Vielleicht haben jetzt einige hier in der Rubrik von mir einen aktuellen Bericht erwartet. Das wird aber noch dauern. Stattdessen ein brüchiges Logbuch aus meiner Anfangszeit des Radreisens. Fragen zu Korsika in einem anderen Thread haben mich bewogen, diesen Bericht einzustellen. Fotos gibt es keine, die müssten erst eingescannt werden, was mir zu viel Arbeit ist.
Die ersten Tage mit festem Standort sind ausformuliert, der folgende Teil besteht nur aus Stichpunkten. Die Wahrscheinlichkeit, nochmal alles in eine prosaische Form zu bringen, ist gering - hingegen ist das Geschriebene ja auch in dieser nicht perfekten Form für den einen oder anderen von Nutzen.
Ergänzende Hinweise: Das Reiserad war mein dunkelblaues Nishiki (klassisches Randonneur, noch im Alltagsleben im Einsatz) - ein eher etwas zu großes Rad für mich, das ich aber wenige Wochen vor der Reise zum Sonderpreis erwerben konnte und den lange schwelenden Wunsch nach unabhängger Reise auf zwei Rädern wahr werden ließ. Nach Arbeitslosen- und Umschulungspause hatte ich nunmehr auch wieder nach dem wenige Monate zuvor neu angetretenen Job auch wieder einige Kröten in der Tasche. Dass es über 10 Jahre später gar weniger Taler sein würden, konnte ich damals ja noch nicht ahnen. Die Grundstimmung zur ersten Radreise war also gut und optimistisch.
Tour de CorseGesamtdauer: 22 Tage
Gesamtlänge: 1200 km
Durchschnitt: 55 km/Tag (inkl. Ruhetage)
Höhenmeter: k. A.
Die erste Rundreise mit dem Rad stand an. Zuvor war ich schon mit dem Rad verreist – per Flugzeug nach Übersee, auf die karibische Insel Guadeloupe. Doch seinerzeit hatte ich ein leichtes Rennrad, mit dem ich ausgehend von einer festen Destination meine Touren in und um die Insel unternahm. Das einzige Gepäckstück dabei war ein kleinerer Rucksack, in dem ein Handtuch, Beleuchtung, Fotoapparat, Luftpumpe und Tagesverpflegung wie Obst und Getränkevorräte bis zu ca. zwei (Plastik-)Flaschen à 1,5 Liter Platz hatten. Das echte Reisegepäck war in meiner Unterkunft gelagert, einzig der Transport vom Flughafen zur Unterkunft galt es zu bewältigen – wobei einige Probleme auftraten. Auf anderen Inseln (Jamaika, Gran Canaria, Ibiza) diente ein ausgeliehenes Reiserad dem Erkunden der Eilande. Das brachte teils schlechten Fahrkomfort, der den Radius der Touren einengte, auf Jamaika sogar eine ausreichende Inselerkundung unmöglich machte. Nun also stand ein Reiserad vor mir, mit Rennradlenker, Gepäcktaschen rechts und links sowohl hinten also auch vorne (Lowrider), dazu noch ein Minizelt auf dem Gepäckträger, eine Frontasche mit Straßenkarte (Michelin No. 90, 1:200 000), Kamera, etc. und ein Rucksack mit Dingen, die man auch im Flugzeug gebrauchen kann. Insgesamt ca. 40 kg, die über das sommerliche Korsika bewegt werden sollten.
Etwas Grundsätzliches: Korsika ist eine besondere Insel, weil französisch, aber eigentlich sind hier Korsen zuhause, eigenständige und eigensinnige Menschen. Korsisch, als Mischsprache näher am Italienischen, findet man in den meisten Ortsbezeichnungen wieder, die italienisch gesprochen werden. Nach wie vor genießen Separatisten eine gewisse Symphatie, für Touristen wird das aber selten ein Thema sein. Korsika ist dünn besiedelt und im Winter ziehen sich viele in die Bergdörfer zurück. Selbst im Sommer unter dem Eindruck der massenweise einfallenden Touristen bleibt Korsika jedoch ein ruhiges und bis auf einige Hochburgen naturbelassenes Land. Raue Natur, der Kontrast aus Bergwelt und Meer prägen das Bild, Luxustourismus gibt es nicht, obwohl viel Grundpreise ünber denen des Festlandes liegen. Die Ostküste ist vielfach flach, aber auch mit kleineren Hügelabschnitten. Teilweise muss mit extremen Wind gerechnet werden, der bekanntlich bei Radlern immer von vorn kommt. Die Ostküste ist stärker zerklüftet und es reihen sich zermürbende Anstiege aneinander. Auch die Inlandsrouten erfordern gute Kondition für kräftige Anstiege. Die Etappen lassen sich jedoch individuell schön einteilen, sodass bei guter Planung für alle Typen von halbwegs fitten Radlern, die den Schweiß nicht scheuen, eine Rundreise in Korsika machen lässt. Schweißpunkte lassen sich reduzieren, wenn man das Frühjahr oder den Herbst wählt. Ein Rundreise lässt sich ab zwei Wochen durchführen. Drei Wochen lassen mehrere Ruhetage oder gemütliche Etappen oder einige Inlandsrouten zu. Und selbst für sportlich avancierte Fahrer bestehen sogar bei vier Wochen noch genügend Alternativen, ein abwechslungsreiches, vollwertiges Programm abzufahren.
26.6. Stuttgart | (Bahnfahrt) | Frankfurt/Main, Fhfn | (Flug) | Figari – (D 859) – Sotta – La Chiappa [40 km]Die ersten Kilometer im Ausgangsort Stuttgart bewege ich mich unsicher, fahre bewusst langsam um einen starken Schlag von Bodenwellen zu vermeiden – ein Reifenpanne würde die Reise platzen lassen – Zug weg, Flugzeug weg. Ich bin verwundert, dass die Reifen das Gewicht gut abfedern. Hauptbahnhof Stuttgart. Ein Problem taucht auf, über das man vor einer Rundreise mit Rad nachdenken sollte: Wie mache ich einen Abstecher zum Bankomat, ohne mein Gefährt samt Gepäck nicht aus dem Auge zu verlieren? Ein gewisses Vertrauen in die Umwelt, das nicht gleich alles gestohlen wird, was herrenlos herumsteht, ist unumgänglich. Der Hauptgedanke: bis auf das Fahrrad sind zwar keine entscheidenden Wertsachen vorhanden, aber alle Dinge, die da verpackt sind, sind essentiell für meine Reise: Bestimmtes Werkzeug, die Packtaschen, der Schlafsack, die Fahrradkleidung oder so etwas Unscheinbares wie die Gepäckexpander zum Festzurren. Der Nutzen für einen Dieb wäre nicht sehr groß. Müsste ich jedoch alles während der Reise neu hinzukaufen, würde es für mich sehr teuer. Ich hoffe, dass potentielle Langfinger ähnlich denken: „Was soll ich mit so einem unhandlichen Multipack, Anti-Luxusreisender, Wertsachen wird so `n Sportler nicht mitschleppen, armes Schwein, lassen wir ihm sein Leidensgefährt.“ In der Tat dürfte es schwierig sein auf Anhieb die Arretierungsmechanik der Packtaschen zu erfassen und entweder diese oder das von diesen befreite Fahrrad zu stehlen. Das gesamte Paket ist fluchtuntauglich. Zudem beruhigt mich, dass es sogar in Italien ein Ehrencodex gibt Rennräder nicht zu stehlen. Ich gehe davon aus, dass dies auch für Globetrotterräder gilt – Danke!
Ein bisschen vorsichtig sollte man jedoch bleiben – insbesondere ist der Respekt gegenüber sportlichen Radfahrern in Deutschland geringer einzuschätzen als in den romanischen Ländern. Das gilt immer noch trotz Jan Ullrich, Team Telekom oder der vielen Radwege, die oft nicht mehr als ein Alibi für Deutschlands Charakterspruch Nummer eins „Freie Fahrt für deutsche Autobürger“ sind. Sowohl die Leitlinie, dass unser ökologisch vernichtender Verkehrsseparatismus „getrennte Wege für jedes Verkehrsmittel, damit das Auto unbehindert rollen kann“ als auch die Ansicht, dass Tote bei 180 km/h unvermeidbare Opfer des Lebensmottos „Wer nicht mitrollt wird überrollt“ zum technischen Fortschritt dazugehören, zeigen, dass die moralische Qualität der Deutschen keine europäische Spitzenklasse besitzt.
Widersprüchliches scheint überhaupt in unserer Gesellschaft sich zu kultivieren. Der Dienstleister Deutsche Bahn AG propagiert in seine Broschüren großkotzige Fahrradgerechtigkeit. In einigen ICs und sämtlichen ICEs dürfen jedoch keine Velos mitgenommen werden. Deswegen konnte ich kein Ticket auf kürzestem Wege und ohne umzusteigen zum Frankfurter Flughafen-Fernbahnhof buchen, sondern musste mit dem Zug den Umweg über Mainz wählen, von dort mit der Regionalbahn weiter. Die Schalterdame bemerkte dazu, dass ich damit den ohnehin kürzesten Weg fahren würde. Sie kennt sich leider nicht mit der Geografie aus (Stuttgart – Mainz – Frankfurt, Fhfn. ist ein Dreieck Süd – West – Ost, die Route über Darmstadt aber eine gerade Linie von Süden her) und kann auch nicht die Fahrtzeiten addieren. Wenn auch die Bahn damit Werbung macht, dass ihre Superzüge die Reisezeit wesentlich verkürzen, werde ich von der Bahn mit meinem sperrigen Reisegepäck 50 (!) Minuten länger auf Reise geschickt gegenüber der Direktverbindung – und das alles, weil das Fahrrad der Bahn ein Dorn im Auge ist. Das man mir die bequemere Direktverbindung verwehrt, hat nichts mit Kundenorientierung zu tun.
Dies bleibt jedoch nicht das einzige Ärgernis des Unternehmens, dass mit „Bahn fahren ist Urlaub von Anfang an“ wirbt. Nachdem ich die recht praktisch zu entriegelnden Taschen (darauf sollte man bei Reisepacktaschen achten!) und das Rad in das Fahrradabteil gehievt hatte – Hilfestellung ist vom Bahnpersonal dabei nicht zu erwarten – beginnt die kleinere Odyssee. Zunächst fehlen genügend Stand- oder Hängemöglichkeiten, obwohl alle Radler für ihre Gerät gebucht (und bezahlt) hatten. Ich nehme das gelassen, stelle mein Fahrrad längs, wodurch sich der Gang verengt – ein Hindernis für die zuweilen ziellos hin- und herlaufenden Fahrgäste. Der Zug fährt ab, nach kurzem Geplauder mit einem eben ähnlich ambitionierten Reiseradlerpaar (kamen von einer alpenländischen Tour) erscheint Miss Zugführer. Sie herrscht die Anwesenden Radler an, wie es soviel Räder geben kann. „Haben Sie nicht reserviert?“ – „Doch.“ – „Das geht so nicht, das verstößt gegen die Sicherheitsvorschriften. Der Gang muss frei sein!“ Nach einigem Gehangel hin und her, von der Miss angewiesen und bei dem sich ein Fahrgast mit Kettenschmiere verschmutzt, stehen und hängen die Räder instabiler als vorher. Die garstigen Bemerkungen und befohlene Umbauten wiederholen sich noch mehrmals auf der Fahrt, ausgelöst durch neu hinzustoßende Räder an anderen Stationen. Der Fahrtlärm ist abnorm hoch, ich habe Schwierigkeiten die Unterhaltung mit den Mitfahrern fortzuführen.
Der Diskussion entnehme ich immerhin, dass die desorganisierte und unfreundliche Reiseform bei der Bahn üblich ist, wenn auch in einigen Zügen offenbar geräumige Abteile für Fahrräder bereit stehen. Ich fühle mich weder als Gast noch kann ich den Urlaubsanfang bejubeln und erinnere mich, dass ich schon immer bei meinen seltenen Trips mit der Bahn nicht besonders vom Fahrkomfort angetan war. Die Einsicht wächst, dass Fortschritt und Fortschritt zwei verschiedene Dinge sind. Der immer schneller werdende technologische Wandel ist ein Phantom, tatsächlich werden die Fortschritte immer kleiner, weil es immer mehr um Nuancen geht, die aber dafür umso pompöser angepriesen werden. Wahrhaftigkeit verschiebt sich zuungunsten von Schönfärberei. Zudem wird der spürbare Fortschritt auf einige Prestigeobjekte bzw. auf bestimmte Eliten zugeschnitten. Dieser Luxus ist jedoch nur begrenzt funktional und muss außerdem teuer erkauft werden. Der ICE ist ein gutes Verkehrsmittel für einen bestimmten Personenkreis, der zwischen Metropolen verkehrt. Damit ist aber weder über das infrastrukturelle Gerüst drumherum etwas gesagt noch über das Gefühl der Fahrgäste, die nicht dem Laptop-Manager-Profil entsprechen – ganz zu schweigen von Menschen, für die die Tickets der Bahn schlechthin unerschwinglich sind.
Sieht man einmal von den meist unbrauchbaren Sonderangeboten ab, kostet eine Hin- und Rückfahrt von verschiedenen Orten in Deutschland zur nächst gelegenen Großstadt zehn Prozent des Sozialhilfesatzes. Kein Wunder, dass unsere Gesellschaft immobil ist, es sei denn, das Auto fährt oder der Staat alimentiert. Viele regionale Verkehrssysteme konkurrieren bei Einzelfahrscheinen oft mit Taxitarifen, erst recht, wenn das Fahrrad noch mitgenommen werden soll. Und noch ein Beispiel für die Asymmetrie des Preisgefüges bei den Verkehrsmitteln: Ein reguläres Flugticket von Stuttgart nach Andalusien kostet nur wenig mehr als ein Bahnticket, obwohl die Transportleistung mit der Bahn acht- bis neunmal langsamer ist. Bei den heute üblich zahlreichen Sonderangeboten bei Flugtarifen ist der Flug meist sogar günstiger als die Bahnfahrt. Unabhängig davon, um wieviel das Autofahren verteuert werden müsste um die Folgekosten abzudecken, sind die Bahnpreise in Deutschland etwa um 50 Prozent überhöht. Entgegen allen vollmundigen Bekundungen ist das deutsche Verkehrswesen weit von einer progressiven oder gar ökologischen Struktur entfernt. Da hilft es auch nicht, wenn die Welt nur wenige Beispiele bereit hält, die mehr Anlass zur Freude bieten. Die Möglichkeiten sind da – es liegt nicht an der Technologie, sondern an dem Willen, bestehende Systeme neu zu gestalten.
Ich erreiche den Frankfurter Flughafen, ein wenig reisefreundlicher Airport. Um von den Bahngleisen zum Terminal B zu kommen, muss man einige Klippen und Entfernungen überwinden. Es ist nicht möglich mehr als eine Etage mit einem Fahrstuhl zu überbrücken, dann muss man wieder den Lift wechseln. Hin und wieder kommt man an der Rolltreppe nicht vorbei, die mit dem Fahrrad als Reisegepäck Stress verursacht. Schließlich das prestigeträchtige Shuttle, ebenfalls wenig erfreulich für Leute mit Reisegepäck (der Gepäckwagen muss abgeladen werden, nach zwei Minuten Fahrt darf man wieder neu aufladen). In Terminal A erklimme ich mehrere Etagen, um nach dem Shuttle in Terminal B diese Etagen wieder abzugleiten. Eine Erfindung nach dem Motto „Warum einfach und billig, wenn es auch kompliziert und teuer geht?“ Man lässt als internationaler Flughafen schließlich nicht lumpen. Übrigens: In Zürich, nicht weniger nobel als Frankfurt und mit einem ebenfalls renommierten internationalen Flughafen, komme ich mit einem Fahrstuhl direkt vom Bahngleis zur Abflughalle. Die Schweizer Flughafenplaner haben offenbar dem Volk auf die Füße geschaut, die Frankfurter einem weltfremden Großmaul.
Ich hatte Last-Minute gebucht, entsprechend musste ich mich selbst mich darum kümmern, das Fahrrad anzumelden. Dabei kam ich eine zwar endliche, aber nicht zu kurze Telefonkette, bis ich jemand Zuständiges am Frankfurter Flughafen erwischte. Die wenigsten kannten die gebuchte Fluggesellschaft, noch erbärmlicher ist jedoch, dass offenbar niemand über eine Übersicht der abfliegenden Fluggesellschaft verfügt. Jetzt endlich das Positive: Ich zahlte für das Fahrrad nichts. Das ist zwar bei der Air France auch so, jedoch mit Gewichtsbegrenzung, die ich mit diesem Rad deutlich überschritten hätte. Beim Einchecken war ich zwar auf das Übliche vorbereitet: Luft im Reifen reduzieren, Lenker eindrehen und Pedale abschrauben, eine ging aber nicht ab – so ging es auch mit angeschraubter Pedale. Eine Plastikhülle wird bereitgestellt.
Es ist ein bescheiden kleiner Flieger. Beim Einsteigen erspähe ich das Vehikel von Gleichgesinnten: ein Tandem lag auf Transportwagen. Es zeigt sich, dass das Schrauben und Verpacken nicht unbedingt notwendig ist. Zwar ist das keine große Aktion, aber am Zielflughafen, in südliche Gefilden angekommen, entpuppt sich mancher mechanische Handgriff als schweißtreibender Kraftakt, zumal die stets belastende Flugreise dem Körper Wasser entzogen hat.
Der Flug verspätet sich erheblich. Mein Plan, noch bei Helligkeit vom Flughafen Figari starten zu können, ist gecancelt. Ein erster Eindruck mit Tageslicht ist insofern hilfreich, dass man die Topographie und die Straßenbeschaffenheit besser einschätzen kann. Außerdem prognostiziere ich das Erreichen meines ersten Reiseziels für nach Mitternacht, womit ich recht behalten sollte. Ich trinke bewusst einen Kaffee mehr.
Flughafen Figari. Der Flughafen liegt im Süden und ist ein kleiner Ausweichflughafen für die drei anderen, internationalen Flughäfen (Bastia, Ajaccio, Calvi). Zunächst belade ich mein Fahrrad, bemerke dann, dass die Luft völlig aus dem Reifen war, was mich zunächst beunruhigt, zumal meine ersten Pumpversuche sich relativ kläglich ausnehmen. Das Pärchen mit dem Tandem fragt mich, in welcher Richtung wohl die nächste Stadt liegen würde. Sie sind ohne Karte, ohne Licht und hatten offenbar die Topographie von Korsika nicht genügend studiert. Sie entschließen sich nach Bonifacio zu fahren, ein zwar 10 km kürzere aber dafür schwierigere Strecke als die meine – ich vermute, sie haben an einem der zwischenliegenden Strände die Nacht zugebracht. Beim Aufpumpen sind sie aber intelligenter als ich: erst pumpen, dann beladen. Also wieder Gepäck runter und erneut pumpen. Schweißüberströmt verlasse ich als letzter Fluggast den Aeroport und sehe nur einen kleinen Vorplatz. Verlassen, keine Taxis, nur abgedunkelte Autovermieter, keine Tankstelle geöffnet, keine Orientierungskarte für die Umgebung, Hilfestellung für unvorbereitet verspätete Fluggäste Fehlanzeige. Ich bin erstaunt über die Menschenleere, ja, das Fehlen von Zivilisation.
Die ersten Meter auf der dunklen Straße sind tief bewegend. Jetzt, zwischen zehn und elf Uhr, ist die Lufttemperatur angenehm, zwei Grad wärmer wäre ideal. Mit meiner Akkuleuchte kann ich nicht viel ausleuchten, aber das Mondlicht ist so hell, dass ich ganz auf die Beleuchtung verzichten kann. Ich traue mich das Tempo ein wenig zu beschleunigen, merke , dass die Straße in gutem Zustand ist und mein Rad rollt angenehm. Ich wusste zwar von meinen vorbereitenden Reiselektüre, Korsika ist urwüchsig, wenig besiedelt – aber so einsam, ein Touristenmekka? – Nicht einmal eine dörfliche Umgebung, nur einige wenige entfernte Lichter auf oder in einem Bergrücken, die Grenze aus Bergkamm und Nachthimmel nicht erkennbar, und das unmittelbar in der Umgebung des Flughafens. Ein strenger Duft durchdringt meine Nase – sogar ein Hauch von Geruch, der etwas Widerspenstiges, nicht Zähmbares verkörpert – Natur pur, ohne umschmückende Attribute und Kompromisse an geglättete Wunschästhetik. Es ist dieser als unnachahmlich beschriebene Duft der Macchia, das Gemisch aus wild wuchernden, kaum Durchlass gewährendem Dornengestrüpp mit versteckten Blütenschönheiten und stämmigen Korkeichen.
Oh, Wunder der Nacht – diese Aura einer klangschönen Nachtstille. Stille ohne Autos, ja ohne Rauschen von entfernten Autobahnen oder Bahnstrecken – Stille, unterlegt vom Zirpen der Grillen, das immer wieder in Wellen die Luft erfüllt um dann kurz wieder zu verstummen. Selbst die Grillen haben Respekt vor der magischen Kraft der Stille – oder ist es eine demutsvolle Verbeugung vor dem Einzelreisenden auf dem stillen Gefährt? Sparsam dosierte Schreie von Nachtvögeln durchbrechen die Ruhe, allesamt Einzelgänger, die sich über weite Strecken hin unterhalten. Die ebene Gestalt der Straße gibt mir Gelegenheit über die Rätsel nachzudenken, die die Rufer der Nacht aufgeben. In jedem Atemzug schwingt eine Befreiung mit, so als würde in der Lunge die entrückte Urwüchsigkeit den zivilisatorischen Dunst herauspressen.
Ein erstes, kleines Dorf liegt an einer Straßenkreuzung – alles scheint dem Schlaf verfallen. Ich komme auf eine übergeordnete Straße (D 859), doch auch hier sind es nur wenige Autos, die ich auf 15 Kilometern zähle. Mein Licht stelle ich nur an, wenn ich ein Auto sehe. Ich muss Energie sparen, die Akkus halten nicht länger als zwei Stunden und ich vermute eine schlechte Wegstrecke auf den letzten Kilometern. Meine eigene Energieversorgung ist offenbar gut, ich bewältige die leichten Steigungen problemlos und bin überrascht, dass mein schweres Vehikel nicht mehr Probleme bereitet. Nach der Abfahrt von Sotta hinunter die Ebene vor Porto Vecchio stoße ich auf eine der Hauptverkehrsadern der Insel, die N 198, die die relativ flache Nord-Südverbindung auf der Ostseite bildet. Noch vor Porto Vecchio biege ich in Richtung Punta La Chiappa/Palombaggia ab.
Das Golf von Porto Vecchio ist eine geschützte Bucht, die diesen Ort mit einem natürlich geschützten Hafen schon unter den Griechen aus Syrakus im Jahr 383 v.Chr. entstehen ließ. Auf der Landzunge bewege ich mich gegenüber des erleuchteten Porto Vecchio mit seinen aufstrebenden Stadtmauern, einer genuesischen Befestigungsanlage aus dem 16. Jahrhundert, markant und romantisch auf einem 70 Meter hohen Fels gelegen. Erstmals rieche und sehe ich das Meer, von dem mich nur ein schmaler Schilfgürtel trennt, früher die Brutstätte der Anopheles-Mücke, die der Stadt zahlreiche Malaria-Epidemien bescherte. Nun macht mir eine Steigung zu schaffen, ich ersehne den Blick auf den Leuchtturm am Punta Chiappa. Als ich den umschweifenden Leuchtkegel erblicke, sind es immer noch einige Kilometer, insbesondere schlängelt sich die Straße anders als was in Luftlinie greifbar scheint. Endlich kommt die Abzweigung zum Leuchtturm und dem darunter gelegenen Club La Chiappa. Doch die nun noch zwei Kilometer lange Strecke ist eine Tortur. Eine schwierige Schotterpiste – äußerste Vorsicht ist geboten, damit kein Reifen platzt. Selbst ein Caravan traut sich kaum mich zu überholen. Ein PKW fährt kaum schneller als Schrittgeschwindigkeit. Eigentlich unzumutbar, aber das Paradies wäre ja keines, wenn es sich nicht in der zivilisatorischen Nische verstecken könnte.
Es ist bereits nach ein Uhr nachts. Dann stehe ich vor einem geschlossenem Tor. Auf ein Klingeln hin öffnet sich das elektronisch gesteuerte Tor und ich finde Einlass. Nicht unbedingt des Französischen mächtig, gelingt mir die Minimalkommunikation mit dem Wächter, der meinen Ausweis einbehält. Buchen kann ich erst am nächsten Morgen, egal ob Camping oder Bungalow. Für diese Nacht werde ich auf den Campingteil der Anlage verwiesen um ein Zelt aufzubauen. Ich beschließe kein Zelt aufzubauen und mich unter freiem Himmel in den Schlafsack zu legen. Endlich gewinne ich auch noch die letzte Freiheit, indem ich meine Kleidung vom Körper reiße. Zwanglos frei begebe ich mich ein erstes Mal ins Meer, das Mondlicht bestärkt meine sinnlichen Kräfte. Trotz der körperlichen Belastung bin ich nicht müde, doch der Tag ist vorbei, das Camp ist nachtruhend. Ich suche meinen Schlaf, den ich nur schwer finde, fehlt mir doch eine komfortable Isomatte – ein wenig Luxus liebt man auch im Paradies.
27.6. La Chiappa – Porto Vecchio – La Chiappa [25 km]La Chiappa ist ein FKK-Feriendorf mit verschieden komfortablen Bungalows und einem gleichermaßen weitläufigen Campingareal. Preiswert sind diese Naturistendörfer, von denen es noch einige mehr im Bereich der mittleren Ostküste gibt, nicht. La Chiappa hat immerhin zwei Restaurants, einen kleinen Supermarkt, einen Pool, eine Strandsauna, viele Sport- bzw. Animationsmöglichkeiten, eine bescheidene Bar-Disco und eine Art Open-Air-Atrium für Performances, an denen zuweilen Gäste beteiligt sind und durchaus künstlerischer Natur sein können. Das weit verzweigte Gelände, auf dem Autos nur zur An- und Abreise zugelassen sind, hat einen kleineren Sandstrand, eine Liegewiese und vielfältige Badefelsen.
Ein echter Camper bin ich eigentlich noch nie gewesen, auch wenn ich mich von meinen meist bescheiden Urlaubsetats in diese Lage gezwungen wurde. Entsprechend wähle ich den preiswertesten Bungalowtyp, bekomme als Single sogar 20 % Rabatt. Die Ausstattung ist äußerst bescheiden, es gibt eine leicht marode Küchengrundausstattung, jedoch ohne Wasseranschluss. Wasser muss ich mit der Schüssel oder einem anderen Gefäß im nahe gelegenen Sanitärbereich besorgen. Ich plane jedoch nicht im Urlaub den großen Hausmann zu spielen – schließlich gilt es auch die französische Küche zu genießen. Meine Leistung werden die strampelnden Beine sein – da sollte ein wenig Entspannung drin sein. So dient auch der Tag dem Relaxen am Strand.
Erst abends nehme ich die Schotterpiste wieder in Angriff, ohne Gepäck, auf umgekehrten Weg zum Vortag bis zur N 198, anschließend zunächst zum Jachthafen von Porto Vecchio und schließlich den steilen Weg in die historische Altstadt hinauf. Eine schöne Flaniermeile für jung und alt und vielen Restaurants, entweder in einer der engen Gassen oder auf der Terrasse mit Blick über die Bucht bei Sonnenuntergang. Crêpes gibt es an jeder Ecke oder man schleckt ein Eis zum Tagesausklang. Kommt man etwas früher am Abend, bietet sich Gelegenheit in den einer der familiär geführten Geschäfte korsische Spezialitäten wie Wildschweinwürste, Honig, finessenreich abgeschmeckte Konfitüre, schier unendliche Varianten von Ziegenkäse, Olivenöl oder Korkwaren zu erwerben. Eine gut gefüllte Reisekasse kann da schnell leer werden ... Zurück geht es auf gleichem Weg, Nachtfahrten bin ich ja schon gewohnt.
28.6. La Chiappa – Palombaggia – St. Gulia – (D 459) – Sotta – Muratello – Porto Vecchio – La Chiappa [65 km]Auch wenn ich ausgiebig mich in der Sonne aalen kann, verlief mir der zweite Reisetag zu ruhig, es kribbelte in den Beinen. Die Strategie für meine Radtouren in südlichen Gefilden besteht darin, morgens eine Tour zu beginnen, für einige Stunden einen Strandplatz zu besetzen und gegen Abend die Tour fortzusetzen. Da ich kein geübter Frühaufsteher bin, ist die Abendroute meistens länger als die Morgenroute. Die heutige Tour ist nur zum Teil geplant. Ich steuere zunächst Palombaggia an, der angeblich schönste Strand von Korsika. Der weitläufige feinsandige Strand im gleisenden Sonnenlicht zeichnet mit klarem Türkis ein wunderbares, kontrastreiches Farbenspiel, im Hintergrund dunkler Kiefernwald. Nacktbaden ist möglich, wenn auch nicht üblich. Nach nunmehr eineinhalb Tagen intensiver Sonne spüre die Haut leicht brennen, auch die Hitze ermattet mich. Ich verlasse den Strand und versuche im Schatten ein wenig Kraft zu gewinnen, um weiter zu fahren. Es ist eine Hitzeschlacht auf der Straße, die rauf und runter führt. Bei Santa Giula, einer gleichfalls wunderschönen Bucht mit Hotels und Ferienanlagen mache ich Hitzepause, überquere eine trockene Weide mit Gerippen verendeter Tiere, wodurch ich einen Hauch von Serengeti-Feeling spüre, fotografiere symbolisch das Gerippe mit meinem Rad.
Mittlerweile ist die Nachmittagssonne erträglich geworden. Ich wähle die weitere Route quer nach Westen über die D 459, eine wenig befahren Strecke mit starker Steigung. Wunderschöne Hügellandschaft, wie ich sie aus dem Schweizer Turbental kenne, entschädigen auf der Höhe, abwärts nach Sotta dort weiter zunächst Richtung Levi, eine erhebliche Passhöhe, die ich aber nicht in Angriff nehmen möchte. Stattdessen biege ich in Richtung Muratello ab, fahre durch schattigen Wald, schon fast zu kühl. Muratello ist ein hübsches Dorf mit charakteristischer Kirche. Wenig später nehme ich noch eine Seitenstraße mit, entdecke besonders aufregend geformte Korkeichen als Fotomotiv. Noch vor dem Dämmerlicht erreiche ich Porto Vecchio, ein besonderes Bild des aufgehenden Mondes genau über einer Bergkuppe mit dem davor liegenden Golf von Porto Vecchio fasziniert mich. Ich genieße nochmals ein kleines Menü in der Stadt auf dem Fels, bevor ich wieder zu meiner Domäne zurückkehre. Obwohl das Entrêcote keine Offenbarung ist, bewundere ich den Sinn der Franzosen für das Kompositorische beim Essen. Der abschließende mittelalte Ziegenkäse ist genau dosiert, sodass auch das weniger exklusive Menü vorzüglich abgerundet wird.
29.6. La Chiappa – Porto Vecchio - l’Ospedale – Piscia di Gallo – Bocca d’Illerata – Zonza – Col de Bavella [65 km]Das Wetter ist unentschieden gemischt. Die Wolken verraten nicht, ob sie sich verziehen wollen. Ich entscheide mich schließlich für meine große Bergfahrt. Geplant habe ich die Rundtour über den Col de Bavella, dann nordöstlich wieder zur Küste und südwärts zurück, geschätzt 140 bis 150 Kilometer. Es kommt etwas anders als geplant. Ich wähle ein hintere Seitentasche für die Verpflegung. Nach Porto Vecchio führt die Route zunächst leicht ansteigend ins Hinterland. Wenig später geht es richtig aufwärts. Porto Vecchio ist immer wieder mit neuen Blickwinkeln zu bestaunen. Immer noch ist es bewölkt, aber der Schweiß läuft trotzdem. Ich habe Atemprobleme, muss häufig absitzen. Der obere Teil führt durch einen bewaldeten Hang. Dann erreiche ich l’Ospedale nach einem Durchbruch im Berg, der Ort liegt am Hang. Kurz dahinter beginnt ein sogenannter Märchenwald, in dem kugelige Steine verstreut herumliegen. Das lichte Dach lässt die nun hervortreten Mittagssonne durchscheinen. Es ist eine beliebte Picknickgegend, sowohl von Korsen als auch von Touristen genutzt. Auf einem vorstehenden Stein direkt über eine Straßenkurve nehme ich mein Mittagsmahl vom Mitgebrachten. Meine körperliche Verfassung ist nicht sehr gut, aber es muss ja irgendwie weitergehen. Die Straße geht weiter leicht aufwärts, teilweise auch eben. Schattiger Wald hält die Luft vergleichsweise kühl. Nach einer Weile taucht ein großer Waldsee auf, aus dem abgestorbene Baumstümpfe herausragen. Auf der anderen Seite grenzt ein Geröllufer an, ein Berg liefert die Hintergrundkulisse. Der See macht mit seinen Ufern keinen einladenden Eindruck zum Baden, und er ist entsprechend kalt. Die starke Frequenz von Autos und Besuchern des Sees erklärt sich aus der folgenden Touristenattraktion.
Im Wald taucht ein Parkplatz auf, dazu zwei Imbissrestaurants mit Souvenirshop. Es ist der Ausgangspunkt zum Piscia di Gallo, dem Hahnenfusswasserfall. Ein zunächst noch mit dem Rad befahrbarer Weg führt steil hinab, laut Schild 30 Minuten Wanderzeit zum Wasserfall. Ich hoffe es schneller zu schaffen. Meine Packtasche erweist sich als Manko. Sie länger als Fusswanderer zu schleppen ist unpraktisch gegenüber einem Rucksack. Deswegen möchte ich mein Fahrrad nicht abstellen. Der erste Eindruck des Weges erweist sich zudem als falsch. Es wird zunehmend steiniger und steiler, ich muss dasss Fahrrad schieben. Noch kurz verlaufen, weil die Schilder nicht eindeutig in der Landschaft stehen, verlangt mir das Ganze sehr viel Kraft ab. Dort wo es zum Wasserfall dann direkt runtergeht, muss ich das Fahhrad schließlich an einen Baum binden. Der Wasserfall lässt sich von einem oberen Standpunkt aus einsehen, um direkt am an das untere Becken zu gelangen mit dem „Hahnhenfuss“, wie der Wasserfall unten erscheint, muss man eine Rutschpartie nach unten machen. Alles in allem kostet der Ausflug ca. 90 Minuten Zeit und hat mich physisch sehr gefordert. Zusammen mit der verspäteten Abfahrt am Morgen und der etwas längeren Mittagspause habe ich etwa drei Stunden Rückstand gegenüber der Planvorstellung.
Es geht weiter leicht aufwärts, und endlich erreiche ich den Bocca d’Illerata (991m). Von hier aus geht es auf eine tolle Abfahrt durch die innere Hügellandschaft der Insel runter nach Zonza (778m). Das idyllische Örtchen ist ein erholsamer Landort mit Blick in Wiesen, Weiden und Hügel voll Grün. Einige wenige Hotels empfehlen sich für eine geruhsame Alternative zu den Küstenorten. Ich überlege, ob ich Quartier nehmen soll, denn die gesamte Strecke werde ich nicht mehr schaffen. Die Abendsonne zeigt mir an, das ich es maximal bis zum Col de Bavella schaffen kann, wenn es dunkel wird. Auch wenn ich an den eindrücklichen Nachtfahrten durch weitgehend unberührte Natur Gefallen gefunden habe, schätze ich die dem Pass folgende Abfahrt bei Dunkelheit als gefährlich ein. Was auf der Passhöhe an Unterkunft möglich ist, weiß ich nicht genau, aber es soll laut Reiseführer eine Möglichkeit geben. Über meine bisherige Kilometerleistung bin ich frustriert. Ohne den großen Pass will ich meinen Tag nicht beschließen. Also nehme ich Kurs auf der wieder steil ansteigenden Straße. Die Kurven führen durch schönen Mischwald. Weiter oben, es wird bereits dämmrig, tun sich wieder grandiose Weitblicke auf die Bergketten auf, hinter denen die Sonne im Angesicht des Schweißes versinkt. Wieder muss ich häufig absitzen. Unter den wenigen Autos, die an mir vorbeifahren, hält eines an. Der Fahrer bietet mir die Mitfahrt an, ich lehne ab. Dass an eine Abfahrt nicht mehr zu denken ist, wird auch schon aufgrund der kühlen Temperaturen klar. Endlich auf der Passhöhe (1218m), pfeift ein kalter Wind. Eine eher geschlossen aussehende Herberge lässt mich rätseln, wie die Nacht aussehen wird. Ich klopfe an der Privattür. Eine Frau mit Bademantel erweist sich als Herbergsfrau und so bekomme ich doch einen Schlafplatz – es sind Zimmer mit vier Betten, ähnlich wie in einer Jugendherberge. Eine Gruppe spielt Karten in der offenen Gemeinschaftsküche. Zunächst bin ich allein im Zimmer. Nach dem Duschen kommt eine Ehepaar, das nur noch eine Runde spazieren gegangen war, in das Zimmer. Es sind ebenfalls Deutsche, die mit dem Auto Korsika erkunden. Eine Rotweinflasche schafft die Atmosphäre für den abendlichen Talk.
30.6. Col de Bavella – Solenzara – (N 198) – Lucie de P.-V. – Pinarellu – Villata –Porto Vecchio – La Chiappa [90 km]In dem Gastraum der Herberge nehmen wir ein Frühstück und verabreden sogar noch uns im unteren Tal wiederzutreffen. Für mich erweist sich das allerdings unvorteilhaft. Ich wähle nämlich einen Badeplatz, wo ich mein Fahrrad im Auge behalten und nackt baden kann. Ich halte daher ein Restaurant weiter unten zur Rast an. Im Fluss gibt es kleine, zu natürlichen Schwimmbasins geformte Tümpel, teils durch aufgetürmte Steindämme unterstützt. Um nicht den Blick zum Fahrrad zu verlieren und die Strecke über die mit Radschuhen schwierig zu überwindenden Steinblöcke kurz zu halten, bleibe ich auch in Sichtweite des Restaurants. Nach meiner Sonnen- und Badepause meckert der Restaurantmann darüber, dass ich im erweiterten Blickfeld seiner Terrasse nackt gebadet habe – trotz der FKK-Hochburg Korsika und den allgemein liberalen Franzosen als Urvolk der modernen Naturistenbewegung sind solche konservativen Ansichten insbesondere bei Korsen und Südostfranzosen (auch im Gefolge von Le Pen) vorzufinden. Die Fahrt setzte ich bei großer Hitze fort, was ich erst richtig spüre, als ich ich mich über eine trocken-offene Landschaft der Küste nähere. Solenzara liegt noch im Siesta-Schlaf, ich finde aber einen gerade öffnenden Obststand, um mich neu mit Wasser und ein paar Früchten zu versorgen.
Von nun an geht es die Küstenstraße nach Süden, eine der zentralen Verkehrsachsen Korsikas mit entsprechend mehr Autoverkehr. Die Passage ist allerdings nicht flach, sondern hat zahlreiche Küstenhügel, die nicht schwer, aber im ständigen rauf und runter und bei Hitze doch recht kräftezehrend sein können. Der Wind steht günstig und ich komme gut voran. Als ich mit der Nachmittagssonne eine Reihe von Stränden passiere, sehne ich mich nochmal nach einem Bad und einer Faulenzerpause. Am Ende eines Strandes gehe ich wieder nackt ins Meer und nur wenig später erscheint ein Polizeiauto auf der dicht anliegenden Küstenstraße. Ein Uniformierter steigt aus und fordert mich auf eine Hose überzuziehen. Siehe oben.
Wieder auf der Straße und noch mit Potential beschließe ich ein Variante über weniger befahrene Straßen einzuschlagen. Die ins Hinterland stoßende N198 verlasse ich entsprechend bei Ste. Lucie-de Porto-Vecchio in Richtung Pinarellu. Aus den Bergen reichen Rauchwolken bis ins Tal – es sind die üblichen mediterranen Feuer, die meist fahrlässig oder absichtlich gelegt werden. Die Küstenorte sind zwar nicht gefährdet, aber auf Inlandstouren kann das auch schon mal gefährlich werden. Immerhin kommt der Rauch aus der Zonta-Bavella-Gegend, wo ich tags zuvor noch herumgefahren war.
In diesem Küstenbereich liegen Hügel, auf die teils Straßen als Sackgassen führen. Ich fahre ein Stichstraße zum Meer bei Villata – Pinienwälder und Sand. Im Bereich des Golfo di Sogno wird es dann ganz flach bis nach Porto-Vecchio. Nocheinmal fahre ich die Altstadt zum Essen.
1.7. La Chiappa [0 km]• Miesmuscheln essen im Hauptrestaurant – gut und freundlich
2.7. La Chiappa – Porto Vecchio – (D 859) – Figari – (N 196) – Bonifacio – (N 198) – Porto Vecchio – La Chiappa [90 km]• mäßige Steigung zum Bocca die Testa
• schottrige, steile Stichstraße zum Plage de la Tonnara
• Nacktbaden in einer Nebenbucht, windig
• schwierige Steigung zum Bocca d’Arbia
• viele Fischrestaurants am Hafen von Bonifacio
• steile Auffahrt zur Altstadt
• wunderbare Lage und Blicke von und auf die Stadt auf den weißen Felsen
• Kriegsopferdenkmal auf dem Weg nach oben
• steile Gassen in der wunderbaren Altstadt, Spezialgeschäft für Korkwaren wie Handtaschen, Krawatten, Uhren, ... (unten, Nähe Hafen für Schiffe nach Sardinien)
• gutes Essen in einem der vielen kleinen Restaurants, die wenige Tische in den steilen Gassen platzieren – innen die Häuser extrem eng für die Bewohner, steile Wendeltreppen, niedrige Deckenhöhe
3.7. La Chiappa [0 km]• Pizza essen im Nebenrestaurant, weniger gut, etwas unfreundlich
4.7. La Chiappa – Porto Vecchio – Figari – (N 196) – Sartene – (D 69) – Pont Genois – Propriano [95 km]• große Hitzeschlacht, erschöpft bereits beim Monte Quieta
• tolle Küstenblicke danach
• trocken-heißer Inlandskurs, nur kleine Haine zwischendrin
• urwüchsiges, raues, herb-idyllisches Sartène
• Umweg zur Pont Génois, schöne Spitzbogenbrücke am Rizzanése
• kühlende Flussaue Richtung Propriano
• unangenehmer Anstieg bereits im Umfeld von Propriano
• umtriebige, etwas kitschige Touristenpromenade in Propriano
• finde keine „kleine“ Unterkunft, gehe daher auf den Campingplatz (Nordende)
• habe statt einem kleine Zelt eine Strandmuschel in Deutschland gekauft, was mir erst jetzt auffällt, ja so peinlich kann die Unwissenheit sein
• schlechter Schlaf auch wegen Campinglicht und fehlender Unterlage
• nervige Ameisen dringen ein – lege einen „Schutzgürtel“ mit Rasierwasser
5.7. Propriano – Portogliolo – Propriano [15 km]• ausgedehnter Sandstrand im Süden – Rizzanése-Mündung kann ich durchwaten – sonst großer Umweg
6.7. Propriano – (N 196) – Grosseto – Ajaccio [70 km]• sehr schöne silbrig-glänzende, fruchtbare Landschaft aufwärts nach Olmetto – Oliven- und Obstbäume, Gemüseanbau, Ziegen
• schwere Anstiege: Col de Celaccia (582m), Col de St. Georges (747m)
• nach der Talmulde des Taravo taucht überraschend eine kleines Thermalbad im Wald auf
• tolle, weitgeschwungene Abfahrt nach Cauro und noch mit Schwung weiter
• unvermeidbare Autobahnpassage am Flughafen von Ajaccio vorbei – extremer Verkehr
• Ajaccio, weiträumige Hauptstadt, wirkt durch den Hafen viel größer als sie tatsächlich ist
• kleines, bescheidenes Hotelzimmer direkt am Hafen mit Meerblick
• Restauranttipp "La Mamma" aus dem Reiseführer in einem versteckten Winkel ist super: vorzügliches Essen, wieselflinke und adrette Bedienung
7.7. Ajaccio – Parata – Capo di Feno – Ajaccio [40 km]• eindrucksvolles Markttreiben am Morgen, bewundere den alten Ziegenkäse und die mächtigen Schinken
• Ausflug zum Turm an der Westspitze, vielbesucht
• schiebe und stottere mit dem Rad den Küstenpfad entlang nach Norden (nicht zu empfehlen)
• in der Bucht bei Pisinale nahe dem Capo di Feno viele Wellenreiter, sehr windig
• mühsame Rückfahrt über steile Straße
8.7. Ajaccio – (D 81) – Sagone – Cargése – Piana [75 km]• schöne Küstenstraße am Golf von Sagone
• zwei Regenunterbrechungen – toller Regenbogen nach Gewitter nach Cargése
• schwieriger Anstieg zum Col de Lava
• schwierige Topographie in Piana, davor herrliche Ausblicke in die Bucht
• Unterkunft in einer Jugendherberge, wenig besucht
9.7. Piana – Col d’Osini – Piana – Porto – Osani [55 km]• will erst Ruhetag in Piana machen und fahre Richtung Westen
• Fahrt zum Strand wäre extrem steil, verzichte dann lieber und beschließe doch die Tour weiterzufahren
• grandioses Highlight bei der Durchfahrt von les Calanches – rote Gesteinsformationen, wie von Künstlern in den Fels gehauen – sogar ein „Herz“ im Stein – enge Kurven, besonders für LKWs
• erschöpft bei Hitze in Porto
• nachmittags weiter mit Stichtour zum Plage Bussaglia
• weiter auf und ab durch landschaftlich schöne Gegenden, fast ohne Dörfer
• fahre bis Sonnenuntergang am Col de la Crois
• „freie“ Übernachtung am unbemannten Ausflugslokal auf Bretterboden
10.7. Osani – (D 81/81b) – Argantella – Calvi [60 km]• schöne Abfahrt Richtung le Fango
• hautnah durch Macchia-Bewuchs, Straße eng, etwas holprig
• Café au lait beim Camping von Argentella, dort auch Strandpause – wenig Betrieb
• wieder auf und ab, Landschaft wird herber, felsiger, karstig
• Jugendherberge in Calvi, treffe Engländer mit Mountainbike unterwegs
• tolle Fotomotive mit der Festung und den alten Gassen
• unendliche Auswahl von Restaurants, die kleinen hübschen sind aber alle voll
11.7. Calvi – (N 197) – I’lle Rousse – Ogliastro – (D 81) – St. Florent [75 km]• Besuch eines Marktes in Lumio – erwerbe schöne Weinkaraffe mit Maronenmotiv
• Hitzeschlacht schon wieder ab Algajola
• treffe italienische Radsportgruppe in I’lle Rousse (ohne Gepäck)
• toller Sandstrand bei Ogliastro
• Inlandskurs durch sehr karstige Landschaft, später sehr eigentümlich mit wie gestreut ausliegenden Felsbrocken, faxt alpine Pflanzenwelt – Bocca di Vezzo: 421m
• St. Florent, charmantes Fischerstädtchen
• übernachte zentral gelegenem Hotel, günstig – die Italiener sind bereits auch dort
• romantisches Terrassenrestaurant etwas abseits der Flaniermeile
12.7. St. Florent – (D 80) – Pino – (D 180) – Marina di Luvi – (D 80) – Bastia [90 km]• edle Weingegend um Patrimonio
• sehr viel Auf und Ab an der Küste, nur kleine Buchten
• bei Pino Abkürzung des korsischen „Fingers“ durchs Inland über den Col de Ste. Lucie (381m)
• sehr feuchtes, schattiges Tal hinunter, dann extremer Gegenwind
• Ostseite belebter als Westseite, gleichzeitig flacher, aber immer noch auf und ab
• Fahrt nach Bastia zieht sich, auch zunehmend etwas weniger reizvoll
• Villen und Gärten mit Blumen auf der Einfahrt nach Bastia
• Hotelzimmer in einem großen Häuserblock, aber zentral
• schönste Seite von Bastia am alten Hafen, entdecke ich erst spät
13.7. Bastia – (N 193/N 198) – Aleria – Ghisonaccia [95 km]• Ausfahrt aus Basta durch Tunnel – offiziel für Velos verboten – Alternative fehlt jedoch
• reizlose Fahrt entlang der Hauptverkehrsader Korsikas
• Verkehr entspannt sich erst nach Abfahrt Richtung Corte
• fahre weiter auf der Küstenroute, Wind wird immer stärker, komme fast zum Stehen
• Strandaufenthalt bei einem der vielen FKK-Camps an der Ostküste
• weiter flaches Land und Gegenwind
• übernachte wild irgendwo am Strand südlich von Ghisonaccia
14.7. Ghisonaccia – (N 198) – Solenzara – Porto Vecchio [60 km]• weiter mit extremen Gegenwind über Solenzara bis Porto-Vecchio
• Nationalfeiertag, alles ausgebucht in der Stadt
• imposantes Feuerwerk vor würdiger Stadtkulisse
• Weg nach la Chiappa ist mir zu weit und umständlich, wieder wildes Übernachten irgendwo im Schilfgürtel gegenüber von Porto-Vecchio
15.7. Porto Vecchio – (D 859) – Figari – Bonifacio [55 km]• nochmal zum Plage de Tonnara, diesmal viel angeschwemmte Algen
• keine Unterkunft in der Mulde vor Bonifacio, daher in die Oberstadt zum Tourismusbüro
• bekomme Appartment, aber wieder zurück, runter und rauf Richtung Leuchtturm
• schön und sauber eingerichtet, Gartenterrasse
• zum Essen nochmal runter und rauf in die Stadt – und runter und rauf zurück
16.7. Bonifacio – Santa Manza – Bonifacio [15 km]• leichter Hügel Richtung Golfe de Ste. Manza
• viele Surfer, nur kleine Buchten
• kaufe in Bonifacio noch Marmelade und Wein als Reisesouvenirs
• korsische Musik in einer Crêperie, aber als Privatkonzert verstanden
17.7. Bonifacio – Figari | (Flug) | Frankfurt/Main, Fhfn | (Bahnfahrt) | Stuttgart [25]• muss meinen zusätzlichen Rucksack vollstopfen, daher wird der Weg über den kleinen Pass recht beschwerlich
• Abschiedsessen mittags im Ort Figari, leckerer Salat mit warmen Ziegenkäse dabei
• nur noch vier Kilometer bis zum Flughafen ausrollen
• Flug verzögert sich, daher gebuchter Anschlusszug in Frankfurt weg
• ärgerlich die Konstruktion des Fernbahnhofs am Frankfurter Flughafen: der heißt nicht nur so, sondern ist auch entsprechend weit von den Terminals entfernt. Dem modernen homo mobilitis wird dazu ein energieverprassendes Laufband zur Verfüging gestellt. Als ich auf der freien, überbreiten Nebenfläche mit Rad fahren will, winken einen gleich Aufsichtspersonen wieder vom Sattel. Übrigens fahren hier Angestellte des Flughafens auf Klapprädern her. Widersprüche, wo man auch hinschaut.
• das Rad muss im IC reserviert sein – für den speziellen Fall des verspäteten Fluges hatte die Bahnangestellte jedoch keine Lösung – ich solle machen, was ich wolle, war die Auskunft – nun gut, das ist auch eine Aussage
• der Zug war spät abends leer, also kein Problem auch für das Rad