauriert und mit eindrücklichen Ausstellungen über das KZ, aber auch über den ganzen Ablauf der "Heimholung" Danzigs und des General-governementes Polen 1939 - 45, sowie auch über die "Befreiung" durch de Rote Armee versehen.
Den 3- stündigen Unterbruch der Fahrt bezahle ich zwar mit einem gewaltigen Wolken-bruch, aber es wird doch bald wieder besser, und so erreiche ich schliesslich um 15.30 Krynica Morska und steure gleich den Hafen an. Aber welche Überraschung: das einzi-ge Schiff fährt jeweils nur morgens um 9 Uhr. Also Unterkunft suchen, und zwar wegen bevorstehendem Regen lieber nicht zelten, da ich nicht gerne nasse Ware einpacke. Aber so einfach ist das nicht: Hotels gibt es nur sehr teure, und private Zimmer sind meistens nur für 2 - 4 Tage erhältlich. Die Dame an der Informacia wird nicht müde mit Telefonieren, und nach 1 1/2 Stunden gibt es Erfolg: Ein Zimmer für 60 Zloty, und nach der Einquartierung bietet mir die Hausfrau sogar noch heissen Tee und Kirschen aus dem Garten an. Ich kann in Ruhe duschen und waschen, und zum Abschluss schmeckt sogar die Pizza Calzone (allerdings alles anderer als das Original) im nahegelegenen Imbiss noch ganz passabel.
Tages- Bilanz: 68 km, 3.8 Stunden im Sattel.


Mittwoch, 9. Juli

Heute heisst es frühzeitig aus den Federn, wenn es schon nur dieses einzige Schiff nach Frombork gibt. Der Hausherr offeriert mir sogar noch ein ausgiebiges Morgenessen (gibt es normalerweise nicht), so dass ich schliesslich doch noch in die Pedalen treten muss, um rechtzeitig Geld aus dem Bankomat zu holen. Das Schiff füllt sich schnell mit Ausflüglern, die bei diesem windigen und leicht regnerischen Tag Frombork besuchen wollen. Sie verziehen sich denn bald nach der Abfahrt vom sehr windigen Deck in das dicht gestopfte Restaurant, so dass ich im Regenanzug windgeschützt die Fahrt in Ruhe geniessen kann. Nach 1 1/2 Stunden legten wir in Frombork an. Auf einem Hügel trohnt die eindrückliche Schlossfestung (deutsch: Fraunburg), neben der riesigen Kathedrale vor allem bekannt als Lebensort des Astro-nomen und Wissenschaftlers Kopernikus. Neben dem Besuch des Kopernikus-Museums und des mächtigen Turms mit Aussicht über halb Ostpommern gibt es in der Kathedrale auch gleich ein kurzes Konzert auf der 5-manualigen Orgel zu hören.


Um halb eins geht es schliesslich hügelig auf ruhigen Landstrassen nach Osten Richtung Grenze weiter.
Der Grenzort Gronowo hat nur wenige Häuser. Das nächste Gewitter lasse ich noch im Schutz einer Wechselstube vorbeigehen. Für meine 70 Zloty erhalte ich 520 Rubel (etwa 25 Franken), damit ich bis zum ersten Bankomaten etwas habe. Am Grenzbalken warten nur 3 Autos, die nur nach längerer Zeit einzeln zum polnischen Grenzposten vorgelassen werden. Nach den erhaltenen Infos könnte man hier eigentlich ohne Auto gar nicht queren, aber man solle es versuchen und notfalls ein Auto um Mitnahme bitten. Ich fahre einfach hinter dem vordersten Auto her, und der polnische (EU-)Zöllner lässt mich nach kurzem Augenschein des Passe passieren: Schwierigkeiten seien aber von den Russen zu erwarten!


Doch keineswegs: auch hier geht es innert 10 Minuten weiter, vorbei an 2 dichten Stacheldrahtabsperrungen, und dann Bahn frei. Doch halt, nach 500 Metern (und einem dritten Stacheldrahtzaun) kommt erst noch die richtige Kontrolle mit Formular Ausfüllen, Stempel, etc. Doch dann ist es wirklich geschafft und die Strasseendgültig offen. Während auf der Gegenrichtung ca. 400 m Autokolonne Richtung Polen warten, habe ich auf meiner Seite praktisch keinen Verkehr, und dazu eine Strasse, wie ich sie in ganz Polen nie erleben konnte. Also den leichten Rückenwind geniessen und 49 km bis Kaliningrad beginnen. Eigentlich alles gut, wenn ich auf halber Strecke nicht den Verlust meines Photoapparates feststellen müsste (zum Glück!). Ich kann mich erinnern, vor etwa 8 km das letzte Photo gemacht zu haben, also retour. Und dort liegt er friedlich unter einem Baum im Gras. Noch kaum je war ich so erleichtert! Diese 16 km Zusatz haben sich jedenfalls gelohnt! Dafür gerate ich dann vor Kaliningrad wegen dem Feierabend in immer dichteren Verkehr und lande schliesslich auf riesigen Pflastersteinen und zwischen holprigen Tramgeleisen im Stadtzentrum mit 8-spurigen Strassen voller PW's und Bussen. Mit viel Fragen und auf Umwegen finde ich um 19.30 Uhr schliesslich auch mein reserviertes Hotel in einer stillen Seitenstrasse. Statt der vorgesehenen 75 km waren es heute eben wieder 101 km.
Borschtsch und Shashlik mit einem guten Bier lassen aber auch dies bald vergessen, denn schliesslich: "..... alles freiwillig!".
Tages- Bilanz: 80 km (+ 16km Extra), 5 Stunden im Sattel.


Donnerstag, 10. Juli
https://lh4.googleusercontent.com/-HKAxmAJ6uZQ/SRXbFRjxD_I/AAAAAAAACnU/pkpIGk99zf0/s128/DSC00524.JPG

Heute ist wieder Ruhe- und Besichtigungstag: Zudem muss ich dringend Geld bezie-hen, denn gestern waren die Bancomat in Hotelnähe schon geschlossen. Erst jetzt merke ich weshalb: Ich hatte eine Stunde Zeitverschiebung nicht berücksichtigt. Mit einem Rütteltram fahre ich zunächst zurück ins Zentrum. Entgegen meinen Erwartungen zeigt sich
Kaliningrad als sehr moderne Stadt (wenigstens im Zentrum), wahrscheinlich das meiste erst in den letzten Jahren mit dem vielen Ölgeld des Staates aufgebaut. Die Bauerei geht denn auch überall ungebrochen weiter. Zudem ist es erstaunlich sauber. Den Hauptplatz am Leninprospekt dominiert ein gewaltige orthodoxe Kirche mit goldenen Kuppeln, daneben


Supermärkte und die moderne Verwaltung des Kaliningradskij Oblast. Aber auch der alte deutsche Dom mit dem Grab von Immanuel Kant ist schön hergerichtet, gemäss einer Inschrift mit Hilfe von Putin zum 750-Jahr Jubiläum Königsbergs vor 1 Jahr. Neben einem längeren Orgelkonzert kann ich hier auch noch gleich einen grossartigen Chor geniessen. Zur Erholung dann ein Spaziergang um den Unteren See mit seinen schönen Parkanlagen. Überhaupt hat es überall kleinen Pärke, zum Teil mit heute skurril anmutenden Denkmälern aus der Zeit der Sowjetunion. Das strahlende Sommerwetter macht müde. Aber morgen geht es bei hoffentlich ebenso gutem Wetter weiter nach Norden und übermorgen bereits nach Litauen.

Freitag, 11. Juli
Die Fahrt von Kaliningrad nasch Svetlogorsk an der Küste ist etwas vom Schönsten bisher. Nachdem ich über die verkehrsreiche Umfahrungsstrasse der Stadt und mit Hilfe hilfreicher Milizia die richtige Strasse nach Westen gefunden habe, gibt es auf der von Oleg Alferov im internet empfohlenen Route nur noch Natur pur und kaum Verkehr.

Zudem fast durchgehend sehr gute Strassen. In Svetlogorsk finde ich über die TuristInfo eine Privatwohnung für 2200 Rubel (ca. 85 Franken). Mit einem Abendbad am Sandstrand kann ich den Tag an diesem gemütlichen Ferienort abschliessen.


Tages- Bilanz: 67 km, 3.7 Stunden im Sattel.


Samstag, 12. Juli

Heute geht es kreuz und quer durch verschlafene Dörfchen mit zerfallenen Kirchen nach Selenogradsk, wo die Kurische Nehrung beginnt.


Im Gegensatz zu den Automobilsten darf ich dieses ausgedehnte Schutzgebiet gratis betreten. Bis zur Grenze nichts als Wald, Sand, Dünen, Wildnis, und immer wieder Ausblicke auf die Ostsee im Norden oder das Kurische Haff im Süden. Dazwischen Spaziergänge auf die gewaltigen Dünenberge mit unendlicher Aussicht.


In Rybatschij beginnt gerade das grosse Sommerfest der ehemaligen Fischerei-Kolchose mit Musik einer kleinen Militärkapelle, aber ich will doch eher noch in das litauische Nida vor dem Einnachten. An der Grenze dann das kleine Zwischenspiel: Den Zöllnern ist offenbar nicht entgangen, dass ich den 2 km vor der Grenze bestehenden Sandstreifen längs dem Stacheldraht fotografiert habe. Jedenfalls verlangen sie sofort die Kamera und löschen die Fotos. Kann passieren, früher wäre gleich der ganze Film herausgerissen worden!
Auf der litauischen Seite beginnt gleich wieder der moderne Tourismus mit vielen Touristen, neben Litauern vor allem Deutsche. Auf dem grossen Campingplatz ausserhalb von Nida finde ich schliesslich noch ein Plätzchen für mein Zelt und beschliesse den Abend im Ort im Freien bei kaltem Borschtsch und feinem Thonsalat (mit Bier!)
Tages- Bilanz: 102 km, 6.3 Stunden im Sattel.


Sonntag, 13. Juli
Nach 3 Stunden und nochmals 50 km durch Wälder und Dünen bin ich in Klaipeda angekommen. Vor dem Theater dokumentiert einen Ausstellung die Ereignisse von 1989, als nach langen und zum Teil militärisch unterdrückten Protesten Litauen mit den anderen baltischen Staaten die Unabhängigkeit von Russland erkämpfte. Beim Spaziergang durch die Altstadt mit den niederen Häuschen höre ich Musik und lande kurz darauf in einem grossen Innenhof auf einem Fest mit litauischer Volksmusik: hochstehender Chorgesang von Sängerinnen und Sängern in den traditionellen Klei-dern.



Jetzt nutze ich das schöne Wetter noch, um ca. 40 km weiter Richtung Lettland zu fahren. Punkto Sprache verstehe ich hier nur noch Bahnhof, aber die älteren Leute können alle russisch, und die ersten 3 bis 4 Floskeln Litauisch versuche ich auch im Kopf zu behalten.
Am Nachmittag geht es auf wunderbarem Veloweg (Asphalt) von Klaipeda im Slalom durch die Föhren- und Birkenwälder nordwärts weiter. Die Wege sind gut signalisiert, aber trotzdem lande ich irgendwann mitten in einem riesigen Ferienlager in einem Fest. Um halb acht bin ich schliesslich mitten im Ferientrubel von Palanga. Der Zeltplatz soll etwas ausserhalb der Stadt liegen, und nach einigem Fragen finde ich ihn: direkt an einer Kreuzung an der Strasse zum Flugplatz und entsprechend lärmig. Zum Glück sehe ich noch eine Hinweistafel auf einen weiteren Platz 1 km weiter. Und wirklich: hier im Wald hört man von der Strasse nur ein entferntes Rauschen. Ich kann auf den Waldwiesen wählen. es hat nur etwa 3 Zelte und einige feste Häuschen zur Miete. Alles sehr einfach, aber dafür auch nur 20 Litas (etwa 9 Franken).Für in die Stadt ist es um 21 Uhr zu spät, also selber

Kochen in der einfachen Küche: Gestensuppe mit Landjäger und Brot. Mit dem Grossvater und Boss des Platzes komme ich noch in ein längeres Gespräch, weil ich ihn mit seinem imposanten Bart photographieren will. Natürlich kann er über meine Rente nur staunen, obwohl ich sie für ihn um die Hälfte gekürzt habe. Er selber muss schliesslich mit rund 380 Franken leben, und dabei werde auch hier schon alle teurer (noch ohne Euro!). Benzin koste jetzt schon 78 Rappen der Liter!

Tages- Bilanz: 90 km, 5.6 Stunden im Sattel.


Montag, 14. Juli


Im der Nacht beginnt es zu regnen. Kein Grund zur Unruhe, ich habe ja schliesslich den Regenüberwurf zu meiner Saccoche über diese gelegt, und sicher wird es am Morgen bald wieder schonen. Beides falsch: der Überzug ist nicht dicht, weshalb so ziemlich alles ausserhalb des Zeltes nass ist, und um 8 Uhr schifft es immer noch. Also alles ins Zelt nehmen, möglichst wasserdicht (zwar nass) umpacken und schliesslich im Regenanzug zuletzt noch das nasse Zelt einpacken. Vom Senior bekomme ich noch zwei Kehrichtsäcke zum Abdecken, und „weiterfahren sei im übrigen Chabis, es werde die nächsten 2 Tage nur regnen!“ Ich bin aber zuversichtlich und fahre vollbepackt zu-nächst einmal nach Palanga zurück, um ein warmes Morgenessen zu geniessen. Kartoffel-Blini (Pfannkuchen) mit Smetana (Sauerrahm) sind jetzt genau richtig. Und tatsächlich hört es auf zu regnen, und schon wenige Kilometer weiter auf dem schönen Radweg wird es wieder zu schwül für die Regenkleidung. In Svetnoij ist es dann leider fertig mit dem Radweg, ich muss endgültig auf die Hauptstrasse. Die Grenze zu Lettland liegt mitten im Wald, ist unbesetzt, und mein litauisches Geld kann ich auch nirgends mehr wechseln.
Die Strassen sind deutlich schlechter und bestehen vor allem aus Flicken. Es geht endlos durch Wald mit ganz seltenen Feldern und noch seltener irgendwo ein Haus. Erst nach 30 km stosse ich auf das erste Dorf: Nica (Nizza ausgesprochen) und wie die Tafel besagt ca. 2400 km vom berühmten Namensvetter in Frankreich entfernt. Im der Kafejnica gibt es einen Lüderikafi für 0.70 Lat (ca. 40 Rappen), aber immerhin etwas Erholung.


Um halb sieben fahre ich nach weiteren 20 km schliesslich in Liepaja ein, eine Stadt voller Holz- und Jugendstilhäuser. Von 1919 bis 1924 war es Hauptstadt des eben erstandenen Lettands. Nach dem Hotelbezug mache ich mit dem Velo zuerst eine ausgedehnte Stadtrundfahrt, um überall einige der Bilderbuchhaften, aber vielfach zerfallenden oder leer stehenden Häuser zu dokumentieren. Nebenbei sei noch erwähnt, dass das Nachtessen mit Randensuppe, Hünchenbrust und Bier nur ca. 14 Franken kostete. Mit Föhn und nochmals Umpacken kann ich anschliessend innert 1,5 Stunden alles einigermassen trocken bringen für die morgige Weiterfahrt.
Tages- Bilanz: 86 km, 5.4 Stunden im Sattel.


Dienstag, 15. Juli

Zuerst ein Besuch des Stadtteils Karosta von Liepaja: ein absolutes Unikum und eine interessante Reminiszenz der Geschichte: Es wurde bereits in um 1870 als separate russ. Garnisonstadt gegründet und war während der Sowjetunion die grösste U-Boot-Basis im Baltikum. Heute sind die alten Backsteinbauten in russischem Stil und die Industrieanlagen weitgehend zerfallen. Auch ein grosser Teil der Plattenbauten sind in einem desolaten Zustand, und die direkte Drehbrücke, welch die Verbindung nach Liepaja herstellte, ist kaputt, seit vor 3 Jahren ein betrunkenere georgischer (was die Russen mit Genuss betonen!) Steuermann seinen Frachter im starken Wind nicht unter Kontrolle hatte. Jetzt wird mit der Reparatur begonnen.



Und mitten in dieser Wildnis taucht eine prächtige orthodoxe Kirche mit goldenen Kuppeln auf. Von einem Arbeiter, der gerade die Wiesen mäht, erfahre ich all das, und dass es eben hier doch schöner sei als in der Stadt mit all dem Lärm.
Nur ungern fahre ich nach 2 Stunden wieder hinaus und bin nach einigen Kilometern auf den berüchtigten Naturstrassen wieder auf der Hauptstrasse Richtung Norden. Wenig Verkehr, und nichts als endlose Wälder, ab und zu etwas Wiesen, sehr selten ein Haus und an Stelle der in der Karte vermerkten Dörfer ebenfalls nur 2-3 Hauser, von einer Beiz schon gar nicht zu sprechen. Dabei hatte ich mich doch spätestens in Carka auf einen Laden und einen Kaffee gefreut. Das einzige Haus hier sieht aus wie einen Post, also fragen. Es entpuppt sich als Bibliothek und Teil der Gemeindeverwaltung, aber die Kassierin offeriert mir trotzdem Kaffee und selber gemachte Brötchen mit Speck und Gurken, alles gratis. Die Gemeinde mit 35 km2 hat noch knapp 800 Einwohner, die Hälfte arbeitslos, die anderen arbeiten im 60 km enternten Liepaja. Etwas Landwirtschaft wird nur noch so nebenbei betrieben. Erst in etwa 25 km Entfernung gebe es wieder eine Beiz und einen kleinen Laden. Gut, dass ich bei diesen gastfreundlichen Beamten so gut bewirtet worden bin.
Auf der Weiterfahrt begegne ich ab und zu nun auch Radlern mit grossem Gepäck, meistens Letten und Litauer, dann auch Deutschen. Der schwache Rückenwind macht das Fahren auf den fast leeren Strassen leicht. Wenn es zu viele Flicke hat, fährt man eben auch mal links, die wenigen Autofahrer machen es einem vor. Mit dem Rückspiegel sehe ich immer rechtzeitig, wenn wieder einmal ein Fahrzeug von hinten anbraust. Ab und zu ein Fuchs, dann wieder Störche, sonst vor allem unendlich viel Wald.

25 km vor Ventspils wähle ich die Nebenstrasse, die wie alle Strassen abseits der Hauptachsen nur breite Schotterpisten sind. Aber auf den Fahrspuren lässt es sich dank Sattelfederung und breiten Reifen mindestens so gut fahren wie auf den geflickten Be-lagstrassen. Und auf den nächsten 15 Kilometern kein einziges Auto.
Dafür mache ich dann abends in Ventspils noch unfreiwillige Kilometer. Naiv wie immer ging ich davon aus, mit dem Zug nach Riga fahren zu können, um von dort dann über die Nordspitze Lettlands (Kolka) wieder hier die Fähre nach der Insel Saaremaa (Estland ) nehmen zu können. Und dort, wo die vielen Geleise sind , ist sicher der Bahnhof (oder sollte eigentlich sein). Nach 4 km durch Stadt und um den Hafen erfahre ich aber, dass seit einem Jahr nur noch der Bus fährt, und der Busbahnhof ist am anderen Ende der Stadt.

Und hier erhalte ich die Auskunft, dass es vom Chauffeur abhänge, ob er ein Fahrrad mitnehmen will. Schliesslich hat das Olympische Zentrum seit 2 Jahren auch keine Hotelzimmer mehr, also muss ich weiter auf die Hotelsuche, denn es beginnt nächstens zu regnen. Nach 10 Extrakilometern und insgesamt 155 km heute finde ich um halb neun endlich für 20 Lati ein Zimmer (und erst noch gratis internet dazu).

Mal schauen, welche Laune morgen um 10 Uhr der Bus-Chauffeur hat!
Tages- Bilanz: 145 km, 7.6 Stunden im Sattel.


Mittwoch, 16. Juli

Es klappt wunderbar mit dem Bus. Der Chauffeur hilft mit dem Verladen des Velos und dem Gepäck und verlangt überhaupt keinen Zuschlag. Die Strecke Ventspils - Riga wä-re gar nichts fürs Fahrrad: zwar flach, aber meistens im Wald und sehr viel Verkehr. Der Schnellkurs lässt überall unterwegs Passagiere auf Wunsch aussteigen, nach 1,5 Stun-den gibt's einen kurzen Kaffee- und WC-Halt, und nach knapp 3 Stunden sind wir mitten in Riga im Busbahnhof. Gleich daneben der unendlich grosse Markt mit Hallen und dazwischen und davor dicht an dicht Stände mit Blumen, Obst und Gemüse. Gleich dahinter der bekannte Turm im stalinschen Zuckerbäckerstil: auch Riga wurde wie viele andere Städte des ehemaligen Ostblocks mit dieser Kopie aus Moskau beglückt. Auf der anderen Seite des Marktes die Bahnstation mit modernsten Gebäuden und gleich dahinter die Altstadt mit den engen Gassen und den prächtigen Kirchen und alten Handelshäusern. Die Synagoge wird eben wieder renoviert. Eine Spazierfahrt mit dem Velo über das holprige Kopfsteinpflaster gibt mir innert 3 Stunden einen ersten Eindruck der Stadt. Ein längerer Besuch wird in Zukunft unumgänglich. Ein letzter Blick zurück von der eleganten Brücke über die Daugava auf die Silhouette mit den vielen Türmen, ein Wolkenbruch im Schutz einer Busstation, und dann geht es kreuz und quer durch die Aussenquartiere, bis ich mit viel Nachfragen endlich den Radweg nach Jurmala hinaus finde. Unterwegs am Wegrand zwei Clochards, die hier in aller Ruhe ihren Rausch ausschlafen. Jurmala ist der noble Badestrand von Riga. Der Ort zeigt auf seiner ganzen Länge von rund 12 km nebeneinander alte Schlösschen aus dem 19. Jh. und modernste Villen in Glas und Stahl und gäbe ein ganzes Bilderbuch von Baustilen für die Architekturgeschichte. Endlich erreiche ich nach bald 50 km das Ende der Agglomeration Riga und bin wieder richtig auf dem Lande mit dem Ziel Engure, wo es nach Führer ein Hotel haben sollte. Aber oha, wieder einmal nichts! Kein Mensch weiss, wo dies sein sollte, und nach einigen vergeblichen Versuchen beschliesse ich, weiter zu fahren, bis irgendwo ein Camping auftaucht.


Um 22 Uhr erscheint tatsächlich am Strassenrand eine Tafel mit Wegweiser in den Wald, ohne Distanzangabe. Nach 2 km auf holprigem Weg hört man Musik, irgendwo sind einige Hüttchen mit Ferienleuten, und diese verweisen mich auf das Cafe, wo ausser der lauten Musik alles ausgestorben scheint. Eine Wirtin gibt sich dann doch als Verwalterin zu erkennen und lässt mich auf der grossen Wiese meinen Platz wählen. Die Küche sei noch bis 23 Uhr offen! Also sofort Zelt aufstellen zum Trocknenlassen. Aber die Mücken fressen mich beinahe, und Antibrumm macht ihnen überhaupt keinen Eindruck. Da hilft nur noch das No-Bite, das eigentlich nur für Kleider gedacht wäre und das ich wegen den Zecken mitgenommen habe. Zu guter Letzt ist im Halbdunkel auch plötzlich das ganze Zelt mit Ameisen bedeckt: ich bin mitten auf einer Ameisenstrasse! Also nochmals zügeln, und um 5 vor elf kann ich endlich mein Nachtessen bestellen. An Duschen ist schon gar nicht mehr zu denken, schliesslich wäre dann ja auch das Mückenmittel weg, und mich selber stört ein bisschen Stinken nicht!


Tages- Bilanz: 88 km, 5.7 Stunden im Sattel und 3 Stunden Busfahrt




Donnerstag, 17. Juli

Ich erwache wieder einmal von einem sanften toc-toc: es regnet leicht. Um 8 Uhr hört es auf, und ich mache mich für die Weiterfahrt bereit. Zurück auf der Hauptstrasse aber zuerst noch einen Abstecher durch den Föhrenwald ans Meer: kein Mensch am Sandstrand, klares Wasser, also sofort ein Morgenband als Ersatz für die verpasste Dusche, und dann weiter Richtung Norden.


Hier hat es nun wenigstens in jedem Ort eine „Kafejnica“, wo man neben Kaffee auch einfaches, aber gutes Essen bekommt. Omeletten mit Speck und 2 Kaffee, alles für rund 5 Franken, geben die nötige Energie für die nächsten Stunden. Einen weiteren Schauer warte ich in Roja wieder bei einem Espresso ab, ein kurzes Nickerchen auf der Bank einer Bushaltestelle, und um 17 Uhr bin ich nach 90 km schliesslich an der Nordspitze Lettlands, am Kap Kolka, am Übergang vom offenen Meer zur Rigaer Bucht. Wegen der strategischen Bedeutung war bis zum Ende der Sowjetunion von hier bis Ventspils alles militärisches Sperrgebiet. Dank dieser Isolation konnte sich aber auch die Kultur der hier ansässigen Liven noch länger erhalten. Mangels Besuchern ist aber leider auch das entsprechende Museum über deren Kultur schon seit Jahren geschlossen.



Ein Sturm zerstörte 2006 einen grossen Teil der Vordünen und des Uferwaldes im Gebiet von Kap Kolka. Seither frisst die Erosion jedes Jahr einige Meter der Küste weg. Als Mahnmal und als Erosionsschutz wurden die vom Sturm entwurzelten Bäume belassen: eine eindrückliche Kulisse über die Kraft der Natur. Ich fahre noch 20 km auf Schotterstrasse nach Westen weiter und schlage das Zelt in Mazirbe auf einem schönen (fast leeren) Zeltplatz auf. Etwas Restaurant- ähnliches gibt es nicht, nur einen Laden, der noch bis 21 Uhr offen hat. Also selber kochen, wieder einmal Gerstensuppe mit Landjäger ( solange sie noch nicht verdorben sind !).
Tages- Bilanz: 89 km, 6.1 Stunden im Sattel.



Freitag, 18. Juli
Und weiter geht's auf dem Schotter... "Bei der ersten Kafejnica will ich Morgenessen!" Ein frommer Wunsch, denn es hat ganz einfach NICHTS! Nicht einmal ein Ort liegt am Weg. Statt dessen nur Schotter, auf dem ich mir so gut es geht einen Fahrspur suche.

Zudem wird die Strasse immer sandiger, und auf dem ganzen Weg bis Ventspils nur Gegenwind. Welche Erholung, als ich gegen 14 Uhr endlich den Stadtrand erreiche und nach wenigen Kilometern Asphalt wieder auf die schönen Verbundsteinstrassen einmünden darf. Ein Lob auf diesen Bürgermeister, der zwar wegen Korruption angeklagt ist, aber trotzdem wieder deutlich gewählt worden ist. Ich gäbe ihm meine Stimme auf jeden Fall heute ebenfalls! Zum dritten Mal geht's über die Eisenbahn- und Flussbrücken hinüber in die Altstadt und zum modernen Fähre-Terminal. Das Billet nach Saaremaa (Estland) kostet inkl. Velo 27 Lats, rund 60 Franken. Die Zeit reicht noch für ein verspätetes Frühstück in Form eines Steaks mit Gemüse. Bei den letzten Einkäufen treffe ich auf 3 Schweizer, die mit Mietvelos von Vilnius nach Tallin unterwegs sind und auch auf die Fähre warten.


Bei strahlenden Sonneschein geht es um 18 Uhr über die Venta-Mündung aufs offene Meer und in 4-stündiger Fahrt nach Möntu an der Südspitze der estnischen Insel Saare-maa. Von einem Camping ist dort aber weit und breit nichts zu finden, also sofort in die Pedalen und nordwärts. Gegen 23 Uhr dunkelt es langsam. Aus Sicherheitsgründen habe ich das Rücklicht montiert, aber es ist kein einziges Auto unterwegs. Bei den wenigen Häusern zwischen den langen Waldabschnitten ist alles dunkel, Dörfer hat es ohnehin keine. Schliesslich sehe ich durch die Bäume bei einem Haus noch Licht. Auf meine Anfrage bietet mir der Bewohner bereitwillig Platz auf seinem ausgedehnten Rasen und gibt mir noch Tips, wo es am wenigsten Steine hat. Auch hier kann ich unbesorgt das ganze Gepäck auf dem Fahrrad lassen und ruhig schlafen.


Tages- Bilanz: 90 km, 5.7 Stunden im Sattel und 4 Stunden Fähre im Sonnenuntergang



Samstag, 19. Juli

Da die Wetteraussichten nicht zu schlecht scheinen, beschliesse ich trotz 2 Tagen Ver-spätung, die viel längere Nordküste der Insel Saaremaa zu befahren und dafür in Leisi die Fähre zur Insel Hiiumaa zu nehmen, um so direkt nach Haapsalu auf das Festland zu gelangen.


Rund ein Drittel dieser 130 km langen Strecke ist Schotterstrasse, aber mit dem wenigen Verkehr ist dies oft angenehmer zu fahren als auf geflickten Asphaltstrecken. Verträumte Dörfer mit farbigen Holzhäusern, Ausblicke über die flache Küste mit den vielen kleinen Inselchen, in Kihelkonna eine riesige Kirche mit hohem rotem Kirchturm, der auch als Wahrzeichen für die Seefahrt diente.


In der Kirche aus dem 17. Jh. findet gerade eine Taufe statt, dazu improvisiert die Orgel ständig über ein bekanntes Kirchenlied. Also zum Schluss auf die Empore und näher schauen. Die Orgel ist Original aus dem Jahre 1805(!), wie eine alte Inschrift (deutsch) beweist. Man sieht und hört ihr das Alter an, aber mit Erlaubnis der Organistin probiere ich sie auch noch selber aus. Rund die Hälfte der Register funktioniert nicht mehr, und die Tasten klappern wie alte Knochen. Trotzdem ein Wunderwerk. Mit zwei deutschen Touristen besteige ich auf Aufforderung der Küsterin über wacklige Holztreppen auch noch den Turm mit Ausblick über das Vinlandi- Naturschutzgebiet mit Inselchen und Riedland. Bei uns wäre eine solche SUVA-widrige Besteigung aus Sicherheitsgründen absolut verboten. Die Aufforderung der Küsterin, als Organist doch auch eine Kopie des von der Organistin selber zusammengestellten Buches mit estnischen Kirchenliedern mitzunehmen, kann ich mit Hinweis auf mein schon genug schweres Gepäck ablehnen.
Ein erfrischendes Bad an der Steilküste bei Veere gibt wieder den nötigen Schwung für die Weiterfahrt, noch immer ohne den längst erhofften Kaffee. Dafür eine Begegnung mit Einheimischen, die sich in Tracht auf einen Tanzabend vorbereiten. Hier wird die traditionelle Volkskultur ( wie überall in den baltischen Staaten) sehr gepflegt und auch von den Jungen weitergeführt.

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Um 20 Uhr erreiche ich endlich Leisi, doch am Fährhafen ist (wieder einmal !) entgegen den Führern weder ein Camping noch ein Restaurant zu finden. Das Restaurant habe vor einem Jahr bankrott gemacht, erklärt mir ein Hafenarbeiter, und verweist mich dafür an ein B&B 5 km weiter, wo man auch zelten und essen könne. Also nochmals zurück! Nein, Essen sei nicht mehr möglich, erklärt dort der Chef, es sei zu spät, aber er sei gerade dabei, für seinen Familie Shashlik zu braten, ich können nach dem Duschen ebenfalls davon haben. Ein echter Genuss nach diesem langen Tag, dazu ein Bier, ein Zweites, beim Ausfüllen der Formulare ein Drittes, und als der Chef hört, woher ich komme, offeriert er mir gleich noch ein Viertes. Kein Wunder, dass sich das Gespräch mit ihm (ebenfalls beim Bier) noch in die Länge zieht, dann wegen schlafender Gaste auf dem Parkplatz weitergeführt und schliesslich erst in der Gartenhalle unter Mitwirkung weiterer Einheimischer und bei zwei weiteren Bieren gegen 1 Uhr morgens abgeschlossen werden kann. Aber ablehnen wäre wirklich unhöflich gewesen. Dazu kann ich mich schliesslich auch noch etwas weiterbilden und Informationen von der estnischen Sprache bis zur Bautechnik der Plattenbauten sammeln.
Tages- Bilanz: 130 km, 6.8 Stunden im Sattel.




Sonntag, 20. Juli

Trotz kurzem Schlaf geht es bereits um 8.30 Uhr wieder weiter, denn ich will vor der Fähre unbedingt noch die alten Windmühlen bei Angla besichtigen. Sie gleichen den holländischen Mühlen. Angeblich hatte im 17. Jh. fast jeder Bauernhof eine Mühle, und die Legende besagt, dass einige sogar wieder zerstört werden mussten, weil es nicht genügend Wind für alle Mühlen gehabt habe ( se non e vero, e ben trovato!).
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Nach dieser Extratour von 15 km erreiche ich um 09.30 gerade noch knapp die Fähre hinüber nach Söru auf der kleineren Insel Hiiumaa. Auf der Überfahrt treffe ich auch ein Schweizer Paar, das seit 1. Mai unterwegs ist: Donauradweg bis Bratislava, dann Slowakei, Ungarn, Polen, Kaliningrad, Litauen, Lettland, Estland, St.Petersburg, Moskau, und dann nach Süden Richtung Schwarzes Meer, ... am 1. Oktober auf jeden Fall wieder in der Schweiz. Hat jemand gesagt, ich sei ein Spinner mit meiner Reise ??? ...
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Auf ruhigen Strassen geht es nach einstündiger Überfahrt entlang der Südküste ostwärts zur Halbinsel Kassari. An deren Südspitze scheint das Land in einem immer schmaler werdenden Streifen langsam im Meer zu verschwinden, wie ein Bild in die Unendlichkeit. Vor allem aus der Luft ein eindrückliches Bild, wie Fotos zeigen. Hier sind nun wie schon auf Saaremaa und zuvor in Ventspils deutlich mehr Radtouristen unterwegs. Die meisten sind Deutsche, denn es gibt von Lübeck und Rostock aus direkte Fährverbindungen nach Ventspils, Riga und Tallinn. Aber auch viele Einheimische geniessen an diesem Sonntag die ruhigen Strassen dank den guten Fährverbindungen ab Haapsalu für einen Tagesausflug mit dem Rad. Die Fähre von Hellermaa nach Haapsalu um 16.30 ist den auch gestossen voll mit Autos, Cars, Motorrädern und Velos. Das Meer ist in diesem Gebiet sehr flach, und die grosse Fähre bewegt sich in Küstennähe auf engen Fahrrinnen. Wie mir der Chef des B&B am Vor-abend erzählt hat, konnte er vor 3 Jahren im Winter mit dem Auto über das Eis von Saaremaa über Hiiumaa bis nach Haapsalu und über die kleine Insel Muhu zurück nach Leisi fahren.
Kurz nach dem Hafen Rohoküla taucht am Strassenrand eine riesige Schlossruine auf. Ein Graf Ungern-Sternberg liess im 19. Jh. dieses Schloss als Kopie des Schlosse von Merseburg (Sachsen-Anhalt) bauen, um die Tochter des dortigen Grafen zum Umzug hierher bewegen zu können. Sie starb jedoch noch während der Bauzeit. Ungern-Sternberg starb ebenfalls kurz nach der Ferigstellung des Bauwerkes, ohne selber darin gewohnt zu haben. Auf seinen Wunsch wurde er aber nach dem Tod hierher gebracht, um wenigstens noch eine Nacht in diesem Schloss verbringen zu können. In den folgenden Jahren zerfiel das Schloss, die Steinen wurden zum Teil für andere Bauten verwendet.
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Haapsalu war Ende des 19. Jh. ein berühmter Kurort und Zentrum des ge-sellschaftlichen Lebens für russische, deutsche und baltische Nobelleute. Heute zeugen noch ein Kursaal mit Orchesterpavillon, alte Holzhäuser mit reich verzierten Giebeln sowie der alte Bahnhof mit dem angeblich längsten Bahnsteig Nordeuropas (213 m) davon. Alle Verzierungen in feinstem "Laubsägeli-Stil".
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Zentrum ist aber die gewaltige Burganlage mit dem Dom, der früher Bischofssitz und später Wehranlage war, die im Laufe der Jahrhunderte vom Ritterorden zu Schweden und zu Russland ständig die Besitzer wechselte. Ich nutze ein Open-Air Konzert des Rocksängers Dagö, zu dem praktisch die ganze Stadt strömt, für eine ausgedehnte Besichtigung. Gebratene Pelmeni ersetzen dafür das Nachtessen. Das Fahrrad mit dem gesamten Gepäck (ausser Zelt) darf ich allerdings erst nach ausgiebiger Kontrolle des Wachpersonals hineinnehmen. Um 23 Uhr fahre ich schliesslich zu meinem "Zeltplatz" am ausserhalb der Stadt zurück. Wie andernorts existiert auch hier der angebliche Zeltplatz (trotz noch vorhandenen Wegweisern) nicht mehr, aber ich darf das Zelt auf einer Wiese am Strand aufstellen. Ich bin ganz allein und höre nur noch einige mitternächtliche Badegäste im Meer spritzen und lachen.
Tages- Bilanz: 80 km, 5 Stunden im Sattel.


Montag, 21. Juli

Ich packe bereits um 7 Uhr das Zelt zusammen, denn heute möchte ich noch bis Tallinn fahren, um mein Programm wieder einzuhalten und auch das dort vorreservierte Zimmer nutzen zu können. Ein improvisiertes Zmorge auf der menschenleeren Promenade vor dem Kursaal zwischen kreischenden Möwen, schliesslich noch einen Kaffee mit feinem Süssgebäck an einem "Teele Kohvnik" (Strassenkaffee, und dann geht es weiter nordostwärts. Da es leicht zu regnen beginnt, erspare ich mir den Weg der Küste entlang und steche gleich landeinwärts Richtung Padise. Unterwegs mache ich dafür einige Abstecher in die "Leidisoo", ausgedehnte Wald- und Riedflächen unter Naturschutz.
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Bei der riesigen Kloster- und Burgruine von Padise (13. - 18. Jh.) stosse ich dafür wieder auf die 3 Schweizer von Ventspils, die am folgenden Tag ihre Fahrräder in Tallinn abgeben müssen. Die riesigen Mauern, Turmreste und halbzerfallenen Gewölbe sind die Reste eines Zisterzienserklosters aus dem 12. Jh. Die ursprünglich hier wohnhaften Mönche, welche das Land christianisieren wollten, wurden von den Esten im 13. Jh. verbrannt und das Kloster zerstört. Später wurde es allmählich von Schweden, Deutschrittern und Russen zu einer Militäranlage ausgebaut und mit Türmen befestigt. Gegenwärtig sind immer noch Restaurationsarbeiten im Gange.
Von Padise aus geht es über Nebenstrassen wieder der Küste entlang. Unterwegs eine Gedenkstätte an die Opfer des Holocaust mitten im Wald, schöne Aussichtspunkte an der bis 60 m hohen Steilküste und schliesslich in Keila-Jona auch noch der bekannte Wasserfall (ca. 8 m, aber etwa 40 m breit und wirklich schön).
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Estnisch ist dem Finnischen nahe verwandt und gehört mit dem Ungarischen zu den Indio-europäischen Sprachen (weder germanisch noch slawisch). Wie finnisch hat es extrem viele Vokale. Ortsnamen wie Vaeaena-Joesuu sind ein schönes Beispiel dafür.
Rund 15 km vor Tallinn wird das Radfahren zum Hochgenuss: Neben der richtungsge-trennten Strasse ein abgetrennter Rad- und Fussweg mit separaten Lampen! Der Weg wird denn gegen Abend auch von unzähligen Skatern benutzt. Durch moderne Vorstadtquartiere mit Bauten aus Holz und Glas sowie Einkaufszentren komme ich gegen 19 Uhr in das alte Stadtzentrum mit den vielen schlanken Kirchtürmen und den goldenen Kuppeln der orthodoxen Alexander-Nevskij-Kirche. Im City-Bike Hostel habe ich ein Zweier- Zimmer, in das ich auch gleich das Fahrrad nehmen kann. Waschen kann ich zwar nur, indem ich das Lavabo mit WC-Papier verstopfe, aber es geht auch so. Und um 21 Uhr endlich ab zu einem gemütlichen Nachtessen in einem traditionellen Kellerlokal. Wie an fast allen bisherigen Orten ist auch hier nach 22 Uhr praktisch alles ruhig und geschlossen. Nur am zentralen Platz in der Unterstadt herrscht noch Betrieb, so dass es hier noch für zwei gute Espressi reicht.
Am Dienstag steht dann ausgedehnte Stadtbesichtigung auf dem Programm, bevor es am Mittwoch auf die letzte Etappe Tallinn- Narva- St.Petersburg geht. Sicher wird da wieder einiges anders sein, aber besser kann es kaum werden: bis jetzt keine Panne, nur wenig Regen, angenehme Temperatur und überall gute Begegnungen ...
Tages- Bilanz: 141 km, 7.8 Stunden im Sattel.



Dienstag, 22. Juli

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Den Dienstag verbringe ich für einmal zu Fuss , aber auch so mache ich km um km . Jedenfalls bin ich am Abend rechtschaffen müde. Am Morgen mache ich zuerst eine gründliche Veloreinigung, was nach den vielen Fahrten in Kies und Sand kein Luxus ist. Auch die Kette kann ich hier beim City-Bike, zu dem das Hostel gehört, gleich noch gründlich ölen. Mein Aarios wird von den Fachleuten übrigens gebührend geschätzt und bewundert. Nachdem ich auch noch meine Sachen nach der Wäsche gründlich neu geordnet habe, geht es los auf Sightseeing-Tour. Die Stadt ist fast wie ein Freiland-Museum: Eine praktisch intakte Altstadt (die älteste Stadt Nordeuro-pas, z.T. aus dem 14. Jh.): überall schöne Häuser mit ganz unterschiedlichen Fassaden, dazwischen prächtige Kirchen. Vom Turm der Olav-Kirche ( 250 Stufen,) hat man eine wunderbare Aussicht über die Stadt und das Meer. Mit halb so viel Touristen wäre es noch viel schöner, aber ich bin ja schliesslich auch einer von diesen. Zur Abwechslung dann etwas aus der neueren Zeit: der russische Markt hinter dem Bahnhof. Hier ist von alten rostigen Schrauben über ganze Kalbs-köpfe und frische Beeren bis zu Pelzmänteln einfach alles zu haben! Leider gibt es in den vielen Souvenirshops in der ganzen Stadt fast überall nur Bernstein und sonst nichts, das sich zu kaufen lohnte.
Bei der Alexander-Nevskij-Kathedrale (orthodox) gibt es fast kein Reinkommen. Alles ist voll Touristengruppen von Cars und Kreuzfahrtschiffen. Den Nachmittag verbringe ich deshalb vorwiegend im sehr eindrücklichen Okkupations-Museum, das die Zeit der deutschen und russischen Besetzung beeindruckend mit Film- und Tonmaterial dokumentiert. Nach drei Stunden und nur der halben Besichtigung bin ich aber zu müde und muss den Besuch abbrechen. Nach weiteren langen Streifzügen mit unendlich vielen Schnappschüssen gehe ich am Abend in den modernen Teil der Stadt zum Essen. Die Erbsensuppe mit Speck (eigentlich eher einen Gerstensuppe), ist ausgezeichnet und gilt hier als Spezialität, ebenso wie das Rindsplätzli (statt Speck) mit Heringstreifen darüber und Kartoffeln mit rohem Gemüse. Kartoffeln, Gurken und Tomaten gehören hier praktisch zu jedem Menü.
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Zum Schluss des Abends heisst es wieder Packen für die Weiterfahrt. Leider ist das Wasser unterbrochen, so dass ich weder Zähne putzen noch Wäsche spülen kann. Als Ersatz stehen einige Flaschen Mineralwasser bereit, aber zum Duschen eben doch eher weniger geeignet. Nach der Stadt freue ich mich wieder, mit einem neu geölten Velo aufs Land hinaus zu können. Die nächsten Tage sollten ja in eher kürzeren Etappen durch den Lahemaae- Landschaftspark an der Küste führen. Der Wetterbericht ist auch recht gut, so dass mich ein Genuss erwartet.


Mittwoch, 23. Juli
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Die Ausfahrt aus Tallinn ist denn auch ein wirklicher Genuss: einmal mehr wunderbare Radwege abgetrennt vom grossen Verkehr, dann auch eine wunderbare Aussicht auf die Bucht von Tallinn mit den wartenden Kreuzfahrtschiffen vor der Kulisse mit den vielen Türmen der Stadt. Die Vororte wieder mit modernsten Häusern aus Glas, Holz und Beton. Ein kurzer Halt am 213 m hohen Fernsehturm, wo im August 1991 ein blutiges Ende des friedlichen Widerstandes gegen die russ. Besatzung durch die Be-fehlsmissachtung durch den damaligen russ. General Dudajev (später 1. Präsident Tschetscheniens und als solcher wiederum von den Russen mit einer Sprengladung umgebracht) vermieden werden konnte. Leider ist er momentan für Besucher nicht zugänglich.
Schon bald ist es vorbei mit dem Vergnügen: Nach dem Industrieort Maardu bin ich ge-zwungen, 8 km auf dem Pannenstreifen der Autobahn Richtung Russland zu fahren, bis ich endlich wieder auf ruhige Provinzstrassen ausweichen kann. Hier kann ich nun die weiten Felder, die Wälder und das Meer im Lahamaae- Landschaftspark (eine Art Biosphäre) geniessen. In Jaegala beeindruckt der breiteste Wasserfall (ca. 70 m, aber nur 9 m hoch), wo der Fluss (eher ein grösserer Bach) nach einer total flachen Kalkplatte wie abgeschnitten hinunterfällt.
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Das Wasser hat allerdings eher eine Gülle-Farbe, wie übrigens die meisten Bäche hier. Eigentlich wollte ich in Loksa zelten, da es gemäss Karte ein grösserer Ort zu sein scheint. Aber ausser einem kleinen Laden gibt es schlicht nichts, weder Camping noch Hotel noch Kaffee. Also nochmals 25 km weiter, z.T. auf Schotterstrassen, und in Voesu finde ich sogar einen Platz für Wohnwagen mit entsprechender Infrastruktur. Statt Dusche gleich ein Bad am Sandstrand. Als Nachbarn habe ich ein Radfahrerpaar aus Hannover, das in 4 Monaten über Dänemark, Südschweden und Finnland nun von Petersburg hier angekommen ist und mir noch einige nützliche Infos geben kann.
Tages- Bilanz: 121 km, 6.5 Stunden im Sattel.



Donnerstag, 24. Juli

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Heute geht's wieder etwas ins Landesinnere, denn ich will den Landsitz in Sagidi besu-chen. Das übertrifft schlicht alle Erwartungen: Mitten in diesen halbwilden Feldern ein prächtiger Herrschaftssitz aus dem beginnenden 19. Jh. im typischen Hellgelb des balti-schen Spätbarock, alles symmetrisch, etwa 30 Räume, daneben ebenfalls symmetrisch die früheren Stallungen und Lagerhäuser, und dahinter ein Park mit Teich und Gartenanlagen. In einem der Nebengebäude auch das estnische Forstmuseum, denn das Ganze steht unter Verwaltung des Forstamtes (das wäre doch etwas für das lawa!). Ähnliche Landsitze des früheren (meistens deutschen) Landadels finde ich in der Folge noch mehrmals. Die meisten sind oder werden momentan aufwendig restauriert und zum Teil als Hotel genutzt.
In Vainupea bin ich wieder an der Küste. Von den Dörfern hier wurde in den 20-er Jahren während der Prohibition in Finnland vor allem massiv Alkohol hinübergeschmuggelt, weshalb die Häfen hier auch als «Freundschafts- Häfen» bekannt wurden.

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Je weiter nach Osten, umso grösser der Anteil der russischsprachigen Bevölkerung. Aber es sind auch die Gebiete, in denen zur Zeit der Sowjetunion die Industrie gefördert worden war, heute weitgehend still liegt und vielerorts Schäden an Natur und Landschaft zurückgelassen hat. In Kunda dominieren die Kamine der Zementindustrie neben dem einzigen noch erhaltenen Flaschenofen Europas (Zement-Herstellung). Neben den leerstehenden Fabriken aus russischer Zeit stehen auch neue Fabriken der Holcim und anderer westlicher Unternehmungen. In einem trostlosen Quartier finde ich ein Guesthouse mit einfachem Restaurant. Ja, Espresso gebe es! Nach einer Viertelstunde allerdings folgt der Bescheid, die Maschine funktioniere nicht; wahrscheinlich war sie diese Jahr noch nie Betrieb. Aber schliesslich reicht auch Filterkaffee, um etwas auszuruhen.
Vina-Nigula wieder abseits der Küste bietet eine prächtige Kirche aus dem 13. Jahrhun-dert mit einem wohl fast so alten verzierten Harmonium und vielen runden Grabsteinen aus dem frühen 17. Jh. auf dem benachbarten Friedhof.
Aseri wäre eigentlich mein heutiges Etappenziel, da es gemäss Karte ein grosser Ort sein sollte, also sicher mit etwas ähnlichem wie Hotel oder Campingplatz. Alles nichts: eine Ansammlung von typisch russischen Wohnhäusern, die meisten leer und mit kaputten Fenstern, irgendwo aber doch ein «Magasin», wo ich wenigstens wieder Essen und Trinken kaufen kann. Von einigen jungen Männern erfahre ich, dass es hier nur noch 2 Backsteinfabriken gibt und mehr als die Hälfte arbeitslos sei. Viele Russen seien in den letzten Jahren deshalb auch wieder weggezogen, die meisten zurück nach Russland.
Nach weiteren 12 km auf der Schnellstrasse suche ich in Purtse wieder der Euro-Radweg Nr. 1 und finde stattdessen ein von den Schweden im 17.Jh. erbautes Schloss. Ein Feldweg führt auf einen kleinen Hügel, vielleicht ist dort der Radweg ans Meer? Der metallene kleine Glockenturm und die estnische Fahne sind das Denkmal zur Erinnerung an die Opfer zur Zeit der Sowjetunion: 280'000 Menschen wurden deportiert, 78'000 kamen in Sibirien ums Leben ... . Für jede Region Estlands steht ein Baum mit der Anzahl der Opfer aus diesen Orten. Die schöne Aussichtslage lädt aber auch zum Campieren ein, und so stelle ich ganz am hinteren Rand neben einem Getreidefeld mein Zelt auf und koche mir meine Suppe mit Landjäger (die Letzten!). Ein Bier dazu habe ich mir noch rechtzeitig unterwegs gekauft, so dass ich all das beim schönsten Sonnenuntergang geniessen kann. Als kleine Referenz bringe ich schliesslich auch noch zwei vorhandene Grabkerzen am Denkmal wieder zum Brennen, von denen die eine sogar beim Wegfahren am nächsten Morgen noch brennt.
Tages- Bilanz: 96 km, 5.7 Stunden im Sattel.
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Freitag, 25. Juli

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Offenbar war mein Zelten an diesem Erinnerungsort kein Verstoss, denn ein alter Mann, der am Morgen gerade vom Einkaufen hier mit seinem Fahrrad vorbeikommt, gibt mir äusserst freundlich Auskunft, wie ich am besten weiterfahren soll. Der Weg auf Schot-ter- und Feldwegen ist ziemlich gut markiert. Trotzdem lande ich plötzlich vor einer ein-samen Baustelle am Meer, also wieder retour auf das rund 50 m höher liegende Plateau. Schliesslich folgen wieder ruhige Landstrassen mit wunderbaren Ausblicken auf die Finnische Bucht hinaus. In Valeste schaue ich mir den höchsten Wasserfall von Estland an: 56 m hoch, aber eigentlich nur ein Bächlein, dass hier über den Rand des Kalk-Plateaus in den Uferwald hinunterstürzt. Dafür wurde zur Besichtigung eine gewaltige Metallkonstruktion mit Wendeltreppen und Brücke erstellt, alles in den bröckligen Kalkfelsen befestigt. Ich verlasse mich darauf, dass es ja schon einige Jahre gehalten hat und wohl auch nicht gerade in diesem Moment den Dienst versagen wird.
10 km weiter folgt ab Voka die wohl schlimmste Schotterstrecke von ganz Estland: loser Brechschotter wie frisch ab Werk, mit den breiten Reifen und bei äusserster Konzentrati-on gerade noch knapp fahrbar. Dazu endet der Weg vor Sillamaae, weil genau im Trasse eine neues Tanklager gebaut wird, also über einen mit Abbruchbeton befestigten Feldweg an die Hauptrasse zurück!
Sillamaae ist wohl einer der verrücktesten Orte an der Strecke: die Stadt war unter den Russen geheim und weder auf einer Karte vermerkt noch mit einer Postadresse versehen. Hier war ein Zentrum der Nuklear- und Chemietechnik. Damit es den Mitarbeitern aber gefiel, wurde sie 1948 wie eine klassische russische Kleinstadt erbaut: schmucke Häuser in gelb und weiss, ein klassizistischster Kulturpalast, und am Hauptplatz auch noch ein schmuckes Ratshaus im Barockstil, denn nach Auffassung der Architekten hatten alle Städte in Nordeuropa und im Baltikum ein Ratshaus mit Turm und Uhr in ähnlichem Stil. Dass diese Missachtung des damals geltenden Ideals unter Stalin möglich war, ist sogar Historikern kaum erklärbar. Die Stadt macht auch heute noch einen sehr gepflegten Eindruck, und ausserhalb des hist. Kernes dominieren riesige Wohnblocke aus den 80-er Jahren und ein äusserst modernes Einkaufszentrum neben dem traditionellen russischen Markt. Offenbar hat man hier den Übergang besser geschafft als in anderen Städten.
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Vor dem heutigen Etappenort nochmals ein Badestopp an schönem Sandstrand, und dann halte ich Ausschau, wo in Narva- Joesuu eine Möglichkeit wäre für mein Zelt. Es ist zwar ein grosser Badeort mit vielen Touristen, aber kein Campingplatz. Von den Möglichkeiten Stadtpark oder Föhrenwald in den Dünen wähle ich letztere und schlage mein Zelt nach einem Nachtessen in einer Beiz um 21.30 Uhr am inzwischen einsamen Strand auf.
Tages- Bilanz: 97 km, 6.2 Stunden Sattel.
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Samstag, 26. Juli
Nach einem Zmorge-Müesli an der Narva-Mündung geht es dem Grenzfluss entlang aufwärts nach Narva.
[img]https://lh5.googleusercontent.com/-pZWBzPN9Jx8/SRXhWTZ2taI/AAAAAAAADAo/RDrvqChEv3U/s128/DSC01504.JPG[/img] Das Gebiet ist äusserst geschichtsträchtig: die letzten Kilometer vor Narva stosse ich auf einen sowjetischen Panzer auf einem Podest zur Erinnerung an die Überquerung der Narva im Herbst 1944, dann an ein Denkmal zur Schlacht von 1700 zwischen Carl XII von Schweden und Peter dem Grossen von Russland, dann an ein Denkmal an den Unabhängigkeitskrieg 1918-1920 und schliesslich auf einen deutschen Soldatenfriedhof. Narva selbst wird dominiert von der gewaltigen Hermanns-Festung, die im 13. Jh. von den Dänen erbaut worden war und später als befestigtes Kloster unter dem Livländischen Orden ausgebaut wurde. Nach der weitgehenden Zerstörung der Stadt im 2. Weltkrieg wurde die Festung originalgetreu wieder aufgebaut und beeindruckt als mächtiges Gegenstück zur auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses liegenden und ebenso alten Festung Ivangorod.

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Ich wechsle die noch verbliebenen estnischen Geldscheine (es gibt fast nur Papiergeld) in Rubel und zwänge mich mit meinen Saccochen am Velo durch den Fussgängerzoll auf die Narva-Brücke. Ausser dem Ausfüllen der Formulare geht auch auf russischer Seite alles einwandfrei. Ivangorod ist relativ klein, und so mache ich mich nach dem Kauf einer russischen Touristenkarte für die Strassen bis St.Petersburg gleich auf den Weiterweg. Schnurgerade, breite Strassen, wenig Verkehr, also los nach Kingisepp, der ersten Stadt an der Strecke nach St. Petersburg. Es ist auffallend, wie auch hier wie schon in Kaliningrad, teilweise auch in Polen, die Leute wieder positiv auf Velotouristen reagieren und sich auch immer über das Wer und Wie und Wohin erkunden. In den baltischen Staaten waren die meisten Leute absolut gleichgültig und erwiderten auch kaum je einen Gruss.
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In Kingisepp, gibt es zwar irgendwo ein Camping, aber um 18 Uhr ist es mir noch zu früh, und so beschliesse ich nach einer Kirchenbesichtigung und Kaffee-Halt, auf der Hauptstrasse nochmals weiter zu fahren um dann Richtung Norden auf Nebenstrassen auszuweichen. Hier bin ich nun wirklich in tiefster Provinz: von den wenigen Dörfern sieht man meistens nur einige kleine Häuschen hinter verwilderten Gärten, irgendwo kläfft immer ein Hund, und Menschen sieht man kaum. Die Jungen sind weg in die Stadt, hier leben meist nur noch die Alten.
[img:left]https://lh5.googleusercontent.com/-mFknPfyFFuo/SRXhgzyMNNI/AAAAAAAADBk/En3e_bnDvkM/s128/DSC01535.JPG[/img] [img:right]https://lh5.googleusercontent.com/-g79qOhKRXes/SRXhtUuGSsI/AAAAAAAADCU/roFLzg4z5GE/s128/DSC01572.JPG[/img] Kotly, rund 20 km nördlich, dürfte vielleicht wieder eher zum Übernachten sein? Falsch, hier gibt es zwar einige Plattenbauten, aber nach Auskunft einer alten Frau weder Hotel noch sonstige Gaststätte, und Camping sowieso nicht. Ich schaue unterwegs immer links und rechts der Strasse, ob es günstige Stellen gibt, wo ich das Zelt aufstellen könnte, ohne gleich von jedem Autofahrer zu später Stunde entdeckt und allenfalls heimgesucht zu werden. Am Dorfende entdecke ich die in der Karte besonders erwähnte Kirche, der Turm mit Holzlatten eingerüstet, dass man die Mauern kaum mehr sieht. Eigentlich wäre die Wiese neben der Kirche nicht schlecht für die Nacht. Ich frage die zwei jungen Männer, die im Holzschuppen nebenan an den Autos herumwerken, ob das wohl erlaubt sei, falls ich am frühen Morgen schon wieder alles abgeräumt hätte. „Ja-aa, aber um halb acht sei hier Gottesdienst“. Auf meine Zusage, bis dann verschwunden zu sein, haben sie nichts dagegen, und ich stelle das Zelt im hinteren Teil zwischen Kirche und einigen verwilderten Gräbern auf. Die Männer kommen beim Weggehen um 10 Uhr noch kurz vorbei und fragen, ob es denn so nicht zu kalt sei. Kaum sind sie weg, fährt das Auto nochmals heran, und der eine der Männer mit langem Zopf und schütterem Bärtchen fragt mich, ob ich nicht noch die Kirche besichtigen möchte. Ja, gerne, aber .... Es ist der Pope (Pfarrer) des Ortes, und voll Stolz erklärt er mir das Gebäude und seine Geschichte sowie die laufenden Renovationsarbeiten. Im Übrigen sei der Platz sehr ruhig für die Nacht, - nur da vom einen Haus hinter den Gräbern sei es manchmal etwas laut (?). Ich koche auf der Treppe mein Nachtessen und gehe dann mit nochmaligem Gottessegen des Popen schlafen.
Tages- Bilanz: 87 km, 5.5 Stunden im Sattel.


Sonntag, 27. Juli

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Die vergangene Nacht hat ruhig begonnen, aber so gegen 2 Uhr erwache ich von lautem Bumm-bumm: das besagte Haus ist offenbar ein Treffpunkt der Nachtschwärmer in diesem Kaff, und so tönt es aus einem übersteuerten Lautsprecher schliesslich bis halb sechs morgens. Dann übernehmen die kläffenden Hunde die Ablösung. Also kein Problem, rechtzeitig aufzustehen und vor halb acht weiterzufahren!
Die Gegend wird allmählich hügelig, die Strasse schlechter, aber das ist erst der Anfang. Nach rund 20 km gibt es bald nur noch die Wahl zwischen Löchern und Flicken im As-phalt, wobei die Löcher ohne weiteres mal 15 – 20 cm tief sein können: schlimmer als jede Pflasterstrasse in Polen, und dies schliesslich nochmals rund 25 km weit, zum Teil noch mit Steilstrecken von 15% und Gegenwind. Wenn selbst die Russen mit den Autos nur noch im Schrittempo fahren, weil gleich die ganze Strassenbreite gleich schlimm ist, dann kann es kaum schlimmer werden. Kein Wunder, dass bei dieser Schüttelei während einer Abfahrt auch die Flasche aus der Halterung gefallen ist, was ich erst beim Mittagshalt vor einem verlotterten Magasin und zwischen herumspazierenden Geissen merke. Die bessere Strasse direkt nach Norden ans Meer kann ich aber nicht wählen, denn dieses Gebiet ist für Ausländer und einige Teile davon sogar auch für Russen militärisches Sperrgebiet.
[img]http://lh4.ggpht.com/_lIpNSetHS0c/SRXjOmiAjFI/AAAAAAAADJA/0_3-hOGs1Qg/s640/DSC01700g.JPG[/img] Erst ab Gostinizi wird es besser, und hier beginnt auch schon das Ausflugsgebiet der Petersburger, was sich in deutlich zunehmendem Verkehr äussert.
Echt kaputt komme ich schliesslich gegen 17 Uhr in Petrodvorez an, das heute auch auf russisch wieder Peterhof heisst. Zum Glück und mit einiger Hilfe finde ich endlich einen funktionierenden Bancomat, da ich nur noch über 70 Rubel (2.80 Franken) Bargeld verfüge. Das Hotel Samson direkt gegenüber dem Prachtpark von Peterhof bietet mir nach den vielen Zeltnächten die dringend nötige Erholung. Aber zum Abschluss des Tages erlebe ich noch das Russland der «Novy Russky»: im Garten läuft eine Party mit Live-Konzert russischer Opern-, Folks- und Schlagermusik für eine geschlossene Gesellschaft, und als Abschluss ein Feuerwerk von gut 20 Minuten Dauer, und dies um 8 Uhr, als es noch taghell ist und man vom Feuerwerk vor allem die unzähligen Rauchwölkchen am blauen Himmel sieht. Auf dem Parkplatz stehen unendlich lange «Hummer» bereit für die Rückfahrt nach Petersburg. Die Erinnerung an die Frauen, welche vor dem Markt in Kaliningrad Plastikbeutel und Blumen zum Kauf anbieten oder die Männer in den verlassenen Dörfchen, die den Sonntagnachmittag mit einer Flasche billigen Bieres verbringen, macht bewusst, wie weit die Gesellschaft hier auseinander fällt!
Tages- Bilanz: 99 km, 6.2 Stunden im Sattel.


Montag, 28. Juli
[img]http://lh5.ggpht.com/_lIpNSetHS0c/SRXiaUhO2pI/AAAAAAAADFg/ghCvZuDNccY/s128/DSC01748a.JPG[/img] [img]http://lh5.ggpht.com/_lIpNSetHS0c/SRXjWRTOdkI/AAAAAAAADJg/qof6_c_r8es/s128/DSC01800b.JPG[/img]
Den Morgen nutze ich noch für einen ausgedehnte Besichtigung von Schloss und Park Peterhof. Hier zeigt sich der Glanz des Zarenreiches in seiner ganzen Pracht: Schloss und Park können wohl nur mit Versailles verglichen werden. Überall mit Alleen verbundene Brunnen und Teiche mit goldfarbenen Statuen, in der Mitte der 2-stöckige, ebenfalls streng symmetrische Palast italienischer Architekten des 18. Jh. Und überall im Park wieder kleinere Schlösschen, Orangerien, Badehäuschen. Der ganze Komplex wurde im 2. Weltkrieg von den Deutschen weitgehend zerstört, aber seit den 50-er Jahren wieder allmählich instandgestellt. Einige der Statuen hatten die Russen bei Kriegsbeginn durch Vergraben retten könne, das meiste sind aber neue Kopien. Sämtliche Räume sind gemäss ursprünglichem Gebrauch wieder möbliert und voller Spiegel und mit Goldornamenten verzierten Gemälden und Fenstern. Und fast alles kann gratis besichtigt werden.
Um 3 Uhr starte ich schliesslich zur letzten Etappe meiner Tour. Sie verspricht trotz kur-zer Strecke happig zu werden, denn nun gibt es nur noch die meist 4-spurige Hauptstrasse, auf welcher PW's, Busse und Lastwagen vorbeidonnern. Zum Glück habe ich den Rückspiegel, so dass ich beim Herannahen eines Kolosses immer noch schnell auf das Bankett ausweichen kann. Ich bin froh, wenn es dank Rotlicht wieder einmal eine Verschnaufpause gibt und ich mit Volltempo die Fahrbahn nutzen kann. Gegen die Vorstädte hin ziehe ich aber sicherheitshalber doch Fusswege durch die ausgedehnten Parkanlagen vor, bevor ich wieder in den Verkehr hinein gezwungen werde. Eine Ansammlung 10- bis 25- stöckiger Wohnblöcke und klapprige Trams kündigen die Grossstadt St. Petersburg an. Zuerst geht es aber wieder durch teilweise verlotterte Industriegebiete mit Strassen voller Schlaglöcher, wo ich eher glaube, wieder aufs Land hinaus zu fahren. Nur der Verkehr wird hier gegen Abend immer dichter. Neben den Autos gilt es auch immer noch den zu tief liegenden Schachtdeckeln oder den bis 3 cm über die Oberfläche ragenden Tramschienen auszuweichen. Glücklich stehe ich kurz nach 5 Uhr schliesslich vor dem Baltijsker Bahnhof und finde den Weg zum Hotel Azimut, ein 18-stöckiger Kasten aus den 70-er Jahren, wohl früher das Intourist-Hotel. Da ich nun das Velo für den Heimflug rüsten muss, mache ich aber zunächst noch eine Rundfahrt ins Zentrum mit kurzer Besichtigung des Gebietes um den Winterpalast und der Neva.
Und um halb acht schliesslich: Hotelbezug, Velo auseinander nehmen und in die mitgenommene Tasche verpacken, Duschen, und nun nur noch 3 Tage die Stadt geniessen!
Tages- Bilanz: 39 km, 2.8 Stunden im Sattel.

Dienstag, 29. Juli
Am Abend komme ich erst um halb zwölf nach einem langen Fussmarsch von einer phantastischen „Schwanensee“-Vorführung heim. Ich war wohl zum ersten Mal überhaupt in einem Ballett, aber es war gerade so eine Gelegenheit und dazu eine eindrückliche Atmosphäre. Es dauerte mit 2 Pausen von 8 - halb 11 Uhr. Nun bin ich recht kaputt von all den Besichtigungen: Mittlerer Abschnitt des Nevskij-Prospekts, Siegespark am Südrand der Stadt und dann das Aleksander-Nevski-Kloster, dazu x Kilometer spazieren entlang der Prachtstrassen und der Kanäle. Morgen konzentriere ich mich dann auf den Winterpalast und das Gebiet an der Neva. Für einen 2. Besuch gemeinsam bleibt auf jeden Fall noch viel offen! Jetzt ist doch endlich ein PC frei geworden! Zum Glück habe ich den i-pod, da geht das Warten viel einfacher.
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Mittwoch, 30. Juli
Petersburg kann man kaum beschreiben, man muss es selber erleben! Heute mache ich neben einer Stadtrundfahrt wieder Kilometer um Kilometer zu Fuss und klappere wohl das halbe Zentrum von St. Petersburg ab. Dafür lasse ich alle Museen weg. Man könnte ständig fotografieren. Zu Hause muss ich dann zuerst einmal gründlich Photos misten. Zum Abschluss besuche ich noch in der Jazz Philharmonic Hall ein Dixiekon-zert, sehr gut, vor allem auch der Banjo-Spieler. Morgen mach ich dann das Gepäck bereit und nochmals einen kurzen Rundgang. Auf halb 2 Uhr habe ich einen Taxi zum Flugplatz, von wo ich um halb 4 über Warschau nach Zürich fliegen werde.
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Zum Schluss
Rund 2'300 km von Swinouijcie nach St. Petersburg, davon rund 100 km. Ausflüge, Umwege, Irrfahrten, etwa 250 km Schotter und Sand, 4 km Wiese und gar nichts, 100 km Schlaglöcher, ....
Von allem etwas, aber trotz allem total gut: schöne Landschaften, interessante Orte, nette Begegnungen, fast immer gutes Velo-Wetter, und am wichtigsten: keine Unfall, keine Pannen! Da muss man ja zufrieden sein!!!
Und schliesslich freue ich mich nun doch auch auf die Heimkehr am Donnerstag: Ruhe, den (hoffentlich nicht verwilderten) Garten geniessen, wieder einmal einen frischen kna-ckigen Salat, ein gutes Glas Wein statt schon wieder Bier, und vor allem ein glückliches und dankbares Heimkommen zu lieben Menschen.
Nutze die Zeit, denn die Welt ist schön !
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#725458 - 05/27/11 10:53 AM Re: Baltikum: von Swinemünde nach St.Petersburg [Re: Paarios]
SuseAnne
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vielen Dank für den schönen und anregenden Bericht!

Suse
Bitte die bestellten Buffs rasch bezahlen. Treffpunkte für die über mich laufenden Raum Stuttgart-Sammelbesteller werden demnächst bekanntgegeben!
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#730505 - 06/12/11 10:49 PM Re: Baltikum: von Swinemünde nach St.Petersburg [Re: SuseAnne]
Quiros
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Was fur ein tolles Bericht. Danke!
lG
quiros
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