Die Idee kam mir während der Planung meiner Südamerika-Reise: Ich sollte vielleicht einfach mal mit der hispanischen Kultur und damit auch der Sprache in Kontakt kommen. Hautnah, ohne Lehrer, ohne Hilfsmittel.
Außerdem sollte die iberische Halbinsel ja auch landschaftlich einiges zu bieten haben. Um es vorweg zu nehmen: Das tut sie! Und nicht nur landschaftlich, sondern auch menschlich. Und tierisch.
Normalerweise fliege ich seit einigen Jahren im Frühjahr ins Rad-Trainingslager nach Mallorca, um Kilometer zu sammeln für die Triathlon-Wettkämpfe des Sommers. 2011 ist für mich ein wettkampffreies Jahr, jedenfalls, was große und persönlich bedeutende Wettkämpfe angeht. Das soll jetzt nicht die Bedeutung der Landesliga in Bokeloh oder Hannover-Limmer schmälern.
Na ja, jedenfalls wollte ich das Kilometersammeln mal geruhsamer angehen und mit kulturellen Eindrücken verbinden. Mal was anderes sehen, würden die meisten sagen.
Und ich hatte noch Resturlaub aus 2010 und genügend Überstunden, so dass ich knapp vier Wochen deutsche Frühjahrskälte durch südeuropäische Sonne ersetzen konnte.
Einmal quer über die Halbinsel – vom Südwesten in den Nordosten, von Faro nach Barcelona. Und wenn ich schon mal da bin: Auch den südlichsten Zipfel Kontinentaleuropas besuchen (vernachlässigen wir jetzt mal ein paar italienische, spanische und griechische Inseln), mal rüberschauen nach Afrika.
Und – last but not least wollte ich den ultimativen Reiserad-Test absolvieren: Mit einem ungefederten Randonneur mit Rennradgeometrie und Gepäck reisen, mit dem Trecker der Alaska-/Kanada-Reise vergleichen. Fazit: Mein Randonneur heißt jetzt Rosinante und ist mein absoluter Reisefavorit für Extremlangreisen. Verdammt schnell, direktes Steuer- und Wegegefühl und absolut zuverlässig. Außerdem sieht Rosinante verdammt gut aus.
Vorbereitung:26.3.2011Arbeit, Familie, Freunde, Sport, Umzug, neue Wohnung – alle(s) unter einen Hut zu kriegen, war echt schwer die letzten Monate. Kurz: Ich bin urlaubsreif.
Ich muss heute unbedingt mein Reiserad aufbauen – es steht noch im Keller, eingepackt so wie ich es im Januar geschickt bekommen habe. Ich sollte wenigstens einmal eine 50-km-Probefahrt gemacht haben, einmal die Gepäcktaschen drangehangen haben oder?
Herrje, dieser Stress bringt mich noch zur Verzweiflung.
Aber heute habe ich mir echt ein Zeitfenster für’s Basteln eingerichtet, allen abgesagt.
Und dann macht das ja auch Spaß – ein erstes Urlaubsgefühl kommt auf.
Ich öffne den Karton, um mein Edelrad erstmalig unter die Lupe zu nehmen: Okay, das ist jetzt also die größte Investition, die ich je in ein Fahrrad tätigte. Idworx-Titanrahmen, Syntace-Komponenten, Rohloff, SON, Edelux, Tubus – alles vom Feinsten und sauberst verarbeitet. Die Details sind wirklich bemerkenswert. Aber: Was soll denn dieser häßliche Kasten um die Kette? Als Purist stört mich das Ding, mir fehlt jedoch die Zeit, es abzubauen. Zu eng ist die Zeit bis zum Abflug getaktet. Na ja, und wenn die Idworx-Leute angeblich das perfekte Rad gebaut haben und der Kasten da dran ist, dann lass ich’s erstmal: Mal sehen…
Na ja, Normal-Lenker und verstellbaren Vorbau runter, Randonneur-Lenker und 120er Starrvorbau rauf. Da ich den Kocher zuhause lasse, baue ich noch den vorderen Gepäckträger ab. Für den Abbau der Beleuchtungskomponenten habe ich auch keine Zeit mehr.
27.3.2011Probefahrt: 70 Kilometer die Standardrunde durch Hannovers Stadtwald, an den Kanälen entlang und zurück nach Linden. Ich habe das Gefühl, das Rad passt. Die Skepsis über den Terry-Sattel legt sich auch erstmal. So kann’s bleiben.
29.3.2011Ich suche und packe und suche und packe und suche und suche… und kaufe und packe und suche und packe. Den Vorabend-Check-In, den ich mit dem Fahrrad gern zur Beruhigung hingekriegt hätte, platzt, weil ich noch nicht fertig bin.
Dann eben um 3:45 Uhr statt um 4:15 Uhr aufstehen. Zum Glück fährt die erste S-Bahn früh genug.
Gegen 23 Uhr liege ich im Bett – alles gepackt und schon in den Keller gebracht.
Reisestart:30.3.2011Aufstehen, zum Flughafen, Check-In, hinsetzen, Anspannung fällt ab. Um sechs steige ich in eine fliegende Gummibärchentüte, setze mich, stecke mir meine Oropax-Autistenstöpsel rein, schließe die Augen und nicke ein. Der Flug verläuft normal, diese ganze Werbescheiße kriege ich nicht mit, Tomatensaft mit Salz und Pfeffer auch nicht und auf das labberige Brötchen verzichte ich auch liebend gern – wissend, dass in Portugal jetzt schon ein café con leche und ein frisches croasán auf mich warten.
Und mittlerweile bin ich wählerisch bei dem, was ich in mich reinlasse: Der Genuss wirkt direkt auf meine Seele und die Inhaltsstoffe auf meine Gesundheit. Was für’n Schwachsinn: Da fressen und saufen die Menschen den letzten Schrott, nur weil es ihn „umsonst“ gibt oder weil sie meinen, sie hätten ja bezahlt und es stünde ihnen zu. Na ja, ich bin eben anders und das ist gut so. Die Stewardess ist jedenfalls erstaunt, als ich ablehne. Und mein Nachbar auch.
20 Grad, blauer Himmel, Sonne steigt gerade am Morgenhimmel hoch. Um neun Ortszeit verlasse ich den Flughafen in Faro.
Jetzt flattert die Seele im Fahrtwind. Armlinge und Beinlinge, die ich noch im klimatisierten Flughafen überzog, verschwinden schon nach fünf Minuten in der Trikottasche.
Die Landschaft riecht nach Margariten und ich fahre einen dieser vias verdes (Radwegenetz in Portugal und Spanien) direkt am Meer entlang. Ich schaue auf meinen Lenker und vermisse den Tacho. Keine Zeit mehr gehabt für den Anbau am Abend vorher. Aber warum vermisse ich ihn? Eine Armbanduhr besitze ich doch auch nicht und komme prima mit einem neu sensibilisierten Zeitgefühl zurecht. Dann kann ich doch einfach auch mein Strecken- und Geschwindigkeitsgefühl neu sensibilisieren. Aber selbst da frage ich mich, wozu. Ich reise, ich trainiere nicht. Und reiseradeln heißt immer so zu radeln, dass es gerade nicht anstrengt. Ich schmunzel, bin zufrieden und widme mich wieder den Margariten.
Ein kleiner Laden am Wegrand läd zum ccl+c ein (café con leche mit croasán). Ich bestelle und gehe kurz durch die engen und dunklen Regalreihen. Nadler Fleischsalat mit deutschem Aufdruck gibt’s hier. Oje, wenn sogar die Portugiesen jetzt schon sowas essen, dann wird es mit der iberischen Esskultur wohl nicht mehr so weit her sein. Nein – das sind wahrscheinlich Barter-Geschäfte. Wie früher im Ostblock. Ein Land braucht etwas von einem Bruderland und kriegt Ware gegen Ware zurück. Bargeldloser Zahlungsverkehr sozusagen. Häufig haben sich Länder dabei ungeliebter oder überflüssiger oder zu viel produzierter Ware entledigt. Und die Nehmerländer mussten manchmal aus politischen oder sonstigen Gründen die Tauschware annehmen, obwohl sie lieber Geld hätten und in dritten Ländern was anderes kaufen würden. So wie Schrottwichteln an Weihnachten. Oder ein Tausch zwischen großem und kleinem Bruder, der vom großen Bruder initiiert wird. Wir kriegen portugiesische Erdbeeren und Orangen im Frühjahr und die Portugiesen den deutschen Fleischsalat dafür. Wir sind ja schließlich stärker.
Manchmal fallen Straßen oder Brücken einfach so in sich zusammen. Und auf dem Radweg interessiert es dann erstmal lange niemanden. Warum auch: Wir sollten viel mehr improvisieren. Zwei Bohlen müssen reichen, eine Brücke zu ersetzen. Tun sie auch. Aber nur für mich. Die Touris auf ihren Pedelecs, die hinter mir an diese Nicht-Sollbruchstelle-aber-trotzdem-Bruchstelle kommen, drehen wieder um. Zu schwer sind ihnen ihre eigenen Räder (dabei ist da noch nicht mal Gepäck dran). Zu groß die Gefahr nasser Füße und von Flecken auf den perfekten Schuhen.
Hin und wieder werde ich durch abenteuerliche Brunnenkonstruktionen daran erinnert, dass Wasser hier mal ein kostbares Gut war. Wasserhahn aufdrehen und waschen, trinken, duschen, weglaufen lassen – das gibt es erst seit wenigen Jahren. Wenn wir wieder mehr tun müssten für die Beschaffung von Wasser, würde es sicher nicht so verschwendet werden.
Auf der Fähre von Vila Real de Santo António nach Ayamonte, also von Portugal nach Spanien, spricht mich ein Engländer auf meine Kamera an. Er selbst hat eine Leica M9 – meine Olympus Pen hält er zunächst für eine Leica X1. Ich erkläre, dass ich auch gern eine M9 hätte, aber selbst für gebrauchtes Fotogerät inklusive einem oder zwei vernünftigen Objektiven mehr als 5.000 Euro zu zahlen, würde mich auf Reisen nervös machen. Und die X1 ist mir aufgrund der festen Linse zu unflexibel. Meine Pen ist ein guter Kompromiss, um den ich lange gerungen habe. Ich habe das sehr lichtstarke 20er Festbrennweite Lumix-Objektiv (40 mm in KB umgerechnet) dran und will die Kombination auf dieser Reise mal ausprobieren. „Turnschuh-Zoom“ nennen das die Spötter mit ihren Weitwinkel-Tele-Zoom-Universal-Objektiven, die alles ein bisschen, aber nichts so richtig gut können.
Egal – das alte 40er Hexanon, das ich für Portraits und als leichtes Tele gedacht habe, steckt notfalls noch in der Lenkertasche.
Aber es ist schon ein echter Unterschied, ob ich eine 900-Gramm-Nikon Spiegelreflex mit einer 800-Gramm-Optik in der Lenkertasche habe (die dann rappelvoll ist) oder eine kleine moderne Systemkamera, die zwar einen kleineren Sensor aber eben auch kleinere Ausmaße hat und mit Optik nur knapp 500 Gramm wiegt.
Na ja, der Engländer kommt jedenfalls ins Plaudern, hat sich vor sechs Jahren von seiner Frau getrennt, ist in Rente gegangen, hat sich vom Restgeld eine kleine gebrauchte Segelyacht gekauft und lebt jetzt darauf. Im Winter an der Algarve, im Sommer auf Mittelmeer und Atlantik.
Da kommen mir doch glatt interessante Ideen in den Sinn… Den ersten Schritt habe ich ja schließlich auch schon hinter mir. Und das ist der härteste! Und Platzt für’n Fahrrad und ‘ne Fotoausrüstung ist auf so einem Boot bestimmt auch noch.
Hinter der Grenze, an der Autobahn nach Huelva, treffe ich einen gerade berenteten Hamburger mit seinem Rad. Er macht eine kleine, zweiwöchige Rundreise – allerdings von Hotel zu Hotel. Er bedauert, dass seine ganzen Kumpels, die jetzt ja auch Zeit hätten, mit ihm mal eine Radreise zu unternehmen, entweder dick und fett oder tot seien. So fährt er eben allein. Ach ja, auch von Frau geschieden. Vielleicht ist das eine der wichtigsten Konsequenzen für einen inneren Tramp. Darüber will ich im Lauf der Reise noch weiter nachdenken.
Ich suche mir einen Nachtplatz direkt in den Dünen des Algarve-Strands, stelle mein Zelt auf, gehe ans Meer, wasche mich kurz im Salzwasser und genieße die rote Abendsonne, die den Sand optisch wärmt.
Ein langer Tag mit einem wunderbaren Ende. Im Zelt selbst wird mir bewusst, wie frei ich jetzt hier gerade bin.
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Fortsetzung folgt (allerdings in meinem Blog - hier ist das echt umständlich)...