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#480402 - 11/16/08 10:45 PM
Große Alpentour der 2000er
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: | 18.6.2005 24.7.2005 |
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: | Austria France Italy Switzerland
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Große Alpenpässe der 2000er Stuttgart || Lindau – Bludenz – Ischgl – Sölden – Meran – Kaltern – Cavalese – Alleghe – Passo Pordoi – Cortina d’Ampezzo – Pieve di Cadore – Toblach – Lienz – Huben – Antholz – Sterzing – Meran – Prad – Tirano – Pontresina – Zuoz – Tiefencastel – Silvaplana – Chiavenna – Splügen – Bonaduz – Ilanz – Andermatt – Gletsch – Innertkirchen – Wassen – Andermatt – Airolo – Ulrichen – Brig – Zermatt – Martigny – Aosta – Cogne – Bourg St. Maurice – Albertville – Beaufort – Bourg St. Maurice – Val d’Isère – St. Michel-de-Maurienne – Briancon – Guillestre – Larche – Vinadio – Isola – Barcelonnette – Colmars – Guillaumes – Valberg – Puget-Théniers – Daluis – Guillaumes – le Lauzet-Ubaye – Tallard – Veynes – Luc – Die – Pont-en-Royans – Villard-de-Lans – Voreppe – Chambéry – Aix-les-Bains – Cusy – Annecy – Genève – Lausanne || Stuttgart Zeit: 37 Tage ≡ 240:10 h (gesamt) ≡ 6:40 h/Tag Distanz: 3493 km (gesamt) ≡ 94 km/Tag ≡ 14,3 km/h Höhe: 56781 Hm (gesamt) ≡ 1577 Hm/Tag Pässe und Bergankünfte (in der gefahrenen Reihenfolge): Bielerhöhe 2036 m Timmelsjoch 2509 m Passo Valles 2033 m Passo Pordoi 2239 m Passo Sella 2214 m Passo Gardena 2121 m Passo Valparola 2197 m Passo Falzarego 2105 m Col San Angelo/Misurina 1756 m Staller Sattel 2052 m Jaufenpass 2094 m Stilfserjoch/P. d. Stelvio 2757 m Berninapass 2328 m Albulapass 2321 m Julierpass 2284 m Malojapass 1815 m Splügenpass/P. d. Spluga 2113 m Oberalppass 2040 m Furkapass 2431 m Grimselpass 2165 m Sustenpass 2224 m St. Gotthard/San Gottardo 2109 m Nufenenpass/P. d. Novena 2478 m Zermatt 1616 m Col du Grand St. Bernard 2469 m Lillaz 1617 m Col du Petit St. Bernard 2188 m Col de Méraillet 1605 m Cormet de Roselend 1967 m Col de l’Iseran 2764 m Col du Télégraphe 1566 m Col du Galibier 2654 m Col du Lautaret 2058 m Col d’Izoard 2360 m Col de Vars 2109 m Col de Larche/Maddalena 1991 m Col de la Lombarde 2350 m Col d. l. Bonette-Restefond 2802 m Col d’Allos 2247 m Col des Champs 2087 m Col de Valberg 1673 m Col de la Cayolle 2326 m Col d’Espréaux 1160 m Col de Cabre 1180 m Col de Rousset 1254 m Villard-de-Lans 990 m Col de la Placette 587 m Col de Couze 626 m Col de Leschaux 897 m Col d’Evires 810 m Ausstattung: Reiserad (Nishiki), 21-Gänge, Rennlenker, 28 mm Reifen, Schutzbleche, Lichtanlage mit Dynamo, Ständer, 2 Trinkflaschen, 1 Lenkertasche, 2 Lowrider, 2 Backpacker (inkl. Zelt, Schlafsack, Schlafunterlage, Kleidung, Waschzeug, Ersatzschlauch, Werkzeug, Kamera, Filme, Karten, Reiseführer, var. Proviant) Karten: 4 x Michelin 1:200 000 (F/CH), 3 x Die Generalkarte 1:200 000 (A/I/CH) Literatur: Schweiz/Liechtenstein (Reise Know-how), Südost-Frankreich per Rad (Cyklos), Mini-Reisewörterbücher Italienisch & Französisch (Langenscheidt), weitere Infos auf Kleinkopien Gesamtgewicht: ca. 35-40 kg Der Bericht wurde nicht mit Blick aufs Internet geschrieben. Daher die epische Länge. Für eine Neugestaltung bin ich zu faul. Ich bitte das zu entschuldigen. – Die Fotos sind (schlecht) eingescannt und stellen nur eine kleinste Auswahl dar. Diese Alpentour 2005 war insgesamt meine siebte große Radreise und die vierte davon, die sich über fünf Wochen erstreckte. Mit knapp 3500 km und einem Schnitt von 94 km/Tag (gemessen einschließlich der Ruhetage) bleibe ich unter den Werten der Vorjahre (bis über 3800 km und 101 km/Tag, teils aber mit einem Tag mehr). Dennoch war diese Tour die schwierigste Tour überhaupt – zumindest wenn es der Papierform nach geht, der Erschöpfungsgrad lässt sich ja schlecht messen und war auf den Touren mit großen Hitzeschlachten wohl deutlich größer, z.B. Andalusien 2001. Während ich im letzten Jahr beim Ritt über die Pyrenäen und das französische Zentralmassiv mehr als 30 Mal Höhenpunkte von über 1000 m.ü.M. (davon drei 2000er) passierte, waren es dieses Jahr gleich 32 Zweitausender-Pässe (!), die ich bezwingen konnte (rein statistisch, denn sowohl Falzarego als auch Lautaret waren nur sog. Abrollpässe, weil von einem höheren Pass kommend – andererseits sind zwei Pässe nur ganz knapp unter 2000 m gewesen, nämlich Roselend und Larche). Der Rekord dieser Tour liegt daher im Höhenmeterbereich (knapp 57.000 Hm) – auch wenn ich erstmals die Höhenmeter mit Unterstützung eines Fahrradcomputers messen konnte und mir Vergleichsdaten der Vorjahre leider nicht vorliegen (geschätzte Daten liegen für Jura-Alpen-Toskana sowie Alpen-Kroatien bei je mindestens 25.000 Hm, für die Pyrenäen-Auvergne-Tour bei mindestens 35.000 Hm). Die Idee meiner Tour war es, eine große Zahl von bedeutenden, höchsten und schönsten Alpenpässen in möglichst vielen und unterschiedlichen Alpenregionen zu einer Rundfahrt zu verbinden. Es sollten möglichst wenig Überschneidungen mit bereits gefahrenen Pässen oder Routen geben (deswegen ohne Großglockner-Hochalpenstraße) und keine Pässe mit extremer Steigung (z.B. Gavia-Pass 16%) oder Schotterpisten (z.B. Col de la Finestre) dabei sein. Ausgangs- und Endpunkt sollten bequem und preiswert mit dem Zug erreichbar, der Endpunkt außerdem flexibel wählbar sein. Leider erwies sich dabei die Schweiz als sperriges Hindernis und einmal mehr habe ich über den grenzüberschreitenden Bahnverkehr zu klagen, der nicht dem zeitgemäßen Mobilitätsbedürfnis entspricht – insbesondere in Verbindung mit einem Velotransport (im letzten Jahr gab es altertümliche Probleme mit Frankreich bei der Buchung eines Drahtesels). Die Mängel liegen nicht nur bei einer nationalen Bahnlinie, sondern auch in der schlecht vernetzten internationalen Kommunikation der nationalen Bahnen. Fast durchgehend erfüllen die euphorischen Werbeslogans zu Bahn+Bike nicht die geweckten Hoffnungen. Das Velo ist immer noch ein unerwünschter Exot im Fernverkehr, leider aber auch im alternativen Flugverkehr. Und preiswert ist es auch nicht. (Näheres dazu im Kapitel der Schlussetappe.) Für mich gab es auch keinen eindeutigen Pass als „Königspass“. Mal waren kleinere Pässe schwieriger als größere, mal sind die Talfahrten super, mal sind es die Bergpanoramen. Es waren fünf Wochen Faszination Alpen voller Höhepunkte – vom ersten Tag im Montafon über die Dolomiten im Osten bis zum Alpenvorgebirge des Vercors im Westen. Letztlich ergab sich aus der Planung auch noch ein rekordverdächtiger sportlicher und eher zufälliger Aspekt: In 32 Tagen 32 Zweitausender zu bezwingen. Tatsächlich habe ich den Col de la Cayolle am 32. Tag als 32. Zweitausender-Pass gemeistert. Die restlichen fünf Tage vervollständigten als Dessert durch mittelgebirgige Alpenregionen das Hauptgericht der 2000er, wobei gerade die vermeintlich leichten Tage am Schluss von einer kleinen Krise gekennzeichnet waren. Eine Tour im Reich der Murmeltiere – „ Le Tour des Marmottes“. Einige Anmerkungen zu den Daten: Meine Höhenmetermessung mittels Fahrradcomputer ist nicht präzise. Soweit mir die Daten aus Karten vorliegen (Tiefst- und Höchstpunkte), habe ich nachgerechnet. Dabei sind an Tagen mit über 1500 Hm Abweichungen von 200 Hm durchaus normal, bei der Dolomitenrunde waren es sogar 450 Hm. Es werden immer zu wenig Höhenmeter angezeigt, weil einerseits der höchste Punkt niedriger vom Gerät festgestellt wird wie auch der tiefste Punkt. Soweit ich mich im leichteren Hügelland befinde, scheint mir die Messung genauer zu sein. Dort kann ich allerdings die Werte nicht genauer überprüfen. Die Tageswerte müssten nach dem Kartendatenabgleich jetzt mit +/- 50 Hm genau sein. Die Geschwindigkeitsmessung ist keine Wettbewerbsmessung! Ich messe fast immer, wenn das Rad rollt, also auch beim Sightseeing in einer Stadt oder beim schieben auf dem Campingplatz. Alles andere wäre zu aufwändig. Die Werte sind daher nur als Anhaltspunkte der Leistung gedacht. Besonders niedrig liegen einige Werte dadurch, dass ich zwei Berganstiege und nur eine Talfahrt an einem Tag bewältigt habe. Wenn ich im Text von gutem Tempo spreche, heißt das immer noch, dass ich langsam unterwegs bin, aber etwas schneller als erwartet. Wenn ich z.B. an den großen Anstiegen von 8-10% mit über 7 km/h hochfahre, ist das ein sehr guter Wert, bei 12% darf es auch schon mal 6 km/h sein – läuft es schlecht oder sind es gar 14%, fällt die „Nadel“ auch schon mal unter 5 km/h. Wichtiger als die reale Geschwindigkeit ist, dass ich einen guten, beständigen Rhythmus finde. Bei Abfahrten lasse ich die meisten Reiseradler hinter mir (fahre wohl etwas riskanter), die meisten reinen Rennradler ziehen aber trotzdem vorbei. Ein natürlicher Grenzwert liegt i.d.R. bei 55-60 km/h, 65 km/h sind schon selten, ein Spitzenwert von 79 km/h (Julierpass) bildet die Ausnahme. In der Ebene fahre ich ähnlich schnell wie ohne Gepäck, meist 22-26 km/h, manchmal -30 km/h. Bei Gegen- und Seitenwind aber wird die Gepäckfront zu einem Bollwerk mit einer überdurchschnittlichen Geschwindigkeitseinbusse gegenüber einem leeren Rad. Auch Strecken im stetigen Auf-und-Ab verlangsamen ein Lastenrad überdurchschnittlich. Noch ein Vergleichswert: Während ich auf der gesamten Tour einen Durchschnitt von 14,3 km/h erreiche, liegt dieser bei meinen heimatlichen Touren durch Alb und Schwarzwald mit minimalem Gepäck (Lenkertasche, 1 leichter Backpacker, Gesamtgewicht des Rades 16-20 kg) bei 19-23 km/h. Das Radreisen dieser Art bedeutet seinem Wesen nach der Entdeckung der Langsamkeit zu folgen. Manchmal schafft jeder Tritt eine neue Wahrnehmung der Bergwelt, wie sich ein Gipfel näher schiebt, ein neuer Zacken im Horizont herauswächst, ein Schatten sich verändert, eine Lichtbrechung mutiert. Die rauschenden Abfahrten sind dabei ein kurzweiliger Kontrast, die mitunter sehr intensive Gefühle freisetzen können. Und in der Ebene kann sich alles in ein Gefühl des Stehenbleibens verwandeln, wenn man trotz kräftigen Tretens nicht glaubt voranzukommen oder der Wind die denkbare Geschwindigkeit halbiert oder gar drittelt (z.B. im Rhonetal). Es kam häufiger vor, dass in langsamen Passagen am Berg – insbesondere wenn ich nicht immer eine gerade Spur halten konnte – die Anzeige auf Null ging. Zusammen mit zwei Mitradlern in der Dolomitenrunde vermutete ich, die Batterie im Sensor sei zu schwach. Eine neue Batterie verbesserte die Anzeige aber nicht. Einige wenige Tage lag aus diesem Grund auch der Kilometerwert falsch, weil ich zu lange auf der Null gefahren war. Entsprechende Verzerrungen treffen wohl auch auf ein paar Geschwindigkeitswerte zu. Starke Hitze und Sonneneinstrahlung wirkten sich ebenfalls ungünstig auf den Computer aus. Der Zeitwert gibt nur die reine Fahrtzeit an, also immer wenn das Rad bewegt wurde. Kleinere notwendige Pausen (Kartenlesen, Verkehr, kurze Stärkung, Verschnaufen) verlängern die Werte für einen realen Tageswert um ca. eine Stunde, dazu kommt mindestens eine größere Pause für ein kleines Mittagessen, was auch ein Sandwich im Rahmen einer Badepause sein kann. Längere Bade- oder Besichtigungspausen sind dann ein „fakultativer“ Bestandteil für die reale Dauer eines Tourtages. Mangels guten Sommerwetters und wegen des hohen Schwierigkeitsgrades der Etappen bin ich häufiger ohne größere (Bade-)pausen durchgeradelt. Das bewirkt auf Dauer allerdings verstärkt Gesäßprobleme. Immerhin kam es auf der Tour zu keinerlei Muskelproblemen wie Wadenkrämpfen etc., die Beine waren weitgehend locker. Gelegentlich habe ich ein erhöhtes Schlafbedürfnis verspürt, woran einige schlecht durchgeschlafene Nächte nicht zuletzt infolge der kalten Nachttemperaturen schuld waren (nicht nur zu warm ist ungut für einen gesunden Schlaf). Die Distanz zwischen zwei Orten kann in Einzelfällen etwas unterhalb meiner Angaben liegen, weil ich sämtliche Fahrten dazurechne – also auch Campingplatz- oder Hotelsuche, abendliche Fahrten ohne Gepäck zum Essengehen etc. Ebenso lassen sich aus meinen Erfahrungen Ruhetage, Halbruhetage oder abgebrochene Etappen (z.B. wegen schlechtem Wetter) nicht eindeutig abgrenzen. Entsprechend nehme ich alle geleisteten Kilometer auf, auch wenn es sich um eine Spazierfahrt ohne Gepäck handelt (Rundfahrt Kalterer See) und beziehe „echte und unechte“ Ruhetage mit in den Durchschnitt ein. Teil 1: Die OstalpenSa, 18.6. Stuttgart |5:32-8:57| Lindau (400m) – Dornbirn – Götzis – Rankweil – Bludenz – Gaschurn – Bielerhöhe (2036m)[116 km – 7:12 h – 16,1 km/h – 1847 Hm] Als ehemaliger Bodensee-Bewohner kann ich es mir leisten, gleich aus dem Lindauer Bahnhof heraus aus der Stadt herauszufahren, ohne die wunderbare Inselstadt näher ins Auge zu nehmen. Noch in diesem Jahr habe ich im Frühjahr den Hauptsee von Meersburg über Bregenz bis kurz vor Konstanz umradelt. Entsprechend ist mir der Uferradweg nach Bregenz bestens bekannt. Jetzt am Morgen ist außerdem noch wenig Betrieb. In Bregenz wähle ich den Weg landeinwärts Richtung Dornbirn. Die stark befahrene Bundesstraße führt teils wie ein gerader Strich von der Vorarlberger Kunst- und Verwaltungshauptstadt in die Handels- und Industriehauptstadt des kleinen österreichischen Bundeslandes. Durch einen gut ausgebauten Radweg lässt sich aber auch dieser Teil schnell – ein wenig Rückenwind – und bequem befahren. Langsam heitert der anfangs bewölkte Himmel auf. Aus der Ebene ragen bei Dornbirn unvermittelt und steil Felsen bis an den Stadtrand auf, ähnlich wie im Allgäu etwa bei Füssen und Schloss Neu-Schwanstein. Ich spüre den Ruf der Berge – Kopf und Beine sind bereit! In Götzis verlasse ich die Bundesstraßenroute nach Feldkirch und schlage den Weg in ein kleines Seitental nach Rankweil ein (Geheimtipp!). Beim sanften Anstieg durch das feuchte, im morgendlichen Sonnenlicht hell-grün schimmernde Tal verspüre ich ein angenehmes Fahrgefühl, der Urlaub hat begonnen. Über einen offenen Wiesenhang führt eine kleine Abfahrt in ein breites Tal aus Wiesen und Weiden. Mehrere Straßen, darunter die Autobahn Richtung Arlberg-Tunnel, verschwimmen im Blick über die Gräser, über denen die aufgewärmte Luft ein sommerlichen Dunstspiegel bildet. In Bludenz nehme ich mir etwas Zeit, durch das Stadttor und ein paar Pflastergassen zu wandeln. Es ist gerade Markt und Gelegenheit etwas Obst einzukaufen. Die Preise des Bodenseeobstes sind überraschend teurer als an dem Bodenseestand, der in der Stuttgarter Bauernmarkthalle seine Waren das ganze Jahr anbietet. Offenbar verleitet die günstige Wirtschaftsentwicklung in Österreich zu einer gewissen Preisspirale nach oben – insbesondere Essen und Lebensmittel scheinen mir einen Preissprung gegenüber dem Niveau von vor zwei Jahren gemacht zu haben. Kurz hinter Bludenz trennen sich die Wege Richtung Arlberg und Silvretta. Ein nunmehr enges Tal entlang der Ill markiert das Montafon. Es ist ein herrliches Tal, unten glitzerndes Wasser, vielfach von Misch- oder Nadelwald im Schatten gehalten, an den Hängen satt-grüne Wiesen mit charakteristischen Häusern aus dunklem Holz. Oben wieder durch Nadelwald bewachsene dunkle Bergkuppen. Unter blauem Himmel frönen zuweilen Paraglider ihrem Hobby. Andernorts hängen Freeclimber unscheinbar im Fels. Ausgesprochen lobenswert ist auch der Radweg, auch wenn einige kleinere Passagen gehärteten Sand/Kies-Belag aufweisen. Es gibt viele Stellen, wo man sich zu einer wilden Badestelle begeben könnte. Ich stoppe in der Nähe einer kleinen Staustufe kurz vor Tschagguns und genieße das Kribbeln des kaltes Gebirgswassers, welches die kräftige Sommersonne gleich wieder von der nackten Haut abdunstet. Der bisher sanfte Anstieg wird nunmehr durch ein paar steilere Stellen Richtung Gaschurn alpiner. Bei Gaschurn fahre ich über offene Wiesenhügel, der Boden wölbt sich Richtung Berge. Noch kann ich ein ordentliches Tempo halten, schwitze aber auch erheblich. Ein paar junge Mountainbiker, die sich wohl in Gaschurn Räder für sportliche Urlaubstage gemietet haben, bleiben noch locker hinter mir zurück. Gaschurn – vor nicht allzu langer Zeit Tatort eines Fernsehkrimis um den Kreuztod bei einem Mysterienspiel (was wohl auch das dortige Sporthotel „Nova“ bekannter gemacht haben dürfte wie auch das Badezentrum „Mountain Beach“) – erstreckt sich über mehrere Teilorte und der Ortskern ist vom Radweg aus nicht auszumachen. Hier sollte eigentlich mein erstes Etappenziel sein, es ist der letzte Campingplatz vor der Passhöhe, der nächste liegt erst in Landeck. Ich bin jedoch wesentlich zu früh für einen Stopp und entscheide mich weiterzufahren. Die Bielerhöhe traue ich mir noch zu, dort gibt es ein Hotel. Auch Galtür oder Ischgl im Paznauntal halte ich noch für möglich. Mittlerweile ist es stark bewölkt und die Luft eher kühl. Kurz nach dem Ortsteil Partenen beginnt mit der Mautstelle die Silvretta-Hochalpenstraße. Es geht gleich steil bergan. Die 8-10% lassen mich nun mit der Steigung kämpfen, es ist mir eher zu kalt. Es geht durch dicht bewaldete Stücke ebenso wie an von Schmelzwasser überflossenem Steingeröll vorbei, entlang halboffener Blumenhänge und durch helleren Mischwald in Kurven nach oben. Zunehmend setzt lichter Lärchenwald den Blick auf alpine Felswände frei. Die Bäume werden knorrig und kurzstämmig. Im schweren Tritt stoße ich in die Einsamkeit des Hochmontafon vor, nur wenige Autos und Motorräder brechen die Stille, die Mautstraße wird ohnehin nachts geschlossen. Lediglich zwei Rennradler passieren mich noch auf der gesamten Strecke. Die einzige Erholungsphase folgt nach einer steilen Rampe (ca. 13%) am Vermunt-Stausee. Ich vernehme Murmeltiere ohne sie zu sehen. Erste eigentümliche Bergpflanzen prägen eine offene Gebirgslandschaft, die auf der gegenüberliegenden Seite in steilen Geröllhängen emporwächst. Schneereste verraten den späten Sommerbeginn dieses Jahres. Nach dem Stausee steigt die Straße wieder bekannt steil weiter an. An einem Aussichtspunkt Richtung Montafontal bleibt der Blick bereits in schlechter Sicht stecken. Hoch am Berg entlang verläuft eine voluminöse, grüne Wasserleitung, die wie ein endloses ET-Wesen den Berg erwandert. Aus einer Zufahrt von unten mit einer Gaststätte kurz unter der Passhöhe kommt ein Rennradler. Er meint, ich könne es bequem noch bis Galtür schaffen. Mein Einwand, dass ich nach 21 Uhr im ländlichen Österreich nichts mehr zu Essen bekomme, will er erst widerstrebend (weil selbst Österreicher), dann aber doch bestätigen. Schließlich meint er, etliche Hotels könnten noch geschlossen haben, sodass ich vielleicht in dem Hotel auf der Bielerhöhe (immerhin 3 Sterne) wohl günstiger übernachten könne als weiter unten. Oben angekommen, liegt die Silvrettagruppe in den Wolken. Der Stausee gibt nur ein trübes Bild ab. Es ist ziemlich kalt. Ich entscheide mich für das Hotel hier am Pass. Ein schönes Zimmer, ca. 55 € kostet mich Zimmer inklusive Abendessen, das es aber eigentlich nicht mehr gibt. Hier schließt die Küche bereits um 20 Uhr! Trotzdem bereitet man mir aus der Kalten Küche noch einen üppigen Salat mit panierten Putenstreifen zu, dazu eine Suppe und Apfelstrudel – letztendlich noch ein schmackhafter Abschluss. So, 19.6. Bielerhöhe – Ischgl – Landeck – Oetz-Bahnhof (750m) – Huben – Sölden (1362m)[119 km – 5:51 h – 20,3 km/h – 725 Hm] Morgens schweift mein Blick aus dem Zimmer auf einen klaren blauen Himmel, der Stausee glänzt in den ersten Sonnenstrahlen. Majestätisch thront die Silvrettagruppe mit den Dreitausendern über dem See, sie heißen Großlitzner, Piz Linard, Hohes Rad, Rauher Kopf und sogar Piz Buin. Der Firn reicht zwischen den hinteren Bergwänden scheinbar fast bis auf die Stauseehöhe runter. Eine vierköpfige Gruppe steigt am frühen Morgen aus einem Auto, bepackt mit Rucksäcken und darin eingesteckten Skiern – es sind wohl erfahrene Skitourenfahrer. Welche Mühsal, mit soviel Last den Berg hinaufzustiefeln nur um ein vielleicht bescheidenes Abfahrtserlebnis zu haben – aber bin ich nicht selbst ein verrückter Lastesel, der das kurzweilige besondere Erlebnis hier in den Bergen sucht? Bei gutem Frühstück unterhalte ich mich einem Deutschen, der hier mit seiner Frau Bergblumen bewundern will. Sie müssen wegen des späten Sommerstarts wohl eher nach unten als nach oben, denn die Pflanzenwelt lässt sich noch Zeit ihre volle Pracht zu entfalten. Die morgendliche Bergluft jedenfalls erreicht winterliche Kältegrade. Das Licht, die leuchtenden Bergwiesen, durchzogen von überlaufenen Bergbächen und wilden Schmelzwasserrinnsalen, kreisende Raubvögel in der ersten Thermik des Tages und die alles wieder klein machenden Berge lassen mich staunend über das Wunder der Natur hinuntersausen – und prompt erhasche ich einen Blick auf ein Murmeltier dicht an der Straße – allerdings gleich um Unterschlupf bemüht. Ihre Stärke ist nicht die reale Fluchtgeschwindigkeit, sondern die stete Nähe zu einem Erdloch, in das sie sich schnell in Sicherheit bringen können. Dabei sind sie stabsmäßig organisiert und werden von ihren Wachposten immerzu zur Vorsicht gemahnt. Diese possierlichen dickpelzigen Tierchen, die sich höchst selten mit dem Auge ausmachen lassen, beherrschen mit ihrem Pfeifen akustisch weite Teile der Bergwelt (eigentlich bellen Murmeltiere, dazu mehr in der zweiten Engadin-Etappe). Noch vor dem ersten Ort Galtür zweigt eine Straße zum Zeinisjoch ab, wo auf über 1800 m auch ein entlegener Stausee mit einer einfachen Unterkunftsmöglichkeit liegt. Mountainbiker können sogar einen Rundkurs nach Partenen fahren. Für mich geht es weiter runter, ein erstes Radreisepaar kommt mir entgegen, vermutlich von Galtür oder Ischgl gestartet. Das noch ruhige Galtür bestärkt meine These des Vorabends, dass auch hier um 20 Uhr der Ort zu schlafen beginnt. Noch deutlicher wird das in Ischgl. Es gibt ein fast unerschöpfliches Unterkunftsangebot. Fast jedes Haus hat irgendetwas mit Fremdenverkehr zu tun. Dennoch trügt der Schein, denn alles orientiert sich am Wintersport und der Sommer beginnt hier frühestens am 1. Juli – entsprechend häufig lese ich „Bis 1. Juli geschlossen“ – typisch für große Teile der österreichischen Berggebiete und das angrenzende Südtirol. Das Freizeitangebot richtet sich überwiegend an Wintersportler. Skiverleiher belassen ihre Angebotsschilder für den Winter, obwohl sie auch Aktivitäten für Bergwanderer, Mountainbiker und andere Sommersportler anregen. Der Sommer bietet nur ein Nebengeschäft. Daher sind die Sommerpreise in den Hotels meist deutlich günstiger als im Winter. Nur noch teilweise eröffnen sich Abfahrtspassagen, flachere Passagen erfordern schon ein kräftiges Strampeln, um ein gute Geschwindigkeit zu halten. Es wird zunehmend wärmer und kurz vor Landeck kann ich bereits ein sehr luftiges Sommer-Outfit anlegen. Landeck hat sich an einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt zu einem wichtigen Industrieort entwickelt. Arlbergroute, Silvrettastraße, Inntal Richtung Engadin, über Reschenpass Richtung Südtirol, Nach Osten Richtung Innsbruck führen hier einige der niedrigsten und daher auch meistbefahrenen Alpenübergänge zusammen. Entsprechend unappetitlich ist das Verkehrsaufkommen für den Radfahrer und ich bin bald froh, dem stinkenden und lärmenden Treiben zu entkommen, allerdings kann ich zunächst dabei den einmal angekündigten Radweg nicht entdecken. Trotz paralleler Autobahn ist auch die Bundesstraße stark befahren. Irgendwann kann ich dann ruhiger auf dem Radweg teils direkt am Inn entlang radeln. Es gäbe diverse Möglichkeiten am Fluss zu rasten, die Fließgeschwindigkeit des kanalisierten Inns ist aber so hoch, dass das Baden zu gefährlich wäre. Das Inntal ist immer noch weitgehend eng zugeschnitten, erst bei Arzl öffnet sich eine breite Ebene (Abzweige Richtung Imst, Fernpass und Hochtannbergpass – eine Route, die ich auf einer Kurztour mit kleinem Gepäck Ende Oktober desselben Jahres noch fahren sollte). Gleich schnüren beidseits die Felsen den Flusslauf wieder ein. Auf einer Seite verläuft die Bahnlinie, auf meiner Seite (der Radweg endet hier) muss die Straße einen Bogen über einen kleinen Hügel machen. Ein ungemein trockener Gegenwind erschwert in der mittlerweile heißen Mittagsluft das Fahren. Es geht nun ohne Schatten weiter. Mit der Route ins Ötztal ändert sich daran zunächst nichts. Landschaftlich bietet das untere Ötztal wenig Aufregendes. Kurz hinter Oetz gibt es ein paar steilere Kehren, denen aber gleich wieder ein flacherer Teil folgt. Solch unrhythmischer Verlauf prägt das fast gerade und in die Länge gezogene Ötztal. Insgesamt ist die Strecke einfach zu bewältigen, weil die Straße bis Sölden auf ca. 30 km nur ca. 500 Höhenmeter gewinnt (gute Pässe geben einem dafür gerade mal 4 km). Beidseits der Ötztaler Ache überwiegt an den Hängen Nadelwald, nach Süden schaut man im Sichtkanal des Tales auf die weit entfernten Spitzen der Ötztaler Alpen – vielleicht heißt einer Grießkogel, vielleicht Brunnenkogel oder Kirchenkogel. Dieses Bild bleibt lange im Auge. Auch die durch große Steinblöcke weitgehend kanalisierte Ötztaler Ache mit dem grau-braunem Sediment des Schmelzwassers bietet wenig Abwechslung. Das vortags befahrene Montafon war da deutlich attraktiver. Irgendwo zwischen Umhausen und Längenfeld suche ich beim Abzweig nach Köfels eine Badestelle, die aber nicht sehr bequem ist. Die Ötztaler Ache eignet sich nur wenig und derzeit gar nicht zum Baden. Das viele Schmelzwasser hat sie in einen reißenden Gebirgsfluss verwandelt. Nach der größten Mittagshitze nehme ich die Fahrt wieder auf, wohl wissend, dass ich Sölden bequem erreichen werde und das Timmelsjoch samt Abfahrt nicht mehr machbar ist. Nach Längenfeld (exklusives Badezentrum) in einer Ebene rückt das Tal dichter zusammen, die Straße schlängelt sich mit mehr Tuchfühlung zur Ache durch früh schattig werdende Passagen. Überraschend hat sich der Gegenwind mittlerweile in einen Rückenwind gewandelt. Hin und wieder ein kleineres Steilstück und bald bin ich in Sölden, nochmal ein kleine Talöffnung, bevor es steiler Richtung Timmelsjoch geht (oder aufwärts die Ötztaler Gletscherstraße, eine Sackgasse auf über 2800 m). Zwei, drei Stunden könnte ich noch fahren, aber eben nicht genug Zeit, bis San Leonardo zu kommen. Sölden hat den letzten Camping vor der Passhöhe, wenngleich eine Reihe anderer Unterkunftsmöglichkeiten auf dem Passwege noch folgen, worüber ich hier aber keine Informationen habe. Es ist jetzt Zeit das mitgeschleppte Zelt zu nutzen – auch um das Budgetloch der ersten Nacht etwas auszugleichen. Und der Camping ist schön gelegen, gleich in Ortsnähe und sehr komfortabel. Auch in Sölden sind viele Hotels und Restaurants bis zum 1. Juli geschlossen. Wintersport ist der eigentliche Tourismus. Viele vermieten zwar ihre Zimmer, die Gastronomie liegt völlig brach. Es sind nur ca. drei als Restaurant zu bezeichnende Gaststätten offen. Durchschnittliche, aber deftige Kost in einer zünftigen Gaststätte mit nervender Musik – ein Bauerngulasch (mit Spiegelei und Knödel) erweist sich etwas streng im Geschmack. Ein klarer Nachthimmel mit kräftigem Mondlicht verbreitet romantisches Feeling – leider wird es hier schon recht kühl – es ist eben nicht Mittelmeer. Mo, 20.6. Sölden – Timmelsjoch (2509m) – San Leonardo – Merano (325m) – Kaltern (426m) – Kalterer See/St. Josef[123 km – 7:34 h – 15,9 km/h – 1410 Hm] Der klaren Nacht folgt auch ein klarer Tag. Um ca. 7:40 Uhr starte ich, auf einer Baustelle wird schon kräftig gearbeitet. Einer ersten steilen Rampe folgt sogar eine Zwischenabfahrt durch ein schattig enges Tal nach Zwieselstein. Hier zweigt das geradlinige Venter Tal ab. Bereits zum zweiten Mal „beginnt“ hier die Timmelsjochstraße mit einer Schranke, die bei entsprechenden Schneemengen die Straße sperrt. Die Steigung verläuft unrhythmisch, steile Rampen (bis 15%) und flachere Passagen wechseln sich im Gurgltal ab. Der Wald lichtet sich zunehmend mit Lärchenbewuchs, offene Galerien bieten zusätzliche Facetten. Dann öffnet ein weites, eher flaches Tal den Blick Richtung Obergurgl und das Firnfeld Großgurgler-Ferner mit den weißen Spitzen diverser „Kogels“. Verschiedene Hotels und Gasthöfe (einige sind geöffnet, darunter eine heimelig anmutende „Dorfalm“) liegen hier an der Straße, Richtung Obergurgl scheint es noch deutlich mehr zu geben. Bei einer kleinen Rastpause genieße ich die wärmende Morgensonne, deren Strahlen die Gurgler Ache wie glitzernde Perlen spielen lässt. Schon wieder „beginnt“ die Timmelsjochstraße mit einer Schranke, aber immer noch nicht handelt es sich um die Mautstelle. Mit konstanten ca. 12 % erklimme ich die weiteren Kurven durch einen Waldteil, bis endgültig der Blick dauerhaft frei wird. Kurz vor der Mautstelle Hochgurgl gibt es herrliche Panoramablicke Richtung Obergurgl und den Kogel-Spitzen sowie nach Norden über das Ötztal, das man zwar nicht einsehen kann, aber dessen bewaldete Berghänge zusammen mit den hier oben eigenartigen Baumbewuchs ein etwas urtümliches Bild abgeben. An der flachen Passage um die Mautstelle habe ich das Gefühl, der Passhöhe nahe zu sein – immerhin bin ich schon auf über 2170 m. Doch nach einem scharfen Knick am Windeck fällt die Straße wieder deutlich ab (auf 2100 m). Die Vegetation ändert sich schlagartig. Mondartige Geröllhänge werden von einer spärlichen Alpenflora unauffällig geschmückt – blauer Enzian und rote Alpenrosen. Überall läuft Schmelzwasser am Berg, in der unteren Wiesenmulde um den Flusslauf weiden Almkühe und wenig später heißt es bremsen, denn eine Gruppe der Wiederkäuer ergreift von der Straße Besitz. Zwangspause auch für eilige Autofahrer. Mittlerweile sind die später gestarteten Rennradler aus verschiedenen Winkeln des Tales an mich herangerückt. U.a. passieren mich Teile einer holländischen Transalp-Gruppe, die von mehren Begleitwagen versorgt und angefeuert werden. Ich bekomme viel Zuspruch und auch einen Becher Wasser sowie ein wenig „Anschubhilfe“. Jetzt brauche ich ständig Verschnaufpausen, auch um mich an die Höhenluft anzupassen. Bis zur Mautstelle hatte ich eine weitgehend flüssige Fahrt, jetzt muss ich schon etwas kämpfen. Zwei Reiseradler mit kleinem Gepäck – ebenfalls aus Stuttgart! – muss ich letztlich davonziehen lassen, wir treffen uns am Pass wieder. Überall liegen noch Altschneereste, obwohl die Sonne recht intensiv daran nagt. Schließlich kann ich meine erste Bewährungsprobe auf dieser Tour bestehen. Das als schwierig geltende Timmelsjoch ist mit seinen 2509 m geschafft (ich habe Kartenangaben mit 2491 m?). Meiner Zeitprognose gut voraus, kann ich dem restlichen Etappenverlauf gelassen entgegen sehen. Die Sonne strahlt recht intensiv ein, aber ein giftiger Wind mit der kalten Luft erlaubt es nur im Windschutz etwas zu Essen (sogar der Käse fliegt mir vom Brot). Die Gastronomie hier oben ist bescheiden und überteuert, da gibt es bessere Passdomizile. Mit der Passüberquerung überschreite ich auch die Landesgrenze zu Italien. Doch in Südtirol fühle ich mich eher wie in einem südlichen österreichischen Bundesland – das eigentliche Italien ist hier in Sprache, Kultur und Mentalität weit weg, so werden es die nächsten Tage noch belegen. Kurz nach dem Pass folgen mehrere kleinere Tunnels, die unbeleuchtet sind und gefährlich schlechte Straßenbeläge aufweisen. Es tropft von Wänden und Decke. Trotz der Kürze der Tunnels ist daher Vorsicht geboten. Die Straße wird dann etwas besser, man sollte jedoch ständig auf Schläge gefasst sein und in verschiedenen schmalen Passagen auf Gegenverkehr vorbereitet sein. Eine also nicht ganz ungefährliche Abfahrt, insbesondere wenn man es laufen lassen will wie ich. Aber die Abfahrt ins Passeiertal ist grandios! Wunderbar lieblich geschwungene, im saftigen Grün leuchtende Almwiesen mit Blumen geschmückt liegen über der unten im Tal rauschenden Passer. Die Straße drückt sich an Felsen, taucht steil hinab in eine Waldpassage, bietet dann wieder freie Blicke ins Tal. Das ständige Rochieren auf dem Sattel macht richtig Laune. Bald erreiche ich talwärts die warmen Luftschichten eines Hochsommertages. Nur noch im spärlichen Triathlon-Outfit bekleidet streichelt der Fahrtwind kühlend die Haut. Steile Kehren führen schließlich wie aus der Vogelperspektive über San Leonardo hinunter. Nach dem Zusammenschluss mit der Jaufenpassstraße verläuft die Route nur noch leicht abfallend bis ganz flach durch das untere Passeiertal. Ab St. Martin benutze ich den Radweg, der vielfach nicht asphaltiert, aber dennoch ordentlich befahrbar ist. Er liegt unmittelbar an der Passer und ich finde schließlich einen sehr schönen Platz, wo man wunderbar – natürlich auch nackt – baden kann. Große runde Steinblöcke liegen wie gestreut im Fluss, Eschen und Pappeln schimmern silbrig im Sonnenlicht, sogar ein Sandstrand liegt im Schatten der Uferbäume. Zeit zu genießen. Ich muss mich zum Aufbruch zwingen, denn obwohl ich leichtes Terrain erwarte, liegen noch etliche Kilometer vor mir – und man weiß ja nie, wie es weitergeht. Kurz nach der Badestelle wechsele ich wieder auf die Straße. Wer den Radweg weiterfährt, kann auf dem festgestanzten Sand-/Kiesbelag auf Höhe der Passer bis Meran durchradeln. Ich empfehle jedoch die Straße über Rifflan, denn sie bietet nach leichtem Anstieg sehr schöne Panoramablicke ins Tal, führt an Weinbergen vorbei in Manier einer sanft-kurvigen Höhenstraße und öffnet schließlich wunderbare Aussichten auf die noblen Jugendstil-Villen und lieblichen Gartenhänge von Meran. Erst kurz vor Meran und noch durch das Stadtgebiet geht die Straße nach unten. In einer Kurve erkenne ich das Palace-Hotel mit seinem großen Gartenpark wieder, in dem ich als Kind zweimal den Osterurlaub zugebracht habe. Äußerlich hat sich wohl nur wenig verändert. Meran mag ein mondäner Kurort sein, nichtsdestotrotz tobt hier ein höllischer Verkehr – fast schon ein Moloch. Die Ausschilderung ist mangelhaft, zumindest wenn man nicht Autofahrer ist. Für Räder gesperrte Straßen und die Ausrichtung auf die Autobahn machen es für mich derart unübersichtlich, dass ich zunächst falsch nach Lana fahre, von dort suche ich wieder den Weg über die Etsch nach Burgstall. Es sind mindestens 5 km Umweg. Dazu kommt ein extrem zermürbender Gegenwind im Etschtal, ich komme kaum voran, der Mund immerzu ausgetrocknet. Nach Nals durchstreift die Straße die schier endlosen Obstanbaufelder – meistens Apfelbäume. Baum steht in Reihe und Glied. Sprinkleranlagen wässern geräuschvoll „Tscht tscht tscht“ oder „Tchscht kling tchscht kling“ etc. – jedes Gerät hat dabei seinen eigenen Sound. Agroindustrielle Produktivität und die Frage „Ist dieser Apfel gesund?“ Bald erblicke ich erstmals über die Plantagen hinweg die Dolomitenberge am Horizont. Wieder ändert sich der Charakter der Alpen grundlegend. Sandig-helle Felskegel- und Spitzen trotzen wie kunstvolle Mauern in Kargheit der fruchtbaren Ebene. Ich wähle eine etwas schwierige Nebenroute über St. Paul, Eppan nach Kaltern, der Anstieg ist nach der langen Fahrt durch die Ebene und gegen den Wind besonders mühsam, die Beine wollen nicht mehr richtig. Immerhin geht es auch hier noch einmal über 100 Hm nach oben. Während Kaltern auf der Höhe liegt, ruht der Kalterer See unter den Weinbergen, durch die eine recht belebte Straße hinabführt. Der erste Camping („Gretl“) ist voll belegt. Ich könnte einen unangenehmen, harten Randplatz bekommen, der eines Urlaubsplatzes allerdings nicht würdig ist. Da ich einen Ruhtag geplant habe, entscheide ich mich trotz der Gefahr, der Essenszeitschranke in die Falle zu laufen, für die Weiterfahrt zum zweiten Camping St. Josef weiter südlich. Dort ist noch genügend Platz, jedoch trennt eine unzureichende Lärmschutzwand den Camping von der Straße, die auch noch nachts mäßigen Verkehr trägt. Das Campingrestaurant hat schon geschlossen und es gibt hier keinen Ort. Also radele ich nach dem Zeltaufbau bereits im Dunkeln zurück zum touristisch stärker frequentierten Bereich des ersten Campings – auch kein richtiger Ort, aber eine Ansammlung von Hotels, Pensionen und Ferienwohnungen. Nach 21 Uhr ist hier auch kein reguläres Essen mehr zu bekommen, aber immerhin gibt es noch Pizza. Nicht nur Sprache und Mentalität sind in Südtirol österreichisch, auch die Küchenschließzeiten sind unitalienisch. Der Service ist eher unfreundlich, das ist dann wieder eher etwas italienischer oder eben auch ein wenig deutsch. Als krönenden Abschluss des Tages nehme ich, zurück beim Camping, ein nächtliches Bad im See unter vollem Mondlicht – da ist er wieder, der Romantiker. Trotzdem ist auch hier die Zivilisation nicht weit. Aus der Ferne bricht das ständige Rauschen, das aus den Verkehrsadern von Autobahn und Eisenbahn im Etschtal gespeist wird, die Stille über der Wasseroberfläche, in der der Widerschein des Mondes die Träumereien der Seele ins nächtliche Bild setzt. Wohlig warm ummantelt die leichte Brise den schlafdürstenden Körper. Ich entschlummere in stiller Zufriedenheit über das Geleistete. Di, 21.6. 2 x Seerundfahrt Kalterer See/St. Josef – Tramin – St. Josef (Ruhetag)[26 km – 2:02 h – 12,6 km/h – 103 Hm] Nach drei Tagen bei einer solchen Tour bereits einen Ruhetag einzulegen, erscheint zunächst einmal ein bisschen früh. Doch ist es gerade in der ersten Phase einer Tour wichtig, nicht das Pensum zu überziehen und für lockere Beine zu sorgen. In einer späteren Phase bin ich gut eingerollt und kann dann auch mal zwei Wochen durchradeln, Muskelprobleme treten dann i.d.R. nicht mehr auf, eher schon Gesäßprobleme oder Müdigkeit. Außerdem erwartet mich folgend die von mir etwas angstvoll, weil vielleicht zu schwierige große Dolomitenrunde. Im Nachhinein betrachtet hätte ich den Ruhetag wohl nicht unbedingt nötig gehabt und auch die Angst vor den Dolomiten war eher übertrieben. Aber ich bin ja auch im Urlaub – es gibt genügend Leute, die ich unterwegs treffe und gerade das bei dieser Tour bezweifeln wie auch schon bei vergangenen Touren. Nun, ich würde es selbst schon Urlaub nennen, treffender finde ich aber den Begriff „Reise“. Denn immer ist der Weg mein Ziel, die Touren sind unglaublich bereichernd an Erfahrungen und das Beschwerliche gehört zur echten Reise ebenso wie das Leichte und Entspannende. Vielleicht hat Auto und Flugzeug den Menschen zu weit von der ursprünglichen Idee des Reisens entfernt. Die Trend- und Abenteuersportarten in der Urlaubsenklave sollen dann das verlorene Gefühl wieder zurückbringen. Da bleibe ich lieber bei meinem organischen Reiseverständnis. Morgens radele ich um den Kalterer See. Von der Westseite und nach Norden ziehen sich die Weinhänge hoch. Nach Süden öffnet sich die Ebene Richtung Etschtal und es ist genügend Platz für Obstplantagen. Im Osten liegen steilere Waldhänge, über die man hinauf zur Ruine Leuchtenburg kommen kann. Auf dieser Nordostseite liegen auch die hübschesten Pensionen und Hotels. Der Platz zum Baden am See ist recht eingeschränkt, denn neben zwei offiziellen Strandbädern versperren Privatstrände der Hotels des Zugang, ein weit größer Teil des Sees ist aber durch eine naturgeschützten Schilfgürtel unzugänglich – besonders im Süden, dort kann man einem Naturbeobachtungspfad folgen und die Uferfauna und -flora studieren. Als besten Badeplatz zu einem herrlich faulen Nachmittag wähle ich den Steg gleich anbei des Campings. Abends nehme ich nochmal das Rad für eine Exkursion ins nächstgelegen Weindorf im Süden, Tramin. Überraschend sind die Speisekarten trotz der Weinkultur sehr bescheiden. Einige enthalten nicht mehr als zwei bis drei Gerichte. Braten oder Schnitzel. Die Zubereitung der Speisen in Südtirol ist oft ähnlich banal. Da geben sich die Südtiroler deutscher – oder besser österreichischer als ihre Nachbarländer im Norden – Italien, das ist klar, ist hier sehr weit weg. Immerhin finde ich ein schönes Gartenrestaurant im Innenhof des Hotels. Dort probiere ich Ochsenfilet mit Bozner Soße (kalte Eiersoße), ein flambiertes Zuckerstück über der Zitronenscheibe ist der kleine Clou – insgesamt ein ansprechendes Mahl. Am Nachbartisch diskutieren vier Mountainbiker mit dem Wirt, der wohl auch Mountainbiker ist, über verschiedene Dolomitenerlebnisse. Ich bemerke, dass die Mountainbikerwelt wieder eine ganz andere als die meine ist. Aber auch die Mountainbiker grenzen sich wieder bewusst von den Downhillfahrern ab, halten diese für lebensmüde Spinner. So ist das – viele kleine Völkchen voller Spinner – ich bin ja auch so einer. Zurück am Camping, leiste ich mir noch einen Eiskaffee. Mein etwas seltsamer, langhaariger, schlaksiger Zeltnachbar sitzt auch noch auf der Terrasse des Campingrestaurants. Er hat schon einige Gläschen runtergeschluckt und klagt über deutsche Politik, über Arbeitslosigkeit und die Stuhlkleber auf dem Arbeitsamt, die er für unfähig hält. „Die kriegen doch ihren Arsch nicht hoch! Was ich schon geleistet habe – da stecke ich die locker in die Tasche. Die können nichts und stecken sich die Knete in die Tasche! So wird das nix! Das werden immer mehr Arbeitslose...“, so schimpft der Mann vom Niederrhein zu mir rüber. Obwohl er einen ziemlich „abgebrannten“ Eindruck macht, so manches, was er von sich gibt, ist einfach zustimmungswürdig. Nun, differenziert konnte ich nicht mit ihm diskutieren und irgendwann ist so ein Gespräch recht nervig. Da ist es gut, wenn die Lichter in der Bar ausgehen und ich jetzt meinen Schlaf für die Anstrengungen des nächsten Tages suche. Mi, 22.6. Kalterer See – Ora (236m) – Cavalese – Passo Valles (2033m) – Cencenighe (773m) – Alleghe – Pieve di Livinallongo (1475m)[110 km – 8:05 h – 13,6 km/h – 2465 Hm] Es wird meine früheste Abreise werden. Um 6:40 Uhr starte ich bei klarem Himmel und rolle durch die Obstplantagen nach Ora (Auer). Mit 236 m ist es der tiefste Punkt auf der Ostseite meiner Tour. Die aufsteigende Straße ist schon von sichtbar und wirkt recht martialisch. Tatsächlich erweist sich die Steigung aber als recht gemäßigt. Bald sind die ersten Hügel unter mir, klein und unbedeutend – schienen sie von unten betrachtet doch noch fast unbezwingbar. Und wieder eine Ebene höher, und wieder alles etwas kleiner. Bald weicht die offene Szenerie einer Waldfahrt entlang des Schwarzenbachs. Die Straße ist nun recht steil und ich gewinne stetig an Höhe. Ich sehne mich nach einem Kaffee, muss aber längere Zeit warten. Ein sehr schönes Gasthaus mit dem vielversprechenden Namen „Pausa“ hat leider noch geschlossen. Nicht mehr weit von einem ersten Scheitelpunkt liegt ein kleiner Ort (ich glaube Kaltenbrunn, so heißt auch ein Ort im Schwarzwald…), wo ich endlich mein wohl verdientes kleines Frühstück bekomme. Ich sehe einen Rennradler vorbeifahren, der schwer zu kämpfen hat. Wenig später habe ich ihn eingeholt. Am Scheitelpunkt (offenbar kein echter Pass) gibt es eine Wasserstelle und wir kommen kurz ins Gespräch. Der Italiener ist 60 Jahre alt! Er ist begeistert von meiner Leistung – aber eigentlich ist seine Leistung doch höher einzuschätzen. Er kann kein Deutsch oder Englisch, unser Gespräch funktioniert daher nur aus einem Mischmasch von Sprachen sowie Händen und Füßen. Er fährt zunächst die gleiche Richtung, wählt aber später den Karerpass weiter nördlich während ich den Passo Valles angehe. Auf der kleinen Abfahrt fährt er wieder vorne weg, bleibt aber noch bis Cavalese in Sichtweite. Hier halte ich schließlich, um mir noch einige köstliche Minitörtchen aus einer Konditorei zu leisten. Cavalese ist eine lebhafte Kleinstadt mit einem wunderschönen Ortsbild. Doch auch die Halbhöhenlage über dem Tal sorgt für herrliche Panoramablicke, insbesondere östlich von Cavalese. Die Straße verläuft eben, aber in Kurven über dem mittelbreiten Tal. Über dem hell leuchtenden Grün der Wiesenhänge flimmert die heiße Luft. Eine echte Traumstraße schlängelt sich durch das untere Val di Fiemme. Nur leichte Steigungen folgen bis Predazzo – auch für wenig Trainierte ein Tipp für eine Radltour. In Predazzo biege ich ins Val Travignolo ab. Das Landschaftsbild wandelt sich umgehend. Dunkler Tannenwald säumt die Berghänge eines engen Tales, graue alpine Gipfel rücken näher, die Straße wird steil. Bald folgen offene steile Wiesen und ich habe zu kämpfen. In Bellamonte, der letzten geschlossenen Ortschaft vor dem Pass und noch in einer steilen Passage gelegen, besorge ich mir ein Mittagssandwich. Nach dem Ort schlängelt sich die Straße wieder flacher durch einen Nadelwald, dann verläuft sie oberhalb eines Stausees, der noch längst nicht voll gelaufen ist. Der Himmel ist nunmehr stark bedeckt, sogar Regen droht. Sofort weicht das Sommergefühl einem Kältegefühl. Die Straße zum Passo Valles zweigt kurz vor dem Passo di Rollo ab. Hier geht es mäßig steil hinauf, der Gebirgsfluss rückt immer näher an die Straße, verschiedene Picknickplätze laden zur Rast ein. Nach einem kurzen Bad im eiskalten Wasser fröstelt es mich sofort, wenn die Sonne hinter den Wolken verschwindet. Der letzte Abschnitt ist wieder heftig steil (Rampen bis 13%) und führt durch helleren, aber dichten Lärchenwald, der fast bis zur Passhöhe reicht. So taucht der Pass fast unvermittelt auf, nur noch ein paar Kehren durch die oberen Wiesenhänge und es ist geschafft. Im Hospiz bekomme ich ein leckeres Bruschetta und heiße Schokolade – molto bene. Die Abfahrt ist sehr steil und schnell vorbei. Immer wieder tauchen die Dolomitenberge in neuen Facetten auf, verschwinden im Blickfeld des engen Tales. Schließlich muss ich der Versuchung widerstehen bis Belluno oder Venedig durchzurasen, weil ich gerade soviel Schwung mitnehmen könnte. Also bremsen für die nächste Auffahrt. Etwas mühsam winde ich mich nach der rauschenden Abfahrt auf der Straße nach Alleghe. Ich muss wieder auf einen Bergrhythmus umstellen, was nach längeren Flach- oder Abfahrtsstrecken stets schwer fällt. Letztlich ist die Strecke noch nicht so schwierig. Der See von Alleghe ist sehr schön gelegen, strahlt eine idyllische Ruhe aus, obwohl ein großes touristisches Angebot vorhanden ist. Vom See steigen dunkle Tannenwaldhänge steil hinauf, aus denen oben Felszapfen herausragen, die die unverwechselbare Dolomitenwelt prägen. Es wäre ein schöner Etappenort, aber ich habe mir ja ehrgeizige Ziele gesetzt und führe meine Fahrt fort. Nochmal stärke ich mich aus einem Supermarkt in Caprile. Ein letztes Mal überlege ich, ob ich doch den Tag beenden soll, doch ich mache weiter, denn eigentlich wollte ich mindestens bis Arabba kommen – nach Plan sogar bis zum Pordoipass. Dabei habe ich aber die Kilometer nicht richtig zusammengezählt und die Höhenmeter nicht korrekt mit einbezogen – es wäre schlicht nicht machbar gewesen. Ich wähle die auf der Karte weiter westliche Route (geringfügig kürzer), es gibt eine Alternative als rote Straße eingezeichnet – beide kommen etwa an gleicher Stelle heraus. Die Straße steigt steil an und ich glaube, dass ich durch ein Tal komme, das noch weitgehend flach ist. Ich habe aber die Karte nicht genau genug studiert bzw. dort fehlen entsprechende Höhenangaben, um den Schwierigkeitsgrad einschätzen zu können. Der Weg nach Pieve di Livinallongo ist aber schon ein gewichtiger Teil für die Fahrt zum Pordoipass. Zu allem Übel verliere ich in zwei kleineren Zwischenabfahrten Höhenmeter, die dann in entsprechend steilen Passagen wieder zurückerarbeitet werden müssen. Das alles wäre auch noch nicht so dramatisch, aber es gibt ja diese Probleme mit dem Zapfenstreich der Köche bevor es dunkel wird. Ich beginne das Ende zu ersehnen und bin erfreut, endlich einen Ort zu erreichen. Ein erstes (Panorama-)Hotel oberhalb der Straße erscheint mir zu exklusiv, so wähle ich eines direkt im Dorfkern. Die Küche hat – es ist ja nun schon bekannt – um 20 Uhr geschlossen. Doch immerhin kann ich noch eine Suppe, Spaghetti und Pannacotta mit Waldbeeren aushandeln. Da ist es nur noch ein Kuriosum, wenn in dem stillen Bergort die Nachtruhe massiv durch einen ladinisch herumkrakeelenden Spinner gestört wird. Trotzdem kann ich noch einen guten Schlaf vermelden. Do, 23.6. Pieve di Livinallongo – Passo Pordoi (2239m) – Passo Sella (2214m) – Passo Gardena (2121m) – Passo Valparola (2197m) – Passo Falzarego (2105m) – Cortina d'Ampezzo – Pieve di Cadore[115 km – 7:44 h – 14,9 km/h – 2219 Hm] Bei Traumwetter kann ich auf die große Dolomitenrunde gehen – vier bzw. rein statistisch sogar fünf Zweitausender will ich an diesem Tag bewältigen. Das geht natürlich nur, weil die Distanzen zwischen den Pässen sehr kurz sind und auch die Tiefpunkte zwischen den Pässen relativ hoch liegen. Die Gesamthöhenmeter des Tages liegen sogar unter denen des Vortages, aber die Höhendifferenz zum Passo Valles gehört schon zu den größten, die ich an einem einzigen Pass bei dieser Tour zu bewältigen hatte. Eine leichte Passage reicht bis Arabba, wo zahlreiche Hotels den Eindruck eines überlaufenen Touristenortes machen. Wanderer, Motorradfahrer, Oldtimerpiloten und Velofahrer beraten und starten an allen Ecken in den herrlichen Ausflugstag. Den von hier ebenso erreichbaren Passo Campolongo als vollständigen Teil einer großen Rundfahrt um das Sella-Massiv fahre ich nicht – er ist unter den hier auf engstem Raum befindlichen Dolomitenpässen der einzige unter 2000 m und nach einem späteren Gespräch mit erfahrenen Dolomitenradlern auch weniger attraktiv als die anderen. In Serpentinen an einem weitgehend offenen Hang strebt die Straße nach oben. Glitzernd sprudelnde Bergbäche, blumenbunte Almweiden, blendend helle Spitzzacken und Quaderfelsen – majestätisch emporragend, grün schimmernde Grasteppiche, funkelnd blauer Himmel und eine trocken-reine Luft lassen mein Herz höher schlagen – wundern, staunen, besinnen, Demut vor der puren Schönheit. Trotz des regen Verkehrs fühle ich mich als Herrscher der Straße. Etliche Autofahrer, Busse und auch Motorbiker haben mit den engen Kurvenradien so ihre Probleme. Eine ganze Serie von alten Rennwagen (mit den Nummern auf kreisrunden weißen Punktflächen) – alle ähnlichen Typs – flaniert auf dem Bergboulevard. Der Oldtimer-Showlauf hält bis zum Nachmittag an, zum Glück stinken die alten Blechkisten weniger als manch moderner Diesel. Bald überholen mich die ersten Rennradler, einige haben ein beängstigend hohes Tempo drauf. Ich lerne zwei Berliner, die mittlerweile Hamburger sind, bei einer kleinen Verschnaufpause kennen (eigentlich saßen sie schon im Hotel am benachbarten Frühstückstisch, waren aber nicht als Radler zu erkennen). Sie stürmen ohne Gepäck, aber mit recht klapprigen Rädern ohne professionelle Montur den Berg hoch, überholen sogar manchen der feschen italienischen Radamateure auf ihren Hightech-Rädern. Sie meinen, dass es auch in Hamburg ein paar Hügel gibt, wo man trainieren kann. Ich glaube, dass sie eine gute Kondition haben, die sich im besten Alter (ca. 25-30 Jahre) durchaus auch ohne besonderes Training auf verschiedenste Körperleistungen, also auch auf das Radfahren, übertragen lässt. Das zeigen auch noch andere Beispiele von unbekümmerten Schüler-, Azubi- und Studentenradlern, denen ich so im Rahmen meiner Touren begegnet bin. Da merkt man gleich, welch alter Tropf ich bin (43 Jährchen sind zusammengekommen, also noch kein richtiger Greis, arbeitsmarkttechnisch aber schon nahe am Altenheim). Der Pordoipass hat nie mehr als 8% Steigung, bleibt eher darunter. Nicht zuletzt auch daher schaffe ich den Berg ohne große Schwierigkeiten. Auf der Passhöhe sind die beiden Flachlandradler immer noch da und bleiben länger als ich. Eine herrliche Abfahrt folgt bis zur Abzweigung Richtung Sellajoch, wo es Richtung Südwest nach Canazei und Karerpass geht. Mit den 1850 m ist der Tiefpunkt höher als mancher schwer erklommene Pass. Die Landschaft wirkt wie ein durch Landschaftsarchitekten gebauter Berggarten. Tannen stehen wie einzeln gesteckt in den Wiesen, verdichten sich stellenweise zu aufgelockerten Hainen. Kleine Steinblöcke reflektieren als helle Tupfer das Sonnenlicht. Der Weg zum Sellajoch ist nicht weit und doch kämpfe ich jetzt stärker als am Pordoi. Nicht nur die Steigung ist heftiger, sondern auch die aufkommende Hitze fordert ihren Tribut. Aber auch noch andere Radler machen einen schlappen Eindruck. Etwas neidisch schaue ich auf ein Reiseradlerpaar, die sich in den Bergweisen sonnen. Doch wenn ich die große Runde heute schaffen will, muss ich auf längere Entspannungspausen trotz des schönen Wetters verzichten. Es dauert ein Weilchen, dann sind sie wieder da, die Neu-Hamburger. Auf dem Sellajoch essen wir gemeinsam zu Mittag – ich mache aufgrund des wohl schwierigen langatmigen Tages eine Ausnahme und esse ein warmes Gericht mit kartoffeligen Kohlehydraten (sonst begnüge ich mich mit Sandwiches). Eine kurze Abfahrt geht zu einem immer noch bergoffenen Tiefpunkt auf 1900 m, von wo aus das Grödnertal weiter hinunterführt und wo ein Hotel Unterkunft bietet. Dem monolithischen Quader des Sellamassivs steht hier der eindrucksvolle Zapfen des Langkofels gegenüber. Der Anstieg zum Grödnerjoch ist wieder leichter, es gibt sogar eine fast ebene Gerade zwischendrin. Die Passhöhe erreiche ich ohne Verschnaufpausen, aber die zwei Norddeutschen überholen mich auch diesmal noch zuvor. Erneut pausieren sie bei der Abfahrt um Fotos zu machen. Das Grödnerjoch bietet einen weiten Panoramablick nach Norden. Die berauschende Abfahrt führt zum niedrigsten Punkt innerhalb der Dolomitenrunde. Zahlreiche auf Wintersport ausgerichtete kleinere Orte fliegen an mir vorbei. Auf den knapp 1400 m flimmert die Hitze über der Straße. Es ist richtiger Hochsommer. Ohne Pause nehme ich Kurs Richtung Passo Valparola. Gemäß Höhendaten muss es jetzt etwas mehr zu kurbeln geben und so beginnt denn auch gleich nach dem Ort schon eine heftige Steigungspassage. Auch die Summe der Passauffahrten und die Hitze haben mich mürbe und müde gemacht. Zu Beginn einer Flachpassage nach St. Kassian beobachte ich eine sehr lange Kolonne von Harley-Davidson-Fahrern in Gegenrichtung. Es sind über 50 Bikes, alle im gemütlichen Tempo – und – sie haben auf dem Rücksitz alle einen Teddybär sitzen. Einen Kilometer später entdecke ich einen LKW, in dem eine Dame die Teddys an die Biker ausgibt, die von einem Sportplatz aus starten. Der weitere Verlauf ist wieder sehr steil, zunächst in Kehren durch Wald, dann auf einer Geraden im aufgelockerten Pflanzenwuchs und schließlich wieder in Kehren durch offene Berglandschaft – Wiesen mit Steinansammlungen, manchmal wie Findlinge aus dem Salzstreuer verteilt. Mittlerweile haben mich auch meine beiden radelnden Tagesbegleiter wieder erreicht – kämpfen jetzt aber auch. Nicht ganz auf der Passhöhe steht die Gaststätte, wo es deutlich ruhiger zugeht als auf Pordoi, Sella und Gardena. Zur Belohnung stärken wir uns mit Capuccino und Apfelstrudel. Diesmal sind die beiden früher weg als ich und wir sehen uns nicht mehr, denn sie beenden die Runde wieder in Livinallongo. Nach kurzer Abfahrt erreiche ich den Passo Falzarego, den eigentlich fünften Zweitausender, aber es ist aus der Richtung Valparola nur ein so genannter Abrollpass. Auf der weiteren Abfahrt bestimmt dunkler Nadelwald die Szenerie. Immer wieder stechen die verblüffenden Formationen der Dolomitenberge ins Auge, wenn von der Straße her sich ein Sichtfeld öffnet. Der Geschwindigkeitsrausch endet in Cortina d’Ampezzo, das ich noch aus meiner Schülerzeit kenne (eine Dolomitenrundfahrt mit Bus war Teil der damaligen Skifahrt in der 10. Schulklasse). Diesmal lasse ich das Städtchen der Schönen und Reichen vorbeiziehen und begebe mich in das schwül-warme Tal Richtung Belluno. Es muss hier irgendwann zuvor geregnet haben, entsprechend schwer ist die Luft. Es bleibt jedoch, von wenigen Tröpfchen abgesehen, auf der gesamten Strecke trocken. Allerdings erlauben die tief hängenden Wolken nicht immer einen freien Blick auf die umliegenden Berge, was aber auch teilweise am engen Tal liegt. Die Fahrt ist eine Mischung aus Abfahrt und Flachpassage, man muss ständig treten, um ein flottes Tempo zu halten. Die Cadore-Region ist reich an kleinen Seen, die sich längs der Talsohle wie an einer Perlenkette aneinanderreihen. Leider sind sie nur teilweise einsehbar, vielfach verwehrt der dichte Tannenwald den Blick auf Flusslauf und Seen. Der Ort Pieve di Cadore liegt leicht erhöht von dem Tal und dem nahe gelegenen See, sodass sich vom östlichen Ortsteil schöne Panoramablicke ins Tal ergeben. Die Stadt ist ein kleines kulturelles Zentrum, bezeichnet sich als Kunst- und Mauerstadt. Hier wurde der Maler Tizian 1490 geboren. Die Hand seiner Statue weist gegenüberliegend auf sein Geburtshaus. In einem Brillenmuseum kann man etwas über die Brillenproduktion lernen und verschiedene optische Geräte aus fünf Jahrhunderten bewundern. Die Brillenindustrie der Provinz Belluno produziert 80% der italienischen Brillen und einen beträchtlichen Anteil in der Welt. Ich übernachte in einem unauffälligen Hotel etwas erhöht im Ort, schöne Gärten umliegend. Zum Essen wähle ich ein vom Hotelier empfohlenes Restaurant im Ort, in dem es wieder richtig italienisch bis 23 Uhr Essen gibt und gegen halb zehn Hochbetrieb herrscht. Es ist unglaublich warm, weil es keine richtigen Fenster gibt und entsprechend schlecht gelüftet werden kann. Auch das kleine Hotelzimmer ist zusammen mit der schwülen Luft nicht richtig erholsam und eine leichte Restmüdigkeit werde ich noch in den nächsten Tag hineintragen. Fr, 24.6. Pieve di Cadore (750m) – Auronzo – Lago Misurina/Col San Angelo (1756m) – Toblach – Lienz[116 km – 6:27 h – 17,9 km/h – 1032 Hm] Im Angesicht der Tizian-Skulptur verspeise ich Joghurt, Montaneros (Brötchen mit Rosinen und kandierten Früchten, ähnlich wie Panettone) und hauchdünn geschnittene Biskuits mit Rosinen und Haselnüssen zum Frühstück. Ein wenig matt fühle ich mich, eben wegen der bleiernen Nacht. Es ist immer noch schwül-dampfend, kleine Dunstwolken schweben über dem See im Piavetal. Die Straße führt in kleinen Auf und Abs durch einige weitere kleinere, aber lebhafte Orte, bevor die abzweigende Straße Richtung Tolmezzo für nachlassenden Verkehr sorgt. Das Tal ist nun sehr eng, mit dunklem Tannenwald bekleidet, der Fluss tief unterhalb der Straße. Noch gibt es nur sanfte Steigungen. Mitten in der Landschaft sieht man Fabrikverkäufe für Brillen und auch die kleinen Orte hier weisen eine erstaunliche Optikerdichte auf – Zeichen der o.g. Stärke der Brillenindustrie in der Provinz Belluno. Der Stausee Lago di Santa Caterina ist der letzte und wohl auch der schönste unter denen, die ich im Cadore gesehen habe. Die drei kleinen ineinander gehenden Orte mit dem Hauptort Auronzo strahlen eine erholsame Ruhe aus und fügen sich in ein stimmungsvoll romantisches Landschaftsbild ein. Eigentlich sollte dies mein Etappenziel des Vortages sein, aber ich liege noch günstig um den Rückstand wieder aufzuholen. Zu den Unterkunftsmöglichkeiten zählt auch ein Camping, der ebenso wie einige weitere an den Seen zuvor auf der Karte nicht eingezeichnet ist. Es ist mittlerweile unter der Sonne ziemlich heiß geworden, sodass ich eine wohl etwas zu frühe (Vor)Mittagspause überlege. Das Tal bleibt nun lange auf Höhe des Flusses Ansiei, der zahm über den Kiesel vor sich hinsprudelt. Zusammen mit den Blumen und Doldengewächsen zwischen den Waldbäumen und auch schon mal einer sumpfigen Wiese hat das etwas Liebliches. Nur wenig Autoverkehr lässt einem viel Gelegenheit zu genießen. Doch kaum habe ich eine Rast am Ufer eingelegt, ziehen drohende Gewitterwolken bei Donner auf. Kurz nach Wiederantritt muss ich Unterstand suchen an einer verlassenen Ferienhütte. Wenig später geht der Regen in leichtes Nieseln über und ich kann weiterfahren. Die Luft ist nun schwer und schwül, das Atmen wird schwierig, ich schwitze heftig, zumal der flache Anstieg nun in einen steilen von 10-12% übergeht. Ein einzelner Rennradler müht sich nicht weniger schwer hinauf. Nach der Abzweigung zum Passo Tre Croci Richtung Cortina d’Ampezzo fahre ich über eine offene Bergwiesen und über mir blitzt und brodelt es heftig. Ich fürchte zum Blitzableiter der Hochebene zu werden. Es gibt keine Möglichkeit Unterstand zu finden. Nur der forsche Tritt nach vorn hilft. Weit ist es nicht mehr und ich erreiche doch noch relativ trocken und ohne Blitzeinschlag den Lago Misurina. Etliche Hotels, Gaststätten und Kioske machen hier ihr Geschäft mit dem Blick auf die Drei Zinnen, die sich im günstigsten Fall auch in dem See spiegeln sollen. Aber das Ensemble der bekanntesten Dolomitengipfel hüllt sich in weißen Wolken, trübe siecht der See unter dem grau verhangenen Himmel. Es ist trotz der bescheidenen Höhe von 1750 m saukalt. Noch einige andere Radler frösteln an verschiedenen Gaststätten und warten auf Regenende. Manchmal ist es nicht zu verstehen, wie unverschämt respektlos so mancher sich verhält. Ich erwerbe in einem Souvenirladen einen Metallschmetterling, begebe mich für einen Aufkleber in einen anderen und unterdessen hat der Besitzer des ersteren mein Rad aus dem Markisenunterstand seines Ladens in den Regen gestellt – es war ausreichend Platz dar und keine Not. Das gehört zu der manchmal in Italien zu beobachtenden Unfreundlichkeit. Da der Regen anhält, wärme ich mich ein wenig bei Apfelstrudel und Capuccino auf. Aber selbst die Gaststättenräume hier sind unterkühlt weil auf Sommer eingerichtet. Nach einer Weile kann ich schließlich die Abfahrt nach Toblach angehen – allerdings mit langem Beinkleid und dicker Regenjacke. Der Pass Col San Angelo ist nicht genau auszumachen, er ist eigentlich identisch mit dem Misurina-See. Die Drei Zinnen kann ich bei der Abfahrt doch noch ohne Wolken erblicken, auch am Gasthof direkt mit Blick auf die berühmten Zacken sind sie wolkenfrei, wohlweislich grau in grau mit dem Himmel. Alle landschaftlichen Reize verschwimmen in diesem Nichtsommerwetter zu unauffälligem Einerlei. So wirkt auch der Toblacher See wie ein unauffälliger Tümpel, mein Mitleid gilt den Campern. Von Toblach fahre ich auf einem sehr gut angelegten Radweg zunächst nahezu eben über ein breites Hochtal mit eher langweiligem Weideland. Der Reiz liegt am südlichen Horizont, den immer wieder neue Dolomitengipfel zieren, wenngleich die Wolken so manchen Blick vernebeln. Dabei bekomme ich weder mit, wo die italienisch-österreichische Grenze ist, noch wo die Wasserscheide zwischen Puster und Drau verläuft. Unvermittelt fließt auf einmal die Drau als ruhiger Wiesenbachlauf neben mir. Es bleibt noch kribbelig kühl, ist aber schon wieder deutlich wärmer als in Misurina. Besonders bemerkenswert am Radweg ist, dass es eine ausgiebige Beschilderung nicht nur für die Ortszufahrten gibt, sondern auch für Hotels, Gaststätten und Firmen. Und die Schilder sind sogar so groß, dass man sie während des Fahrens lesen kann! – etwas, was deutschen Verkehrsplanern bisher noch nicht gelungen ist. Weitere Pluspunkte sind die schön und häufig angelegten Rastplätze und die mit Sinn für das Radfahren angelegte Linienführung – ab und zu muss ich aber doch noch einen Haken schlagen. Nach flotter Fahrt in der Ebene geht es fortan überraschend schwungvoll nach unten. Die Drau wird wilder und rauscht in fortwährende Kaskaden nach unten. Da der Radweg eng ist und jederzeit ein Radfahrer entgegen kommen könnte, kann ich elegant kunstvolles abfahren ausleben – der ganze Körper ist gefordert und es macht Riesenspaß. Im Hinblick auf das allabendliche Essensdilemma werde ich nun durch den witterungsbedingten Einschnitt nicht mehr zum Aufholen kommen und statt des Planziels Huben nur noch Lienz ansteuern können. Schließlich erkenne ich die Charakteristik des Iselsberges und die Talöffnung bei Lienz (ich bin die Drau schon mal von der östlichen Seite her mit Abzweig Iselsberg gefahren). Ich lande auf dem Camping „Falken“, wo es auch einen zugehörigen Hotel-Gasthof gibt. Ein starker Wind geht, es könnte auch der Vorbote eines schlechten Wetters sein. Ich frage den Platzwart: „Gewitter oder kein Gewitter?“ – „Ich gebe keine Prognose, aber wenn Sie mich fragen, ich möchte, dass es regnet.“ Ich antworte ihm, dass wir uns da wohl nicht einig sind, und frage ihn, ob er Landwirt sei, was er verneint. Ich sage ihm noch, dass ich genug Wasser gesehen habe, die Flüsse sind noch voll Schmelzwasser und im Regen sei ich heute auch schon gewesen. Ich kann ihm aber letztlich den Wunsch nach mehr Regen nicht ausreden. Vielleicht wird er im Nachhinein mit Blick auf den Gesamtverlauf dieses Sommers diesen Wunsch noch verfluchen. Nun, ich schätze, das Wetter hält und es ist immerhin sehr mild hier, sodass ich mich für Camping entscheide. Er sagt mir, dass ich bis 21 Uhr im Gasthof noch Essen kann und verkauft mir noch eine Duschmarke. Nun, nach dem Zeltaufbau gehe ich gleich zum Essen und es ist Viertel vor Neun. Mein Wunsch, jetzt noch etwas Essen zu wollen, löst mittleres Entsetzen beim Personal aus: „Nein, so spät kochen wir nicht mehr.“ Ich könnte zwar noch Kalte Küche bekommen, aber das ist mir natürlich zu wenig. Einmal mehr wird deutlich, dass Österreich in punkto Küchenschließzeiten den Deutschen meilenweit hinterherhinken. Welches Land lebt hier in einer Dienstleistungswüste? – Nun, in der Stadt gibt es dann doch noch eine gute Auswahl an Essgelegenheiten. Es gibt Schlifkrapfen (Teigtaschen mit Kartoffelfüllung), die allerdings in zuviel Fett schwimmen, einen Grillteller mit sehr gutem Fleisch und Gemüse, das etwas mehr gegart oder geschmort sein könnte. Nach dem schon etwas befremdlichen Erlebnis in dem Camping-Gasthof setzt der Camping „Falken“ noch die Krone auf. Mit der Duschmarke bewaffnet gehe ich in die eigentlich nobel aussehenden Sanitäranlagen. Bei Dusche Eins eingeworfen, tut sich im Bereich Warmwasser nichts. Die Duschmarke wird aber einbehalten. Ein Blick in Dusche Zwei erklärt das Rätsel: Ein Schild (und nur hier) weist darauf hin, dass nach 22 Uhr kein Warmduschen möglich ist und Duschmarken auch nicht erstattet werden (dazu habe ich am nächsten Morgen sowieso keine Gelegenheit). Hat mich da jemand an der Nase herumgeführt – oder war das wieder eine Beispiel für die Dienstleistungswüste Österreich. Leider, liebe Österreicher, da hat doch mein positives Bild vom Nachbarland einen schweren Knacks erlitten. Rote Karte für den Camping/Gasthof „Falken“! – Es blieb mir nur kalt zu duschen, der Kampf geht halt manchmal auch jenseits des Sattels weiter. Sa, 25.6. Lienz (673m) – Huben – St. Jakob – Staller Sattel (2052m) – Rasen/Antholz – Bruneck – Mühlbach – Aicha[128 km – 7:29 h – 17,1 km/h – 1414 Hm] Der Tag beginnt als herrlicher Sonnentag. Bei der Abreise treffe ich noch auf einen Radreisekollegen, der gleichwohl aus meiner Geburtsheimat, dem Rheinland bei Bonn, kommt. Obwohl auch er mit Zelt unterwegs, hat er irgendwie weniger Gepäck als ich auf seinem Mountainbike. Er hat schon ähnliches hinter sich wie ich noch vor mir. Seine Route führt nun abschließend über den Iselsberg und weiter über die Großglockner-Hochalpenstraße – damit habe ich vor zwei Jahren meine Alpen-Kroatien-Tour gekrönt. So reise ich statt vor sieben erst nach sieben Uhr ab. Dann schleiche ich noch etwas durch die Straßen und Gassen von Lienz, entdecke dabei das Museum für mechanische Musik – natürlich noch geschlossen. Aber auch von außen schmücken das Gebäude karikierte Figuren – z.B. die tanzenden Bluesbrothers, der unvermeidliche Elvis oder der Hund vor dem Grammophontrichter. Die Straße nach Matrei mit dem anschließenden Felbertauerntunnel bildet eine der wichtigsten Alpentransversalen zur Salzach (Verbindungen nach Kitzbühel, Inntal, Saalfelden, Salzburg etc.). Doch es gibt hier einen Radweg entlang der Isel, die geradlinig, reißend und im grauen Schmelzwasserton dahinströmt. Auf der Flachpassage bis Huben herrscht bereits am Morgen ein ungemütlicher Gegenwind, nicht sehr stark, aber doch genügend energiezehrend für den Radler. Es gibt etliche Gelegenheiten, um ein Frühstück nachzuholen, doch ich schlage alle aus, weil ich erst den Weg bis Huben geschafft haben will. Dort findet sich aber keine Gelegenheit, nicht mal ein Bäcker hat offen. Also müssen Banane und Restkekse für den ersten Anstieg reichen. Gleich bei der Abzweigung drängt sich die Straße an den Berg und verlangt vollen Einsatz. Nach der ersten Rampe wird das Defreggertal dann aber lange Zeit flacher, mäßige Steigungen wechseln mit Fast-Flachpassagen. Die Schwarzach fließt und glitzert nur wenig unterhalb der Straße, grüne Almwiesen geben dem lang gezogenen Tal ein anschmiegsames Antlitz. Im unteren Teil werden gerade neue Lawinenverbauungen errichtet – die paar staubigen und lauten Meter habe ich aber schnell hinter mir. Verschiedene kleine Orte liegen zwar an der Strecke, um in die Ortskerne zu kommen, müsste ich aber Abstecher über steile Dorfstraßen machen. So hungere ich etwas vor mich hin. Ein Alternative besteht für Nicht-Asphaltfahrer in einem Radweg noch näher am Fluss. Der Verkehr auf der Straße ist aber gering und es macht keinen Sinn, diesen Weg zu benutzen, wenn man vorwärts kommen will. Eine Wasserstelle vor einem kleinen Tunnel mausert sich als spontaner Radlertreff. Ein einheimischer Österreicher bedeutet einem Schweizer und mir, dass das Wasser einwandfrei ist, obwohl es als Nicht-Trinkwasser ausgewiesen wird. Er verrät uns aber eine besondere Wasserstelle hinter dem Tunnel, die von der Straße nicht direkt einsehbar ist. „Das Wasser kommt direkt aus dem Berg und hat Sommer wie Winter die gleiche Temperatur“, erklärt der Einheimische. Der Schweizer ist begeistert vom „Superwässerli“. Während der Österreicher davonfährt, bleibt der Schweizer (Bruno) in dem flachen Bereich bei mir. Er hat einen 8-Kilo-Rennrad und einen kleinen Rucksack mit einer etwas fragilen Konstruktion am Sattelrohr und ist etwa eine Woche auf dem Rad unterwegs. In St. Jakob, ein empfehlenswert schöner Ort für einen Übernachtungsstopp bei Passauffahrt oder -abfahrt, stärken wir uns mit Kuchen und Capuccino. Bruno schwört allerdings auf Latte Macchiato und beklagt, dass guter Latte Macchiato nur in Italien zu bekommen ist. Die Österreicher und die Schweizer können das nicht – allerdings: seine Frau macht den besten. Leider ist Brunos Frau schwer krank und kann nicht mehr mitfahren. Und weil er ein kleines Geschäft mit Kunsthandwerk in Goldach am Bodensee zusammen mit seiner Frau betreibt, kann er sich nur gelegentlich mal kleine Touren leisten. Am steiler werdenden Berg muss nun jeder seinen Rhythmus finden und Bruno fährt langsam davon. Ich gehe davon aus, dass wir uns nicht mehr wiedersehen. In der starken Mittagshitze fühle ich mich ziemlich schlapp, wohl habe ich auch bisher zu wenig gegessen. Immer wieder muss ich „Verschnauferli“ einlegen. An einer Kehre überlege ich, ob ich eine Pause mit kleinem Bergbachbad nehmen soll. Doch zwinge ich mich zur Disziplin, denn die Zeitachse drückt mal wieder. Dass ich heute noch Sterzing erreichen werde, scheint mir eher unwahrscheinlich, aber Brixen sollte es schon werden. Ich bewundere ein Rennradlerpaar, ganz in Blau, die im elegant-schwungvollen Takt auffahren. Man sieht zwar nicht so viele sportlich ambitionierte Frauen, aber die man sieht, sind enorm fit. Ein Sonderapplaus für die Radlerfrauen an dieser Stelle! Vielleicht finde ich ja auch mal die Richtige… Nach den Kehren aus dem Nadelwald heraus meine ich zunächst, die Passhöhe zu erreichen, was aber nach Höhenmetern und Kilometern eigentlich nicht sein dürfte. Und es ist eine Weisheit in den Bergen: Es gibt keinen Meter geschenkt – weder der Länge nach noch in der Höhe. Und so ist der Knick nur ein scheinbarer. Tatsächlich streckt sich die Straße nun über eine offene Berglandschaft ohne nennenswerte Kurven nach oben. Die Bergwiesen sind wasserdurchflutet und leuchten in Gelb und Rot. Viele Wanderer erkunden hier die Pflanzenwelt, Skilifte wirken wie Fremdkörper in der sommerlichen Bergwelt. Noch ein Müsliriegel, der meinen langsam aufkommenden Hungerast aber auch nicht zu mildern weiß, noch eine kleine Zwischenkuppe und vor mir breitet sich der Obersee kurz unterhalb des Staller Sattels aus. Ein herrliches Blau, heller Stein, gegenüberliegend grüne Wiesen und ein Teppich von roten Alpenrosen prägen das Bild. Etliche Besucher erwandern den See, auf der anderen Seite, etwas abgelegen von der Straße, liegt ein Gasthof mit gut besuchter Restauration. Überraschend sehe ich Bruno gerade den Weg vom See emporkommend. Er hat ein Bad genommen, was ich eigentlich auch gerne tun würde, füge mich aber meinem selbst gesetzten Zeitdiktat. Endlich auf der Passhöhe (kleiner Kiosk mit kleiner Gaststätte), fällt eine Besonderheit des Staller Sattels unter den Alpenpässen ins Auge: Eine Ampel ist zu jeder vollen Stunde jeweils für 15 Minuten frei geschaltet, danach folgen 45 Minuten Wartezeit, bis der Gegenverkehr die Passhöhe passiert hat. Die Straße ist derart eng, dass ein Gegenverkehr hohe Gefahren in sich bergen würde. Wir entscheiden uns schnell noch die Gelegenheit vor der Warteschleife zu nutzen. Die engen Kurven vermitteln enormen Fahrspaß, auch wenn ich manchmal hart anbremsen muss, und das Rad nur selten wirklich frei läuft. Der aufgelockerte Nadelwald ermöglicht immer wieder herrliche Blicke talwärts auf den Antholzer See. Dort angekommen, essen wir Bandnudeln mit Pilzen bzw. Spaghetti al Aglio in der Gaststätte gleich an der unteren Ampel. Schnell ist ein kleines Zeitpaket verplaudert. Der Antholzer See ist von Tannenwald umgeben, Badestrand und Camping sind vorhanden. Die Luft ist jetzt sehr schwül und der Himmel beginnt sich zu bewölken. Es droht Gewitter. Wir fahren das Antholzer Tal hinunter, es geht in Schüben immer mal wieder mit stärkerem Gefälle, dann wieder mit Tretpassagen hinunter. Bruno, der eigentlich Richtung Toblach fahren wollte, entscheidet sich an der Kreuzung bei Niederrasen, weiter mit mir Richtung Sterzing zu fahren. Die Entscheidung fällt ihm leichter als er die schwarze Wolkenwand Richtung Osten erkennt. Aber auch nach Westen hin gibt es nur vage Aufhellungen und die Gewitterwolken mischen sich von allen Seiten auf. Auf der nun extrem verkehrsreichen Straße im Pustertal versuchen wir Tempo zu fahren, doch der Wind stört zunehmend den Rhythmus. Es beginnt zu schauern und beim zweiten Platzregen muss eine Tankstelle als Unterstand herhalten. Auch Motorbiker warten erst einmal ab. Dann machen Wolkenlücken im Westen wieder Hoffnung. Wir fahren weiter, ich habe Mühe mit Brunos Tempo mitzuhalten – er nimmt aber immer wieder Tempo heraus. Selbst jetzt hätte Bruno Sterzing noch erreichen können, wenn er nicht auf mich Rücksicht genommen hätte. In Bruneck verlassen wir die fahrradgesperrte Umgehungsstraße, versäumen aber auch direkt durch die Ortsmitte zu fahren wegen einer Baustelle. Schnell haben wir uns verfahren. Eine Radweg-Ausschilderung führt uns schließlich gänzlich in die Irre. Der offizielle Pusterradweg nimmt einen riesigen Umweg (und zusätzliche Höhenmeter). Nach einigem Hin und Her landen wir wieder auf der Hauptstraße, wo nun wieder Radfahrer erlaubt sind (wenn auch die Strecke nicht gerade angenehm ist). Es gehört zu den Wirrungen der Verkehrsplaner, dass durch die Sperrung der Umgehungsstraßen – ist auch in Deutschland zu beobachten, z.B. Rottweil am Neckar – der Transit-Radfahrer in die Irre geführt wird, weil es an alternativen Ausschilderungen fehlt und das Radfahrverbot ohnehin ein Farce ist, wenn man sich den Rest der verkehrsreichen Passagen mangels Alternative ohnehin aussetzen muss. Der Wind frischt nun in Böen heftig auf, teils von vorne, teils aber auch gefährlich von der Seite. Mein Mund trocknet sofort nach jedem Schluck Wasser wieder aus. Bruno glaubt, ich könne in seinem Windschatten fahren – jedoch fällt meine Geschwindigkeit schon aufgrund meiner größeren Windfront sofort deutlich nach unten – noch weniger als am Berg kann ich hier mit Kraft etwas ausgleichen. Erschwerend sind auch die kleinen Minianstiege im welligen Verlauf der Strecke, denn sie verlangen bei einem solchen bepackten Rad sofort das Umschalten auf Berggänge, während der normale Rennradler schon mal aus dem Sattel gehend den Hubbel auf dem großen Blatt überspurten kann. Kurz nach Mühlbach erreichen wir die Brennerstrecke. Aufgrund der Wetterlage möchte ich ohnehin nicht campen. Ein Umweg nach unten nach Brixen macht also keinen Sinn. Das Abendessen ruft und wir brauchen eine Unterkunft. Wir wollen es im nächsten Ort versuchen. Noch vor Franzensfeste erscheint ein Schild Richtung Aicha, was ich anfangs nicht für einen Ort, sondern für einen italienischen Automobilclub gehalten habe. Aber das etwas abseits von der Brennerroute gelegene Aicha erweist sich als Ruhepol mit einem netten Transithotel. Wir nehmen ein Zimmer, das für 28 € pro Person sehr ordentlich ist – tolles Bad, klasse Bettwäsche. Beim Essen müssen wir ein paar Abstriche machen, zum Sattwerden reicht es auf alle Fälle. Die Gewitterfronten haben sich verzogen und eine milchige Abendsonne stimmt romantisch. Zur Feier des Tages spendiert Bruno noch ein Extra-Fläschchen Wein. Mit einer Thüringer Busgruppe sitzen wir dann noch an der Bar. An den Witzen merkt man, dass zwischen Thüringern und Schweizern Welten liegen. Beim Schnaps muss ich dann doch Vorsicht walten lassen und verweigere mich einem weiteren Umtrunk. Die Bar ist halt kein Erholungsort für einen Radler. So, 26.6. Aicha (770m) – Sterzing – Jaufenpass (2094m) – San Leonardo – Meran (325m) – Naturns (529m)[101 km – 6:41 h – 15,0 km/h – 1562 Hm] Die Nacht war ziemlich warm, der unruhige Schlaf erholt mich nur schlecht. Dies zeigt sich aber erst im späteren Tagesverlauf. Nach dem guten Frühstück machen sowohl der Busfahrer als auch Bruno noch eine „Gewichtsprobe“ meines Fahrrads. Bruno muss gleich das Gefährt ausprobieren und radelt probeweise bis zur Brennerstraße. Trotz seines Respekts gegenüber dem Gewicht findet er offenbar doch Gefallen an der Fahrkultur des Velos. Er meint, dass er sich das Radeln mit einem solchem Bike durchaus vorstellen kann. Viele Rennradler lehnen ein solches Velo als ungebührliches Folterwerkzeug ab. Übertreiben wir nicht: Dieses Rad lässt sich nach einer Gewöhnungsphase besser fahren als es optisch erscheint. Nicht nur rasante Abfahrten sind möglich, auch meine Geschwindigkeiten bergauf oder flach liegen nicht so dramatisch unter denen, die ich mit unbeladenem Velo erreiche. Es geht vielmehr darum zu akzeptieren, dass man etwas langsamer fährt als man eigentlich könnte – aber deswegen befindet man sich ja auf einer Reise und nicht in einem sportlichen Wettkampf. Trotzdem würde es mich auch mal reizen, wie die Vergleichswerte ausfallen würden, wenn ich ein Leichtrennrad wie dieses von Bruno auf den großen Etappen fahren würde. Die Brennerstrecke ist mir bereits von einer Einwochentour (Como – Gardasee – München – Türkheim) 1 ½ Jahre zuvor bekannt. Damals war es aber Ende März und ca. 5° C, am Brenner sogar 0° C bei Schneegestöber. Mir ist im Nachhinein immer noch unklar, wie ich die damalige Tour mit Regen, Schnee und eiskaltem Nordwind durchgestanden habe. Jetzt ist es schönstes Sommerwetter, in dem das Eisacktal sich sehr anmutig präsentiert. Unter den wenigen Autos (der meiste Verkehr wird durch die Brennerautobahn abgeleitet) hupen einige, weil wir nebeneinander fahren. Die eigentlich leichte Route erschweren wir uns dann, indem wir dem Radweg folgen, der durch steile Minirampen nur mehr Zeit und Kraft kostet. Eigentlich wäre jetzt noch keine Pause nötig, aber um Abschied zu nehmen, setzen wir uns noch in ein Café im schönen Sterzing. Im Blick liegt der markante Stadtturm am Ende einer pittoresken Häuserschlucht. Bruno nimmt schließlich Kurs auf den Brenner und ich beginne gleich nach der Stadtausfahrt mit dem Anstieg zum Jaufenpass. Unten liegt noch der Camping, der eigentlich mein Übernachtungsort des Vortages gewesen sein sollte. Die Straße windet sich eng in den Hang hinein und gewinnt schnell an Höhe. Soweit der dichte Tannenwald Ausblicke zulässt, schweift das Auge über ein weites Tal und die Gegenhänge nach Norden hin. Die Auffahrt zum Jaufenpass ist wohl eine der schattigsten Passauffahrten. Bereits im unteren Teil tue ich mich schwer. Nicht nur die Steigung, auch ein müdes und mattes Gefühl sorgen für mühsames Treten und übertrieben häufige Verschnaufpausen. Mein Magen fühlt sich wie aufgeschwemmt an, drückt gegen das Zwerchfell (wohl auch etwas zuviel Kaffee konsumiert), Atemprobleme sind die Folge. Ein Weiteres entwickelt sich zur Zusatzbelastung: An diesem Sonntag fahren so viele Motorradfahrer den Berg hinauf wie an keinem anderen Pass und Tag dieser Tour und aller vergangenen Touren – nicht einmal in den Dolomiten gab es einen solchen Andrang, nicht auf der Nockalmstraße und am Großglockner vor zwei Jahren. Ein besonderer Anlass ist nicht erkennbar. Dazu kommen noch die nicht wenigen Autoausflügler. Lediglich Radler sind eher wenige unterwegs. Es sind weniger die Abgase als mehr das ständige Geknatter, was den Kurvenkorso so lästig macht. In Calice lasse ich mich auf der Terrasse von einem Sporthotel zu einem Eis mit frischen Erdbeeren verlocken. Die Erdbeeren sind jedoch fast vereist und belasten meinen Magen mehr als dass sie mich aufbauen helfen. Ich könnte geradewegs über dem Eisbecher einschlafen – nur mit Mühe quäle ich mich zur Weiterfahrt. Wenig später pausiere ich nochmal an einem Waldweg, aber mir gelingt es nicht mich zu entspannen. Also beiße ich mich weiter durch und auf der unvermindert steilen Passstraße beginne ich dann doch die Müdigkeit etwas zu verdrängen. Der Tannenwald wird etwas lichter, ein Fahrweg führt zu einer Alm, die offenbar ein sehr beliebtes Ausflugsziel bildet – sogar eine Hochzeitsgesellschaft hat sich dahin aufgemacht, wie die vielen Autos mit Schleifenschmuck auf einem Parkplatz an der Straße verraten. Im letzten Teil (noch ca. 200 Hm) winden sich die Schleifen durch die offenen Bergwiesen, den Pass kann ich ins Auge fassen. Die Passhöhe ist ziemlich schmal mit einem engen Steindurchbruch, dennoch findet sich zu beiden Seiten je eine Gaststätte. Und zu beiden Seiten ergeben sich tolle Panoramablicke. Nach Käsebrötchen, Kuchen und Capuccino folgt die Abfahrt auf der engen, stark kurvigen Straße. Einige Unebenheiten erfordern zusätzliche Aufmerksamkeit, die Bremsen werden stark beansprucht. Tief unten liegen San Leonardo und das Passertal, über dem die Serpentinen fast hinunterstürzen. In einer kuriosen Felsnische kann ich eine kurze Dusche nehmen. Nach San Leonardo fahre ich zum zweiten Mal durch das untere Passertal – und wieder über die Panoramastraße (nicht den Radweg) – und es ist auch beim zweiten Mal immer noch schön. Der erste Eindruck von Meran bestätigt sich auch diesmal. Wieder fehlt aus einer Ausschilderung für Radfahrer. Den angeblich vorhandenen Vinschgau-Radweg entlang der Etsch kann ich nicht finden. Stadtausgangs steht sogar ein in falsche Richtung weisendes Schild an der Hauptverkehrstraße. Nur durch die eindeutige geografische Gesamtorientierung kann ich den Fehler entlarven. Der Verkehr ins Vinschgau ist extrem stark, es geht immerhin mit dem Reschenpass in Richtung eine der niedrigsten Alpentranversalen. Entgegen meiner Erwartung handelt es sich direkt nach Meran um einen ziemlich heftigen Anstieg und entsprechend unangenehm wirken hier die Autoabgase. Nach dem kurzen Anstieg kann ich auf den Radweg wechseln, der nun flach neben der kanalisierten Etsch verläuft. Nunmehr drosselt ein zäher Gegenwind das Tempo, die Kehle trocknet schnell aus. Da ich wieder auf die Essenszeiten achten muss, endet meine Etappe bereits um halb Acht. Das ursprüngliche Planziel Prad wäre heute nicht mehr erreichbar und ein Weiterfahren bis Latsch würde mir keine wirklichen Vorteil bringen. Ich entscheide mich, den angesetzten Ruhetag von Prad – bevor es zu Stilfserjoch geht – zu einem Halbruhetag umzugestalten, also am nächsten Tag nur bis Prad zu fahren (mit einen Abstecher ins Martelltal), aber ohne einen zusätzlichen vollen Ruhetag. So bin ich wieder „in time“. Der gartenartige kleine Camping nahe am Ortskern (es gibt in Naturns noch ein zweiten, etwas größeren auf der anderen Flussseite) verfügt über erstaunlich komfortable Sanitäranlagen (wie allerdings meistens in Österreich und Südtirol). Sehr saubere, zweiteilige Duschkabinen aus Plexiglas, sodass kein Spritzwasser auf Kleidungsstücke fällt. Manches Hotel könnte sich hier von funktioneller Nasszellenkonstruktion überzeugen. Tagsüber steht sogar ein Hallenbad mit Sauna zur Verfügung. Rätselhaft bleibt jedoch die nächtliche Dauerberieselung mit Schlagermusik. Warum werde ich als Klobesucher um 2 Uhr nachts akustischer Folter wie „Herzilein“ ausgesetzt? Mo, 27.6. Naturns – Latsch – (Exkursion unteres Martelltal) – Prad (Halbruhetag)[44 km – 3:17 h – 13,4 km/h – 491 Hm] Mit der Aussicht auf einen lockeren Tag bemühe ich mich morgens erst gar nicht um ein höheres Tempo. Abseits der Straße schlängelt sich ein Radweg durch die Obst- und Weinberge. Das kleine Auf und Ab ist jedoch mühsamer als erwartet, auch geht es nicht mehr so flach weiter wie abends zuvor bei Naturns. Bereits früh einsetzende Hitze und ein austrocknender Gegenwind tun ein Übriges. Irgendwie verlangt der Körper schon nach einem Ruhetag. Unter den Orten des Vinschgaus ist wohl Latsch der hübscheste. Am Ortseingang befindet sich mit Blick auf eine Seilbahn eine drahtige Weltkugel, die die Schüler einer Handwerksschule gefertigt haben. Im Ort genehmige ich mir geruhsam erst einmal einen Capuccino mit Croissant. Mit weiterer Marschverpflegung mache ich mich auf ins Martelltal, das bereits im unteren Teil stark ansteigt. Nach dem Ort Morter und einer Flussbaustelle sehe ich immer wieder die schäumenden Kaskaden des Plimabachs. In Stufen bildet er immer wieder badegeeignete Auswaschungen und Becken aus hellem Stein. Nur wenige Meter von der Straße entfernt verläuft ein steiniger und sandiger Fahrweg, der direkt neben dem Gebirgsbach verläuft. Von dort aus suche ich mir bald eine Badestelle, obwohl das Tal auch attraktiv wäre weiter zu fahren. Aber ich will ja ausspannen. Und so bleibe ich allein mit Sonne und prickelndem Gebirgswasser sowie einem herrlichem Blick über das Etschtal hinweg bis zum späteren Nachmittag. Die kleine Abfahrt hinunter und zurück im Etschtal strebe ich wieder zäh gegen den giftigen Wind. Nach weiteren Obstplantagen nimmt die Route über den Radweg von Schlanders nach Lasa einen anderen Verlauf. Einige steile Rampen muss ich bewältigen, auch nicht immer asphaltiert, wobei meine Räder immer mal wieder durchdrehen. Eine hübsche Mountainbikerin überholt mich, durch die Schotterpassagen kann ich doch nicht mithalten. Die Etsch wird zum wilden Gebirgsfluss, der hier eine größere Höhe überwindet. Der Abschnitt ist zudem sehr schattig von Nadelwald umgeben. Dann folgt wieder ein eher ebener Verlauf von Lasa bis Prad, teilweise schnurgerade zwischen den Wiesen und der sedimentgrauen Etsch, dafür zehrt der Wind wieder stärker an den Kräften. Die Berghänge verlieren sich etwas in dem breiten Hochtal, nur Richtung Prad sehe ich, dass es dort „ernst“ wird. Der enge Taleinschnitt zum Trafoiertal lässt sich erahnen. In einem kleinen Supermarkt in Prad besorge ich mir noch ein paar Müsliriegel als Sicherheitspolster für den morgigen Tag. Dann gibt es kurz vor Ladenschluss noch einen Stromausfall. Und ohne Strom keine Kasse. Da sieht man mal wieder, wie schnell die Zivilisation zusammenbrechen kann. Nun, hier sind es nur fünf Minuten des Stillstandes, doch nachdenklich macht das schon. Auch in Prad stehen zwei Campingplätze bereit, einer im Sportgelände Richtung Reschenpass und einer gleich im Ort als idealer Startort zum Stilfserjoch. Der Platz ist fast voll belegt, aber ich erkenne nur zwei (ältere) Rennradler – die meisten sind doch nur gewöhnliche Automobilisten. Der Platz ist sehr nobel mit Außenswimmingpool und Hallenbad ausgestattet. Auch die luxuriösen Sanitäranlagen finden sich wieder, die Nacht über gibt’s gleichfalls Dauerberieselung, diesmal allerdings internationale Schlager, z.B. der gehauchte Orgasmus-Klassiker „Je t’aime“. Zum Essen bleibe ich gleich im Camping-Restaurant – passabel, aber kulinarische Wunder werden hier auch nicht vollbracht. Den Abschluss bildet ein Eiskaffee in einem modern gestylten Eiscafé mit Bistro. Noch einmal Durchatmen unter dem stillen Nachthimmel für den ersten Königspass. Di, 28.6. Prad (913m) – Stilfserjoch (2757m) – Bormio – Tirano (450m) – Li Curt/Poschiavo (1001m)[105 km – 7:48 h – 13,3 km/h – 2395 Hm] Am wieder schönen Sommertag sitze ich um 6:50 h auf dem Radl. Gleich beginnt der Anstieg ins Trafoier Tal, jedoch noch nicht mit den steilsten Abschnitten. So kann ich mich langsam in einen Rhythmus hineinfahren. Der fast auf Höhe der Straße fließende Suldenbach gebiert sich wild mit grauem Schmelzwasser. Nicht weit von Prad entfernt überrascht ein kurioses Haus eines Skulpturenkünstlers meinen Blick. Geweihe, Knochen- und Skelettmobiles zieren das Haus, buntbemalte Waldschrate und Gnome aus Stein stehen neben geradezu clownesken Marterpfählen. Das Makabre wirkt komödiantisch, die Geister der Unterwelt bitten zum fröhlichen Tanz – Partytime im Totenreich, die Geister lachen – über wen? – Über so verrückte Radler wie dieser, der gerade vorbeizieht? Ich lasse die geheime Gedankenwelt des Künstlers hinter mir um mich wieder der faszinierenden Natur zuzuwenden. Noch ist das Tal dunkel, eng und ohne Weitblick. Zu meiner Rechten liegt steil im Berg der Ort Stilfs. Die reguläre Straße zum Ort zeigt aber erst später im kleinen Ort Gomagoi ab. Hier gäbe es einige Übernachtungsmöglichkeiten. Von Süden her sehe ich ein Reiseradlerpaar aus dem Suldental kommen. In Trafoi haben sie sich an mich herangepirscht. Es sind Schweizer, etwa meine Altersklasse, er wirkt wie ein verwegener Bergsteigertyp mit langen Haaren. Sie haben in Sulden (1907 m) übernachtet, weil es ihnen im Tal zu warm war. Sie wollen weiter über das Stilfserjoch wieder Richtung Schweiz in den Nationalpark im Bereich des Ofenpasses. Ich selbst pausiere in einem kleinen Gasthaus für ein Frühstück, denn ich verspüre doch ein gewisses Hungergefühl nach den zwei mageren Müsliriegeln. Von einem Invaliden, der ehemals viel Sport getrieben hat und nur noch seiner wandernden Familie Bergheil wünscht, bekomme ich noch lobenden Zuspruch. Mit dem erholsamen Vortag und der nunmehr richtig dosierten Stärkung komme ich in einen guten Rhythmus, der mir zu einer positiv gestimmten Auffahrt verhilft. Insgesamt ist die Performance einer der besten unter meinen Passauffahrten auf der Tour. Obwohl ich sehr wohl mein Tempo dosiere und einige Verschnaufpausen einlege, kann ich doch ein vergleichsweise hohes Tempo halten, d.h. bleibe nahezu immer über 7 km/h, oft sogar bei 8 km/h. Es sind mittlerweile etliche Rennradler unterwegs, darunter auch eine „Rennraddame“ von schier unvorstellbaren Maßen. Nicht allzu groß, aber dickwadige Stumpen und ein schwerer Kugelkörper wogt den Berg hinauf, im Superrhythmus mit zwei männlichen, sportlich gebauten Begleitern. Es ist verblüffend, welche Talente die Natur in manch unförmige Körper steckt, obwohl es doch den Gesetzen der Schwerkraft zu widerstreben scheint. Mehr und mehr lichtet sich der Blick durch einen hellen Lärchenwald auf Berge und Gletscher, der schönste Abschnitt im Trafoiertal ist grandios. An der Franzenshöhe tritt die gesamte Bergwelt offen zutage, darunter auch der 3905m hohe Ortler, zu anderen Seite die Passhöhe – schon fast greifbar nahe und doch noch eine gute Ewigkeit. Von einer Arbeitsplattform abseits des Hotels transportiert ein Hubschrauber Paletten mit Baumaterial in die Berge – Lastentransport in den Bergen. Ich spreche mit einer Frau aus der Nähe meiner Heimat aus Bonn, die auf ihre trainierenden Velomänner wartet – familiärer Begleitservice eben. Ihre Rolle erfüllt sie aber gelassen und anerkennend für ihre Männer. Der obere Teil ist sogar etwas leichter als der bewaldete untere Teil. Ich drossele mein Tempo sogar bewusst um nicht der Versuchung zu Erliegen zum Pass hin bereits alle Körner zu verbrauchen, denn der Tag hat noch einen ebenfalls schwierigen zweiten Teil. Auf der Passhöhe ist jede Menge Trubel. Radler, Biker, Autos, Sommerskifahrer – alles mischt sich zwischen zahlreichen Kiosken, mehren Restaurants und Hotels. Das Siegerfoto für 48 bewältige Kehren zum Himmelstor macht ein 1-Wochenradreisender aus dem Südschwarzwald. Er verweist auf die manchmal giftigeren Anstiege in dem deutschen Mittelgebirge – na ja, die langen Anstiege für die zähe Ausdauer gibt es so natürlich nur in den Alpen. Und landschaftlich ist das Hochgebirge eben die upper class – unschlagbar eben. Der Hochsommertag erlaubt mir, auf 2760 m im Gaze-Shirt in der Sonne auf der Terrasse zu sitzen. Aus Belohnung für 48 Kehren Richtung Himmelstor leiste ich mir Rehpfeffer mit Polenta – allerdings ziemlich teuer auf dieser extrem kommerzialisierten Passhöhe. Noch eine Verbeugung vor dem Memorial zu Ehren Fausto Coppis – der größten Radsportlegende neben Eddy Merckx – und es folgt eine zunächst mäßige Abfahrt. Dann – oh Wunder! – ein Schweizer Zöllner mitten in der einsamen Bergwelt? – Die Grenze liegt hier nach Norden hin zum nur kurz entfernten Umbrailpass hin auf ca. 2500m – weiterführend Richtung Ofenpass. Der Zöllner macht den Anachronismus dieses Berufsstandes hier besonders deutlich – die Schweiz auch hier im Hochgebirge eine gut behütete Trutzburg inmitten Europas. Von diesem Grenzpunkt aus wird der Blick ins Val del Bráulio frei. Im gleißenden Sonnenlicht liegen die weit geschwungenen Serpentinen am offenen Berghang. Weiter nach Süden zieht sich dann die Straße längs in die Ferne, in einer Reihe von Tunnels verschwindend. Jeder Meter nach unten öffnet hier neue Perspektiven. Auf ca. 2400m Höhe liegt eine romantische Unterkunft direkt neben einem Wasserfall, wo ausgeformte Becken fast wie Außenbadewannen des Berggasthofes wirken. Der Eindruck der Abfahrt ist überwältigend – die Freudentränen sind nicht mehr zu vermeiden. Die heiße Sommerluft umweht die Hautporen mit sinnlicher Kraft. Ein starker Gegenwind mit teils seitlichen Böen erfordert dabei ebenso höchste Konzentration wie die Hell-Dunkel-Wechsel bei Ein- und Ausfahrt der Galerien. Ich empfehle das Tempo zu drosseln, weil auch für erfahrene Radler nicht ungefährlich! Obwohl es auf der Nordseite doch recht viel Verkehr gab, scheint mir die Südseite wie ausgestorben – es liegt wohl auch an der Mittagszeit. Mitleidig wanken und schwitzen sich etliche Rennradler den Berg hoch – manche haben apathisch entstellte Gesichter und sind des Grüßens und Schauens nicht mehr mächtig. Im tief gelegenen Bórmio habe ich Mitleid mit den Pflasterarbeitern an einer Straße – in brütender Hitze – da habe ich mit dem kühlenden Fahrtwind noch weit bessere Bedingungen. Von Bórmio aus gibt es eine Route über Livigno und drei 2000er-Pässe bis kurz unter der Südanfahrt zum Bernina-Pass. Auf die Weise verpasst man jedoch die durchaus attraktiven unteren Teile der mir nun vorliegenden Route. Noch vor Valdisotto zweigt die Hauptroute als Kraftfahrtstraße durch viele Tunnels Richtung Tirano ab. Daher ist die Nebenstraße durch das Addatal angenehm zu fahren. Immer noch im Naturpark Stilfserjoch, genieße ich das idyllische Tal mit Birken-hellem Auenwald, einer quirligen Vogelwelt und den weit verzweigten Mäandern der Adda. Ein sehr schönes Ortsbild liefert Valdisotto-Cepina, mit Blick auf die Dächer und das Kirchlein liegt ein kühler Picknick-Platz mit Wasserstelle. Die Wasserversorgung ist in diesem unteren Teil durch viele Brunnen immerzu gesichert. Wer das Stilfserjoch von Süden aus angeht, sei der Ort als Ausgangsort empfohlen, Camping ist vorhanden und es ist ruhiger als im eher überlaufenen Bórmio. Einen Badeplatz in diesem Teil an der Adda ist allerdings schwierig zu finden, einerseits weil die Straße teils zu weit oben verläuft, andererseits, will in dem Netz der Wasserläufe nur schwer sich mein Rad zum Fluss schieben lässt. Reine Fußgänger können da schon eher mal über ein Bächlein springen oder die Überstiege aus zwei Baumstämmen nutzen. Ich halte mich kurz an einem Nebenbach auf, es reicht, um gerade den Körper unterzutauchen. Doch bald verdeutliche ich mir nochmal das Restprogramm des Tages und erschrecke ein wenig, weil mir die restlichen Höhenmeter nicht wirklich bewusst sind. Vom 450 m tief gelegenen Tirano muss ich nochmal auf 1000 m klettern, um Poschiavo erreichen zu können. Aber selbst die Fahrstrecke nach Tirano enthält noch einige kleine giftige Steigungen, bevor eine durchgehend flotte Fahrt möglich wird. Ich rase durch einige pittoreske Orte (Sóndalo, Grósio), die auch einen Übernachtungsaufenthalt rechtfertigen würden. Kurz vor Tirano vereinen sich beide Straßen wieder zu einer einzigen mit entsprechend viel Verkehr. Brütend heiß ist es in Tirano. Fast wie eine Großstadt wirkt das regionale Zentrum, breite Avenuen geleiten auf einen weithin sichtbaren Kirchenkuppelbau. Bereits im nordwestlichen Stadtbereich wirken sich die Schatten spendenden Berge auf die Temperatur aus. Doch was die etwas kühlere Luft an Schweiß einspart, fordert die nun gleich beginnende Steigung wieder heraus. Ungewöhnlich der Anblick der Bahn mitten in der Stadt: Die staksigen, urig-roten Züge der Rhätischen Bahn (zuweilen auch der exklusive Bernina-Express mit seinen verglasten Panoramawägen) fahren mitten auf der Straße wie eine Straßenbahn. Das Quietschen der Bremsen verrät bereits ein steiles Terrain, das die außergewöhnliche Ingenieursleistung dieser höchsten Bahntrasse Europas verdeutlicht. Die Stadt ist bald hinter mir und ich überfahre die schweizerische Grenze (Zöllner kontrolliert Ausweis), die Sprache bleibt allerdings unverändert italienisch. Der Anstieg verläuft mit 5-8% nicht allzu steil, jedoch versuche das Tempo hochzuhalten um mein Etappenziel noch zu erreichen. Dabei schwitze ich Schweiß und Wasser. Ich muss bald das Tempo etwas drosseln, weil ich Gefahr laufe mich mit Blick auf den Folgetag übermäßig zu verausgaben. Neben mir taucht ab und an immer wieder die Bahntrasse auf. Die eindrücklichste Konstruktion ist dabei der Bahnkreisel bei Brúsio. Leider fährt gerade kein Bähnlein darüber und außerdem ist die optimale Fotoposition dafür abseits der Straße am östlichen Waldrand. Auf der Straße rasen einige Schweizer übermäßig und ungebührlich im fehlenden Respekt gegenüber Landschaft und Bergen. Überhaupt verführt der ziemlich geradlinige Verlauf der Berninapassstraße zu für die Berge untypischen hohen Geschwindigkeiten. Bald lässt der Alltagsverkehr nach und ich erreiche Miralago mit der ruhenden Perle im Puschlavtal, dem Lago di Poschiavo, oft auch nur als Lago bezeichnet. An der Westseite verläuft Straße und Bahntrasse nur wenige Meter über dem See. Eine meditative Abendstimmung im angenehm milden Klimat hält mich gefangen. An der Nordseite liegt in La Brese ein wunderbarer Camping am See und ich hätte wohl diesem den Vorzug geben sollen. Aber ich entscheide mich, das noch kleine Flachstück bis Poschiavo zu radeln (welcher der eigentlich schönere Ort ist, aber eben ohne den See). In Li Curt etwa 2 Kilometer vor Poschiavo liegt ein Camping direkt neben der Fahrtstrecke. Für Nicht-Camper stehen auch einige Hotels und Bed & Breakfast-Gelegenheiten zur Verfügung zu durchaus noch günstigen Preisen. Durchaus teuer ist die Restauration, dafür erweist sich die Veltlin-Küche als kreativ und hochwertig.
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Liebe Grüße! Ciao! Salut! Saludos! Greetings! Matthias Pedalgeist - Panorama für Radreisen, Landeskunde, Wegepoesie, offene Ohren & Begegnungen | |
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#480404 - 11/16/08 11:01 PM
Re: Große Alpentour der 2000er
[Re: veloträumer]
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Teil 2: Die ZentralalpenMi, 29.6. Poschiavo – Berninapass (2328m) – Pontresina – Zuoz[54 km – 4:42 h – 11,4 km/h – 1335 Hm] Morgens beginne ich gegen 7:20 Uhr bei eher schwüler Luft. Leichtsinnig schlage ich in Poschiavo ein Frühstück noch aus, danach kommt unglücklicherweise keine Gelegenheit mehr, auch keine Bäckerei kann ich in San Carlo ausfindig machen. Ich fühle mich matt und müde, der erfolgreiche Vortag hat seinen Tribut gefordert und die Kraftreserven sind erschöpft – zumindest für einen so schwierigen Berg, der mit konstant 10-12% keine Ruhepause bietet. Eine erste Rast am Straßenrand zum Pflücken von Walderdbeeren ist mehr zeitaufwändig als dass sie mir neue Kräfte verleiht. Das häufige Anhalten mit erneutem Anfahren drückt nicht nur mein Tempo, sondern verbraucht auch weitere unnötige Kraftressourcen. Im Bistro an der Straße bei Piscadello bekomme ich ein Sandwich aus Sauerteigbrot und Schinken, das ich aber nur runterwürgen kann. Kräfte gewinne ich dadurch auch nicht. Ich quäle mich weiter hinauf. Mittlerweile hat sich der Himmel von allen Seiten zugezogen. Eine kleine Zwischenebene in La Rosa erfordert schließlich eine Gewitterpause. Der Versuch mit einer kleinen Nudelportion und gespritzten Apfelsaft meine Kräfte zu mobilisieren, scheitert erneut. Ich könnte im Restaurant einfach einschlafen, so fallmüde bin ich. Doch treibt mich die nächste Regenpause wieder weiter. Kaum habe ich die nächste Steigung anvisiert, trommelt und donnert der Himmel erneut. Von Westen verstärken zusätzlich Flak-Böller der Schweizerischen Armee das Getöse. Ich befinde mich bereits weitgehend schutzlos oberhalb der Baumgrenze. Das Gewitter setzt sich erneut durch. Alle Regenhüllen raus und doch zu wenig Abdeckung. Ein Bauwagen liefert mir den nötigsten Schutz vor dem Schauerwasser. Es ist ungenehm kühl, die dicke Regenjacke beginnt ihren Dienst anzutreten, der Sommer scheint verschwunden. Noch im dünner werdenden Regen starte ich wieder. Zwei Kehren weiter steht wieder ein Zöllner in der Landschaft (Es hätte eine Überdachung gegeben). Hier ist die Grenze zu Italien in Richtung Livigno – also die Stelle wo die alternative Bergverbindung von Bórmio aus rauskommt. Auch jetzt kann ich keinen Rhythmus finden, die Atmung fällt schwer, das Zwerchfell blockiert, das Essen und die Kohlensäure machen sich negativ bemerkbar. Meine Geschwindigkeit liegt um 1,5-2,5 km/h niedriger als am Stilfserjoch – teils, weil steiler, teils aber eben wegen der schlechten Tageskonstitution. Noch immer böllert lautstark die Schweizer Flak. Fast meine ich, dass sie den Himmel freischießen, denn ein wenig Sonne wagt sich wieder hervor, ich kann die Regenjacke wieder zurückstecken. Bei dieser Aktion kommt ein Werbeauto von Red Bull mit der übergroßen Dose hinten drauf an mir vorbei. Zwei hübsche Girls sind begeistert und haben ein wenig Mitleid für meinen schweren Aufstieg. Ich bekomme eine Dose Red Bull geschenkt – ein Getränk, dass ich noch nie probiert habe. Ich stecke es zunächst in meine Tasche, zumal Kohlensäure drin ist – also nichts für angespannte Tourmomente. Immerhin puscht mich die fröhliche Begegnung zu einem finalen Kraftakt zur Passhöhe. Die gigantische Berg- und Gletscherwelt schafft ein tolles Panorama am Berninapass. Das Hospiz liegt etwas unter der Passhöhe auf der Nordseite. Noch kann ich Kuchen und Capuccino draußen genießen, doch dann treibt kalter Wind und ein wenig Regen meinen Schweizer Gesprächspartner und mich in die Innenräume. Der Radler aus Winterthur mit kleinem Gepäck ist eine Woche unterwegs und kam über die Livigno-Route. Eine holländische Rennradgruppe ist gut aufgelegt und macht ihre Späße. Kaum habe ich das Hospiz hinter mir gelassen, tritt die Berninabahntrasse hinter den Bergen hervor. Sie verläuft jetzt teilweise direkt neben der Straße, die ein relativ geringes Gefälle aufweist. Radler aus Richtung Engadin können den Berninapass auf der Nordseite also recht einfach bezwingen. Etwa auf halben Weg in Richtung Pontresina dann das Highlight des Berninapasses: Eine Ureislandschaft zeichnet linker Hand das Bild vom Morteratsch-Gletscher. Die Perspektiven wechseln meterweise, einer atemberaubender als der andere. Blicke durch ein Fenster aus knorrigen Kiefern verstärken das Bild einer Urlandschaft, in der nur noch lebendig wandelnde Mammuts fehlen. Bei so viel Wunderwelt kann schon mal das Auge feucht werden. Besondere Bilder entstehen zusammen mit der Eisenbahn, wenn der rote Zug der Rhätischen Bahn in der Kurve den Farbtupfer in das Bild setzt. Personen- und Güterverkehr sind hier übrigens gekoppelt. Pontresina ist eine Mischung aus mondänem Ferienort und Engadiner Baukunst. Es herrscht enormer Trubel und ich durchfahre ein Zielbanner für Radler in umgekehrter Richtung. Die Jeantex-Transalp-Tour hat hier heute ihr Etappenziel. Sie kommen genau in meiner Gegenrichtung, also vom Albula her. Überall sieht man Radler verbissen an ihren Rädern schrauben und putzen. andere versuchen mit dem Handy ihre Zimmerpartner ausfindig zu machen. Zum Glück habe ich hier nicht mein Etappenziel, denn es wäre sicherlich kein Übernachtungsplatz mehr zu bekommen – weder in Hotel noch Jugendherberge. Es sind lediglich 5 Kilometer bis zum noch nobleren High-Society-Dorf St. Moritz. Auch wenn es das eine oder andere Dorfidyll zu sehen geben könnte, ist der mondäne Luxus des Wintersportortes für mich nicht interessant. So umfahre ich die kurze und höchst einfache Passage nach Silvaplana auf die höchst schwierigste Art in einer Tagesetappe über Albula und Julier. Zunächst geht es Richtung Nordost am jungen Inn entlang durch das Engadiner Hochtal, das hier geradezu kein Gefälle hat (zischen den über 25 km zwischen Maloja und Zuoz sind es lediglich 100 Hm). Das Tal ist breit, die Straße schnurgerade und verkehrsreich und der Himmel tief wolkenverhangen, wenig reizvoll und im depressiven Grau gehalten. Noch etliche Radler der Transalp-Tour begegnen mir, im Kampf um die verlorenen Minuten wirken einige ganz apathisch. In La Punt, dem Ort an der Auffahrt zum Albula, beginnt es zu regnen – zunächst nur leicht. Obwohl der Albula für mich zeitlich noch zu schaffen wäre, z.B. bis Bergün, machen die dunklen Gewitterwolken eine Weiterfahrt unmöglich. Das Etappenziel Savognin hätte ich aber auch bei guter Witterung nicht mehr erreicht. Ein Hotel direkt vor dem Bahnübergang und gleich an der steil ansteigenden Albulapassstraße weckt meine Hoffung auf ein Ende des etwas verkorksten Tages. Die Zimmerpreise von 85 SFr (56 €) liegen jedoch über meinem Limit. Ich versuche zu verhandeln, die Dame ist jedoch darüber empört – die Zimmer seien schließlich gut und entsprechen diesem Preis. Da ist sie nun, die Schweizer Sommerfalle für den „armen“ Deutschen – schlechtes Wetter, der die spontane Hotelunterkunft verlangt und die Schweizer Hochpreise bekommt. Ich versäume über den Bahnübergang zu schauen, dort werde ich am nächsten Morgen eine Unterkunft für 55 SFr (36 €) ausmachen. Ich fahre aber über die Brücke, wo noch ein Hotel steht, dass aber schon äußerlich einen noch exklusiveren Eindruck machte – Einzelzimmer kosten 115 SFr (76 €). Mittlerweile regnet es heftig und es nahezu nachtdunkel. Im Supermarkt kaufe ich noch ein paar Kleinigkeiten und warte zunächst. Schließlich starte ich noch mal durch den Regen Richtung Zernez. Es folgen jetzt einige kleine Orte im kurzen Abstand und vielleicht finde ich eine preiswertere Unterkunft – in Susauna (ca. 10 km) soll es auch eine Jugendherberge geben. Doch der Regen wird schon bald wieder stärker, das Gepäck droht trotz der Regenhüllen zu durchnässen und ich selbst finde auch keinen Gefallen mehr am nasskalten Regentrip. Mir fallen immer wieder die seltsamen Namen in Romantsch (Rätoromanisch) auf. Fast alle Häuser tragen Namen. Manche Wegweiser sind sogar nur auf Romantsch. In Zuoz schließlich stehen zwei wunderschön bemalte Gasthäuser gegenüber – wieder wohl nicht billig. Aber immerhin bekomme ich ein Zimmer (mit Etagendusche) für 70 SFr (46 €) – das ist nur noch leicht über meinem Standard-Limit von 40 €. (Manchmal akzeptiere ich auch schon 45 € und für die Schweiz sollte man ohnehin etwas drauflegen). Nicht nur äußerlich wirken diese Engadiner Häuser kunstvoll und behaglich, auch im Innern vermitteln die nie ganz geraden Wänden und gewölbte Decken ein heimeliges Wohngefühl. Kein Hotelgang auf den Etagen, sondern rundum angeordnete Zimmertüren sind von einem noblen und geräumigen Etagenraum aus zugänglich. Die Einrichtung ist antiquarisch, das Waschbecken stilgerecht altertümlich und zu hoch, die Etagenduschen bescheiden. Durch die kleinen Fenster trommelt der Regen auf das Pflaster und wirkt mit diesem Ambiente nun wie das beruhigende Rauschen, das nach der Arbeit die Seele beruhigt. Im Restaurant speise ich köstlich – die Engadiner Küche ist um einige Raffinessen bemüht. Zu hausgemachten Spätzle gibt es Rehpfeffer, als Nachtisch Melonengelatine mit Lakritzsauce und Rosenölschaum. Nach einer Plauderei mit einem Schweizer Unternehmer und zwei deutschen Motorradfahrern entschlummere ich nebst Regengeplätscher in einen neuen Tag. Do, 30.6. Zuoz (1716m) – Albulapass (2321m) – Bergün – Tiefencastel (851m) – Julierpass (2284m) – Silvaplana (1795m) – Maloja[103 km – 7:35 h – 13,4 km/h – 2080 Hm] Die Nacht war noch regenreich, das Fernsehen meldet sogar Überschwemmungen aus Deutschland. Der Sommer sucht überall nach seiner Identität. Nach sehr gutem Frühstück bemustere ich noch einige der bemalten Häuser im Ort, unorthodoxe Fenstersimse geben jeder Häuserfront eigene Gesichter, schmucke Metallfiguren vor den Häusern bilden Handwerksberufe ab. Zuoz gehört zu den schönsten Orten im Engadin, ist jedenfalls urtümlicher und schmucker als Pontresina, St. Moritz und andere Orte. Im Hotel befindet sich unten auch ein Feinschmeckerladen mit Wein, Schinken, Käse und Konfiseriewaren, wo ich unter schmerzlichem Verzicht auf schokoladige Köstlichkeiten nur ein Birnenbrot erwerbe. Ich fahre nun die 3-4 km zurück nach La Punt. Im kühlen Hochtal schweben noch die Dunstwolken von der Regenfeuchte. Langsam lösen sich erste Bereiche in der Morgensonne auf. Die Wolken bilden seltsame Strukturen, die Lichteffekte sind von künstlerischer Gestalt, das Grün der Wiesen leuchtet erstmals auf, die Kühe genießen das saftige Gras. Bei La Punt beginnt gleich die heftige Steigung in Serpentinen. Die Schweizer Armee ist auch schon dabei, laute Artillerie abzufeuern – es kracht durch die Berge als wäre Krieg. Ungestört davon sind die Murmeltiere beim Frühstück und organisieren mit ebenso militärischem Drill ihre Gefahrenmeldungen – ein lautes Pfeifkonzert und bald sind alle in ihren Eingängen verschwunden – der Fototourist hat keine Chance. Über den locker mit Kiefern und Lärchen bewaldeten Hängen breitet sich eine herrliche Morgenstimmung mit tiefem Blick ins Tal aus. So komme ich gut voran und bald wird die Straße flacher, wendet sich vom Tal ab. Das Murmeltiergepfeife wird nun durch ein Kuhglockenkonzert angereichert, Senner und Hunde treiben die Kühe auf der anderen Berghangseite voran. Eine sehr vielfältige Blumenwelt von überwiegend alpinen Lippenblütlern schafft einen farbenfrohen Teppich, dahinter baut sich eine steinerne Mondlandschaft insbesondere in Richtung Passhöhe auf. Die Schweizer Flak dröhnt schließlich wieder laut, erschreckt mich gar, eigentlich sollten Passanten hier Ohrschützer erhalten – die Soldaten nun sichtbar und sogar ein Sicherheitsposten, der den Verkehr für eine kurze Weile wegen der Militäraktivitäten anhält. Am Hospiz auf der Passhöhe schwärmen erste Wanderer in die Bergwiesen aus, ein paar Gäste nehmen zum Kaffee Platz. Unter diesen ist ein Mann mittleren Alters, der an den Rollstuhl gefesselt ist. Er möchte ein Red Bull, das die Gastwirtin aber nicht anbieten kann. Ich erinnere mich der Dose des Vortages, die noch in meinem Gepäck steckt. Ich biete ihm meine Red Bull. Er fängt an zu lachen. „Da schleppen Sie die Dose den Berg hoch und wollen sie auch noch verschenken.“ Er lehnt ab, obwohl ich ihm noch erzähle, dass mir an dem Getränk nichts gelegen ist. Er glaubt, ich brauche die Energie, ist von meiner Leistung beeindruckt und gibt zu Verstehen, dass er selbst früher Leistungssport betrieben hat. Noch immer ist es kühl auf der Abfahrt. Wenig unterhalb der Passhöhe kreuze ich nun mehrfach die Albulabahnstrecke, die in irrwitzigen Kurven, Tunnelpassagen und Brücken über wilde Wasserkaskaden durch das enge Tal, eher Schlucht, führt. Ein tiefgrüner Bergsee strahlt eine idyllische Ruhe aus. Dort zieht ein Vater seinen kleinen Sohn im Hänger nach oben, die Frau folgt wenige hundert Meter später. Das ist nicht das erste Mal, dass ich solche Kinderhänger in den Bergen gesehen habe. Z.B. letztes Jahr am Col de Peyrol im französischen Zentralmassiv oder vor vier Jahren im hitzegetränkten Andalusien. Nach dem herrlichen Szenario der Abfahrt erreiche ich Bergün, ein höchst pittoresker Bergort, in dem die aufwändig restaurierten Häuser den Höhepunkt der romantschen Baumalarchitektur markieren. Eine Schulklasse ist dabei, die Einzelheiten der Fassaden mit dem Zeichenstift festzuhalten. An dem Brunnen gegenüber eines solchen als Restaurant hergerichteten Hauses probiere ich nun endlich dieses Getränk namens Red Bull. Ich staune – es schmeckt nach einer Mischung aus Cola und Dieselkraftstoff – wie kann so ein Gesöff sich als eines der populärsten Getränke und sogar als ein Sport-Energiedrink am Markt halten? – Der Rest ist schnell im Gully. – Abscheulich! Auf dem weiteren Weg nach Tiefencastel bemerke ich etliche Campingplätze, die nicht auf der Karte verzeichnet sind. Auch die Hotelpreise sind hier wieder etwas niedriger als im Engadin. Bei Tiefencastel hat sich das Tal geöffnet, weite, gewölbte Wiesenhügel kennzeichnen die Szenerie und die Sonne prallt hochsommerlich vom klaren Himmel. Dennoch ist die Luft eher kühl. Gleich im unteren Teil Richtung Julier sorgt ein bissiger Gegenwind für eine zähe Fahrt. Das Tal ist zunächst ohne großen Reiz, der Verkehr nicht ganz so stark wie erwartet. Auf steilere Stellen folgen immer wieder Flachpassagen oder gar Zwischenabfahrten wie bei Savognin. Das macht die Auffahrt zum Julierpass zu einer langwierigen und ziemlich schwierigen Angelegenheit. Vor einem Stausee zieht sich ein langes Hochtal mit schönen Wiesen und dunklen Nadelwaldhainen. In einer geschützten Nische pausiere ich einen Weilchen, der Fluss hat jedoch zu wenig Tiefe zum Baden. Erreicht man die offene Berglandschaft beim Wintersportort Bivio und glaubt sich dem Pass nahe, verlängern erneut Flachpassagen den Weg und die Passhöhe taucht zweimal vermeintlich auf, ist es aber noch nicht. Da insgesamt noch wesentliche Höhenmeter fehlen, werden mir die letzten Kilometer zur Qual, es geht ähnlich mühsam voran wie am Valparolapass in den Dolomiten. In der Mondlandschaft der Passhöhe gibt es nur einen Kioskcontainer, der aber nicht mehr geöffnet hat. Diesmal bekomme ich keinen Aufkleber für meine Trophäensammlung. Die Abfahrt ins Engadiner Hochtal ist kurz (immerhin liegt Silvaplana auf über 1800 m.ü.M.). Ich erschrecke ein wenig über meine Geschwindigkeit. Auf der Geraden nach unten erreiche zeitweise 79 km/h – ein durchweg untypischer Wert, denn meistens ist bei 60-65 km/h Schluss. So muss ich mich zwingen, an einer Schleife oberhalb Silvaplanas kräftig zu bremsen – denn hier schweift durch die Kieferbäume ein herrlicher Panoramablick über den kleineren Champfèrer See und den größeren Silvaplaner See. Die Seen liegen ganz plan und still von ganz eigenem Charakter in dieser lang gezogenen Hochebene. Nach Osten erkenne ich am Berghang einen Palastbau von St. Moritz, der gesamte Ort ist jedoch nicht einsehbar. Da ich noch Zeit habe, fahre ich am Camping von Silvaplana vorbei und flach weiter bis Maloja, wo sich auch ein Camping befindet. Eine kurze Landbrücke unterbricht die Seefläche zum Silser See, der der größte der Seen ist. Gegenüber kann ich die charakteristischen Türme des exklusiven Kurhotels Sils Maria ausmachen. Dahinter streben die Berggipfel gegen den Himmel, z.T. noch mit Schnee bedeckt. Durch den kühlen Abendwind ist der Silser See etwas aufgeraut, doch bleibt das Gefühl entrückter Ruhe. Am Ortseingang Maloja führt ein asphaltierter Weg zum Camping am See. Es ist jetzt bereits unangenehm kühl und die Nacht dürfte eine kleine Mutprobe werden. Am Ortsanfang finde ich ein sehr schönes Panoramarestaurant (mit Hotel), wo man den wunderbaren Blick über diese eigentümliche Hochtallandschaft genießen kann. Das Restaurant hat sich auf Maronengerichte spezialisiert, etwa Maronen-Nudeln und -Spätzle. Ich denke noch, wie bequem es wäre nun im Hotel im Warmen zu entschlummern und beim Frühstück den Panoramablick zu genießen – aber ich habe mich ja für die harte Variante entschieden. Fr, 1.7. Maloja – Malojapass (1815m) – Chiavenna (333m) – Campodolcino – Splügenpass (2113m) – Splügen – Thusis[107 km – 7:39 h – 13,9 km/h – 1813 Hm] Die Romantik hat irgendwo seine Grenzen. Z.B. wenn in der eiskalten Nacht über dem Zelt bis zu drei Gewitter gleichzeitig toben und ein gesunder Schlaf schier unmöglich ist. Immerhin, die Salewa-Zeltplane hat gehalten. Morgens ist es jedoch bei heftigem Wind enorm kalt. Ich bekomme kaum meine Sachen halbwegs trocken verstaut, weil immer wieder kleine Regenschauern bei kaum überdachten Unterstellmöglichkeiten meine Abreisebereitschaft verzögern. Als ich alles verpackt habe, lädt mich ein Schweizer Urgestein auf einen Kaffee in seinen Wohnwagen ein. Er kommt seit 20 Jahren auf diesen Platz und ist passionierter Angler. Er erzählt mir einige Geschichten aus seinem Campingleben. Z.B. hat er einmal eine junge Radlerfrau, kaum mit Schutzkleidung ausgestattet, aus dem winterlichen Engadin ins Tal gefahren, weil die Verhältnisse für eine Abfahrt zu gefährlich waren. Eine Verrückte so wie er auch mich augenzwinkernd als Spinner bezeichnet – z.B. mit dem 35-kg-Rad von Zuoz nach Maloja zu fahren und dabei den Umweg über Albula und Julier zu wählen – und solche Sperenzien auch noch auf fünf Wochen auszudehnen. In vielen Sommern sei hier auf 1800 m Höhe der Winter nicht fern. Er sei schon oft morgens auf Glatteis ausgerutscht. Auch Schneefall kommt immer wieder vor. Es gibt hier im Hochtal auch keine warme Luftströmung und die Seen können nicht genügend Wärme speichern um ein mildes Klimat zu schaffen. Dann schwärmt er von der Faszination, stets Neues am immer wieder gleichen Ort zu entdecken. Der See, der nie gleich ist, die Berge, mal wieder eine neue Blume zu entdecken. Schließlich kommen wir noch auf die Murmeltiere zu sprechen. Ich erwähne die pfeifenden Nagetiere und bekomme eine Nachschulung. Murmeltiere pfeifen nicht, sie bellen. Das Organ und die Art der Organbewegung entsprechen dem Bellen wie es auch Hunde tun. Der Ton ist aber trotzdem dem Pfeifen nahe oder auch dem Schrei der Greifvögel. Der Streit bleibt da, ob ein Bellen, das pfeift, ein Bellen oder ein Pfeifen ist. Nun, der Wind und Regen lässt etwas nach und ich starte gegen 8:50 Uhr. Der Malojapass ist nicht auszumachen, denn nach dem Ort Maloja fällt die Straße nach unten ohne dass sie zuvor ansteigt. Ein geschenkter Pass also, der aber in umgekehrter Richtung durchaus schwierig ist. Eine Gruppe von Radlern mit Mountainbikes rüstet sich zur Abfahrt. Wir starten fast gemeinsam. Bald bleiben sie doch alle hinter mir zurück. Die Straße ist oben noch etwas feucht, bald aber weitgehend trocken, Winde habe ich schon stärker erlebt und eine besondere Sicherheitsabfahrt nicht nötig. „Sind wohl keine erfahrenen Passfahrer“, denke ich mir, als ich in Borgonuovo mich des langen Beinkleides und der Windjacke entledigen kann und immer noch niemand in Sichtweite ist. Im Bergelltal hätte es etliche günstige Unterkunftsmöglichkeiten und auch auf der Karte nicht verzeichnete Campingplätze gegeben. Die Gewitter der Nacht haben hier wohl nicht gewütet. Hätte ich‘s geahnt, wäre ich am Vorabend noch die Abfahrt angegangen. Die Landschaft durchstreife ich in schönen Kehren, halblichter Wald macht den Blick frei für die vielen rund ausgeformten Becken im Flüsschen Mera. Wenn auch das schweizerische Bergelltal schon italienisch anmutet, so fällt die Grenze bei Castasegna doch noch auf: In Italien ist immer etwas mehr los auf den Straßen und in den Orten, das Volk ist einfach lauter als die eidgenössischen Nachbarn. Ein besonderer Blick ergibt sich in Borgonuovo: Zwei über mehrere Stufen parallele Wasserfallstrahle sind genau durch eine Häuserflucht hindurch an der direkt dahinter aufragenden Bergwand zu sehen – so als würde das Wasser auf die Dächer abregnen. Noch immer von den Bergen eng eingefasst ist das bereits auf nur noch 333 m.ü.M. liegende Chiavenna. So verbinden sich hier grün bewaldete, steile Berghänge mit einem südländisch ansprechenden Ortsbild und dem rauen Bergfluss, der von mehren steinernen Bogenbrücken überspannt wird, zu einem herrlichen Stadtpanorama. Die Geschäfte und das Ambiente der Straßencafés erwecken den Eindruck einer wohlhabenden Stadt. Mit Leckereien aus der Konfiserie verbringe ich eine kleine Pause in der schwül-warmen Luft, der Himmel noch bewölkt. Kaum habe ich die Stadt über die sogleich steil ansteigende Straße zum Splügenpass verlassen, reist der Himmel auf und es wird gleich hochsommerlich heiß. Das Val San Giacomo ist noch enger als das Bergell, ein schluchtartiger Flusslauf und doch leuchtend grüne Hänge mit Blumenwiesen prägen den ersten Teil. Wegen der auf relativ kurzer Strecke zu überwindenden knapp 1800 Hm ist der Splügenpass einer der schwierigsten großen Alpenpässe (vom Süden her), auch wenn die Gesamthöhe mit 2113 m nicht so furchteinflößend erscheinen mag. Nicht nur die Hitze-Steilkehren-Kombination raubt mir schnell meine Kräfte, auch ein subtiler Gegenwind erschwert meine Auffahrt. Ich mache regen Gebrauch von den vielen Trinkwasserbrunnen, die den Weg begleiten. Am Ortsausgang von Campodolcino – das eine kleine Flachpassage zum Verschnaufen bietet – bin ich etwas verwirrt. Es gibt eine flussnahe, flachere Variante (SS 36) und eine wohl gleich ansteigende Route, die mit einem Tunnel beginnt (SS 36 direkt), und außerdem zu einem Ferienort Madésimo, der aber eine Sackgasse markiert. Tatsächlich zweigt diese Abfahrt aber erst einige Kilometer später von der SS 36 direkt ab, und zwar dort, wo die ein Kilometer längere Alternativstrecke über Isola sich mit der S 36 direkt wieder vereinigt. Ich entscheide mich richtigerweise für die SS 36 direkt. Sie ist deswegen zu empfehlen, weil gerade in diesem Abschnitt die atemberaubend engen Kehren mit kleinsten Tunnels ein alpines Straßenlabyrinth in den Berg frisst, das den Splügenpass auch zu einem der attraktivsten Pässe werden lässt. Hier müssen alle höllisch aufpassen, denn nicht nur für Auto an Auto sind viele Stellen zu schmal, sondern auch Rad und Auto sind manchmal nicht nebeneinander fahrbar. Der Gegenverkehr ist kaum einsehbar. Dazu kommt noch ein schlechter Straßenbelag (Achtung für Abfahrer!). Von Boffalora hat man von einer kleinen Aussichtsplattform einen besonderen Blick auf dieses Galerie-Kurven-Labyrinth, der durch den Wasserschleier eines Wasserfalls und die am Steilhang schmückenden Blumen angereichert wird. Nunmehr, da die Steigung nicht weniger wird, geht es durch offene Bergwiesen mit halboffenen Galerien weiter. Der Gegenwind bei der Auffahrt ist mittlerweile recht heftig und die Temperaturen sind deutlich auf dem Rückmarsch. Am Lago di Montespluga ist es dann schon bibbernd kalt. Am Ende des Sees gibt es in Montespluga die letzten Unterkunftsmöglichkeiten nicht in nur in Italien sondern auch die letzten bis Splügen. Ich erhalte hier meinen Aufkleber und selbst gemachte Heidelbeerbonbons. Der Wind ist so bissig, dass ich nur windgeschützt hinter einer Häuserwand einen Riegel essen kann. Das Rad wird vom Wind umgerissen und bei der weiteren Auffahrt muss ich wegen des heftigen Windes ein paar Mal das Rad anhalten um die Balance zu behalten. Es ist fast wundersam, das ich die Passhöhe überhaupt gegen den Wind erreichen kann. Dort gibt es einen Grenzposten (Grenze Italien/Schweiz, EU-Außengrenze), sonst aber nichts. Der Himmel ist mittlerweile dunkel bewölkt, die Luft eiskalt und der Wind eigentlich unerträglich. Ein holländischer Radler befindet sich gerade in umgekehrter Richtung fahrend auf dem Pass. Ich rate ihm ganz ins Tal bis nach Chiavenna zu fahren, weil es sonst überall zu kalt ist. Nach Norden erkenne ich nur Anti-Sommer. Mit Mühe kann ich mir im Schutz des Zollhäuschens meine lange Hose und die dicke Regenjacke überstreifen. Auf der Abfahrt muss ich besondere Vorsicht walten lassen, denn der Wind macht nicht nur die Kurvenfahrten riskant, sondern treibt auch die Kälte so unter die Haut, dass ich mich fröstelnd schütteln muss. In Splügen angekommen, ist es kaum besser. Ich muss mich erstmal im Windschutz von Häusern ein wenig aufwärmen. Die Hände sind leicht taub und der Schüttelfrost will nicht mehr aufhören. Es ist aber auch noch zu früh für ein Etappenende. Die nun anstehende Fahrt das Hinterrheintal hinunter ist mir bereits von meiner 2002er-Tour bekannt, die ich über den San Bernardino durch das Rheintal zum Bodensee hin abgeschlossen hatte. Doch war damals das Wetter wesentlich sommerlicher und die herrlichen Lichteffekte in den Wasserschleiern von den Wasserfällen in der Rheinschlucht kann ich unter diesem Himmelsgrau nicht nochmal wiedererleben. Im Wechsel aus Flachpassagen und Schussfahrten erreiche ich bald die Via Mala, die schon fast im Dunklen liegt. Vor Thusis kommen zwei Tunnels. Wenn ich noch weiterfahren wollte, müsste ich eine Hotelunterkunft z.B. in Rhäzuns oder Bonaduz nehmen. In Thusis gibt es eine Jugendherberge und doch entscheide ich mich bei dem weiterhin kühlen Wetter für den unter hohen Fichten liegenden Campingplatz. Die Nacht wird wieder unangenehm kühl und ich schlafe auch nicht optimal. Zum Abendessen besuche ein Restaurant mit Rösti-Spezialitäten, das auffallend leer ist wie offenbar die meisten Restaurants – obwohl ja eigentlich Hochsaison ist. Wie noch einige Male mehr in der Zentralschweiz, sind die Gerichte nicht so teuer, aber sie lassen auch etwas die Qualität vermissen, die man in einem solchen Service-Touristenland Schweiz erwartet. Man gibt sich wenig Mühe für die Zubereitung. Und dafür ist das Preis-Leistungsverhältnis dann doch eher ungünstig. Die Schweiz ausgerechnet im Tourismus im Abstieg begriffen? Sa, 2.7. Thusis – Bonaduz (655m) – Versam – Ilanz – Disentis – Oberalppass (2040m) – Andermatt (1447m) – Hospental[104 km – 7:20 h – 14,2 km/h – 1757 Hm] Nach kühler Nacht folgen Wolken und kühler Wind auch am Morgen. Ich verspüre kleine Magenkrämpfe, die wohl in der fortwährenden Kühle begründet ist. Nach einem kleinen Frühstück in einem Thusiser Straßencafé rolle ich erst um 9:30 Uhr aus der Stadt. Die Fahrt nach Bonaduz ist mit einem leichten Auf und Ab etwas mühsam zu fahren. Für die nun folgende Vorderrhein-Route gibt es zwei Einstiegsalternativen. Die linksrheinische Variante führt über die 1108 m hohe Flimser Passhöhe und bleibt meines Wissens ohne Blick auf den Rhein und soll eine interessante Hochmoorebene passieren. Ich entscheide mich für die rechtsrheinische Südvariante, die zwar ein paar Steigungen aufweist, aber deutlich unter 1000 m bleibt. Nach einem sanften Anstieg durch Fichtenwald erreiche ich einen ersten Aussichtspunkt, von dem man einen wunderbaren Blick auf die Mäander des Rheins hat, wo der Glacierexpress als einziges Verkehrsmittel entlang des Flusses fahren kann. Helle Felswände, Kiesgeröllhänge, lichte und dunkle Wälder, das milchige Blau des Rheins und auch mal der rote Zug geben eine unvergleichlich schönes Panorama ab. Die Straße windet sich dabei entlang des Hangs fast eben und durch kleine Steinbogentunnels. Später führt die Route vom Rhein weg in ein Nebental, den Versamer Tobel. Eine urige überdachte Holzbrücke setzt einen weiteren Akzent in der Landschaft. Den Tobel kann man weiter hinauffahren, die Straße nach Ilanz macht jedoch eine Kehre, steigt kurz giftig nach Versam an (schönes einfaches Hotel, Restaurant und Café am Ortseingang) und wendet sich dann zwischen grünen Hügeln ohne Blick zum Rhein Richtung Ilanz. Schließlich führt eine mäßige Abfahrt nach unten. Ab Ilanz geht es dann auf die von Flims kommende Straße mit entsprechend mehr Verkehr auf Höhe des Rheins, der hier nur kanalartig durch das lange Rheintal ohne großen Reiz fließt. Die Bergketten bilden zunehmend ein Ensemble aus grün begrasten Hügelkuppen und erinnern an die Pyrenäen. Schließlich kommen erste stärkere Steigungen auf dem Weg nach Disentis. Noch zuvor kann ich den Glacierexpress an einem schön in der Landschaft stehenden als Kurve gebauten Viadukt fotografieren. In Disentis fallen mir schöne Häuser auf, die unter den überstehenden Dächern Malereien aufweisen, die ein Stuckdecke vortäuschen. Nach Süden ist das Tessin über den Lukmanierpass bereits in Reichweite. Ob es dort mehr Sommer frage ich mich schon, weil es nach ein kurzen schwülen Phase am Mittag nun wieder ziemlich kühl unter grauem Himmel wird. Ab Sedrun, wo es auf 1400 m Höhe noch ein Campingplatz gibt, muss ich meine Windjacke anziehen. Die Steigungsprozente nehmen zu und umso mehr bewundere ich die weiter offen liegende Bahnstrecke. Schöne Brücken tragen zu einer reizvollen Bahn- und Flusslandschaft bei. Viele Blumen heitern auch noch im düsteren Licht den oberen offenen Teil des Passes auf. Ab Tschamut kämpfe ich gemeinsam mit der Oberalp-Furka-Bahn, die sogar bergab fahrend so knirschend langsam dahinschleicht, das man ein wenig Mitleid mit der schwer arbeitenden Maschine hat. Ein Radprofi würde diese Passage schneller bergauf fahren als die Bahn! Am Oberalppass ist es winterlich kalt bei heftigem Wind – nicht so stark wie am Splügen, aber ausreichend für Schüttelfrost. Neben dem See verläuft die Bahntrasse fast auf Passhöhe. Die Abfahrt ist mit den weiten Schleifen und geringem Gefälle leicht zu fahren. Trotzdem presst die Kälte auch hinter Brille noch die Tränen aus den Augen. In Andermatt ist es etwas milder als zuvor in Sedrun auf gleicher Höhe, aber ein weitere Fröstelnacht will ich mir nicht zumuten und entscheide mich gegen den Camping in Andermatt, wo allerdings einige hartgesottene Camper (auch mit Rädern) ihre Zelte aufgeschlagen haben. Andermatt wirkt als wichtige Schnittstelle der umliegenden Alpenpässe wie eine überlaufene Touristenhochburg. Es sind nur vier leichte Kilometer über die Hochebene bis Hospental, wo es eine Jugendherberge gibt. Diese ist zwar billiger als der Standard in Deutschland oder der Schweiz, aber auch entsprechend rustikal mit einem übergroßen Massenschlafsaal und kärglicher Dusche. Einige, allerdings wenig gesprächige französische Radler sind auch noch untergebracht. Im ruhigen Ort gibt es einige einfache Gasthöfe, in einem speise ich Bärlauch-Gnocchi mit Poulet-Schinken-Wickel und Geschnetzeltes mit Äpfeln. Eine große Motorradfahrergruppe hat dort Unterkunft in einem Massenlager bezogen. Ich erfahre aus den Gesprächen mit der Wirtin einiges über die regionalen Dialekte und das Romantsch in einigen Teilen der Schweiz Hauptsprache, d.h. Deutsch in der Schule Fremdsprache ist. Und sicher kann man sich nirgendwo sein – wenige Tage zuvor ist in dem Gasthof ein Blitz eingeschlagen und hat Computer und einiges an der Elektrik zerstört. So, 3.7. Hospental (1452m) – Furkapass (2431m) – Gletsch (1757m) – Grimselpass (2165m) – Innertkirchen (625m) – Steingletscher (1865m)[84 km – 7:00 h – 12,0 km/h – 2865 Hm] Die Nacht verlief ziemlich seltsam. Mitten in der tiefsten Schlafphase wache ich mehrfach auf und bemerke unterbewusst, dass auf mich die dicken Wolldecken fliegen. Am Morgen bin ich von zahllosen Decken umgeben. Ob es ein Zufall war oder ich aufgrund von Schnarchgeräuschen zum Opfer wurde, kann ich nicht erfahren. Ich bin der Erste, der die Jugendherberge verlässt (mageres Frühstück) und muss die nunmehr dritte schlechte Nacht in Folge wegstecken. Und das gelingt doch ziemlich gut an diesem Tag. Bei endlich wieder klarem Himmel starte ich auf der Straße parallel zur Oberalp-Furka-Bahn, die erst beim Bahnverlad in Realp in den Berg verschwindet. Danach geht es mit häufigen 11 % Steigung und in etlichen Serpentinen zum Furkapass. Das Panorama ist grandios und mein Rhythmus sehr gut. Ich treffe auf einen etwa 10-köpfigen Radclub aus Österreich (Linz) in der Altersgruppe 40-60. Die meisten haben ein gelbes Trikot, das auch eine Sparkasse als Sponsor ausweist, zwei haben abweichende Trikots, davon eines mit witzigen Comicfiguren in knallbunt. Sie sind mit kleinem Gepäck (Hotelunterkünfte) für eine Woche unterwegs. Ich kann in der hinteren Hälfte mithalten und wir fahren so zwei Pässe gemeinsam. Nach Westen ist der Eindruck vom Furkapass nach gewaltiger. Die Gletscher- und Schneeberge schneiden den Horizont zum tiefblauen Himmel. Wenig unterhalb des Furka steht ein Hotel, Kiosk und Restaurant. Hier tummeln sich die Bergtouristen zum Anblick des Rhonegletschers. Man kann durch einen Eistunnel noch näher an den Gletscher hinter dem Kiosk herangehen, das kostet aber Eintritt und scheint mir nicht wirklich nötig. Von hieraus schaut man auf den folgenden Grimselpass hinüber und nach unten, denn er liegt ca. 250 m niedriger als dieser Punkt. Die Gruppendynamik der Österreicher zeigt mir einmal mehr, dass ich nicht unbedingt ein Herdentier bin. Der Leiter drückt auf seine Sammelhupe und alles muss nun zur Weiterfahrt antreten. Wenig später fahre ich auch hinterher, bin aber bergab dann doch schneller als die meisten aus dem Club. In Gletsch wieder ein guter Rastpunkt) kann man die Rhone weiter ins Tal runterfahren oder eben die große Schweizer Pässe-Acht weiterfahren. Dazu geht es gleich wieder bergauf zum Grimselpass, mit nunmehr lediglich 500 Hm lediglich die Hälfte vom Anstieg zum Furka von Hospental aus aufweist. Entsprechend leicht fällt mir auch dieser Pass noch zu fahren. Eine Kurve über Gletsch kann ich einen Blick auf die historische Furka-Dampfbahn werfen, die heute wieder von einer Gesellschaft für touristische Zwecke wie an diesem Sonntag betrieben wird. Auf der Passhöhe trinken die Linzer ein Runde Bier, das ist für meinen kohlesäureempfindlichen Magen nicht möglich, der Apfelsaft wird aber auch akzeptiert. Stattdessen stärke ich mich noch mit einer Kartoffelpfanne, denn ich möchte noch einen dritten Pass, den Sustenpass, schaffen. Der Radclub hingegen fährt nur noch nach unten und möchte die Etappe bereits in Meiringen beenden. Ich starte ein wenig später, genieße die Fahrt entlang des Grimselsees, der noch von Schneeresten umgeben ist. Am anderen Ende gibt es erneut Restaurationsbetriebe. Auf der Abfahrt passiere ich noch weitere Staustufen, immer wieder ändern sich hier die Landschaftseindrücke. Schöne moosweiche Wiesen mit Zugang zum Oberlauf der Aare lassen mich öfters anhalten, um vielleicht doch eine Badepause einzulegen, obwohl das Zeitfenster das eigentlich nicht erlaubt. Bei Guttannen genehmige ich mir schließlich eine solche Pause. Nach einer Stunde bin ich jedoch weniger gut aufgelegt als zuvor. Und nach der weiteren Abfahrt samt einiger Flachpassagen beginnt der Tag im tief unten liegenden Innertkirchen eigentlich wieder neu. Die anstehenden 1400 Hm sind nochmal annähernd soviel wie die gesamte Vorleistung. Es ist eigentlich bereits ziemlich spät. Sofort zehrt die heftige Steigung schon im unteren Teil an den Kraftreserven. Das Gadmental ist ziemlich eng, hat aber viele anmutige, ja liebliche Grüntöne – Mischwald, Wasserfälle und urtümlicher Kiefernwald geben der Landschaft ein wieder ganz anderes Gepräge als zuvor. An den Hängen finden sich Walderdbeeren und insbesondere Heidelbeeren. Im schweren Kampf mit dem Berg erhoffe ich mir einen Energieschub von den fruktosereichen Früchten – der kommt aber nicht. Also geht der Kampf weiter und in Gadmen ist eigentlich absehbar, dass ich den Sustenpass samt Abfahrt nicht mehr schaffen kann. Gadmen präsentiert sich als einladender Bergort für eine Übernachtung, im Ortsteil Obermaad gibt es sogar noch einen Campingplatz. Ich frage in einem – für Schweizer Verhältnisse ungewöhnlich – an einem Sonntag geöffneten Laden nach, wo es noch Übernachtungsmöglichkeiten gibt. Zehn, elf Kilometer weiter in Steingletscher, noch unterhalb der Passhöhe – das wäre machbar. Ich schöpfe neuen Mut und komme in einigen Passagen sogar in einen guten Rhythmus, doch breche ich immer wieder ein. Es kommen sehr viele Verschnaufpausen zusammen. Die wechselnden Berglandschaften bauen mich aber immer wieder auf. So erreiche ich dann zwar nicht den Sustenpass (wo es auch ein Hotel gäbe), aber immerhin das Hotel direkt mit Blick auf den gegenüberliegenden Steingletscher – Gletscher und spielende Bergziegen – Stille und Bergluft – ein wunderbarer Platz für die Nachtruhe. Das Zimmer ist eng und nicht gerade luxuriös, aber eben von unbezahlbarer Atmosphäre. Mit ca. 65 SFr (42 €) und einem preisgünstigen Essen ist das Ganze auch noch erschwinglich. Trotz meines verfehlten Etappenziels und der geringen Kilometerzahl – es ist eine Rekordetappe auf meiner Tour, nämlich die mit den meisten Höhenmetern. Mo, 4.7. Steingletscher – Sustenpass (2224m) – Wassen (916m) – Hospental – St.-Gotthard-Pass (2109m) – Airolo (1175m) – All Aqua (1614m) – Ronco[77 km – 6:38 h – 11,7 km/h – 2000 Hm] Endlich mal wieder eine erholsame Nacht. Nach dem Frühstück spreche ich noch mit einem Bergführer. Er wird einer kleinen Gruppe das Klettern mit Biwak-Übernachtung in der höheren Bergwelt lehren. Ich starte positiven Mutes in den Tag – bei wieder schönem Wetter. Etwas Wind und erste Wolken deuten aber schon auf eine Wetterstörung hin. Gleich in den ersten Kehren fahre ich durch ein Wunder an Natur. Ein Teppich von Alpenrosen überzieht die Berghänge, dazwischen quellen Bergbäche und Schmelzwasser. Ein zweistrahliger Wasserfall strömt so eigenartig über einen Felsen, dass ich von unten gesehen glaube, dass das Wasser hinter dem Fels nach oben läuft oder gar direkt aus dem Stein sprudelt. Ein anderer dünner Strahl fließt über eine kleine Bogengalerie und entwickelt in der Morgensonne besondere Lichtspiele. Und gegenüber beeindruckt das Jahrtausende alte Eis des Steingletschers. Schnell ist der Sustenpass erklommen. Auf der Passhöhe verbindet ein kurzer Tunnel weitgehend ohne Gefälle das Gadmental mit dem Meiental. Für das Restaurant und das Hotel mit Massenlager muss man noch einige Treppen hochsteigen. Es ist genügend kalt, dass ich nicht länger verweilen möchte. Aus dem Tunnel heraus, offenbart sich eine gänzlich andere Landschaft. Die Berge sind rau, zackig und schroff, öde Erdtöne malen die Kulisse, Schneegipfel sind nicht zu sehen. Diese Landschaft steht für den Charakter der Schweizer Urkantone, von denen der Kanton Uri hier mit einer Steinbogengalerie und einem darauf gemalten übergroßen Wappen angekündigt wird. Nach einigen Kehren folgt eine relativ geradlinige Abfahrt durch ein grünes, sanft anmutendes Wiesental mit weniger Wald als im Gadmental. Diese kurze liebliche Landschaftsintermezzo wechselt wieder mit den Steilkehren durch Nadelwald kurz vor Wassen. Ich blicke hinunter, zunächst auf eine Eisenbahnbrücke, dann auf die Galerien der Gotthardstrecke, die Reuss und schließlich die gesamte Verkehrswüste der Gotthardstrecke mit Autobahn, Bundesstraße, Nebenstraßen und Bahnlinie. Die Bergwelt ist wieder rau und schroff, scharfkantige Steinklötze stehen für den Charakter der Gotthardstrecke bis zum Hochtal bei Andermatt. Ich bin froh, es am Vortag nicht bis Wassen geschafft zu haben, denn der Ort wirkt wenig einladend, der Verkehr macht das Tal laut – bei Tag und Nacht. Da ich mir die Höhenunterschiede dieses Streckenabschnitts nicht genauer angeschaut habe, werde ich von der Steilheit überrascht. Der erste Teil bis Göschenen ist bereits schwer, wo ich noch einen Aprikosenkuchen in der Sonne genieße. Göschenen ist ein recht hübscher Ort, der mit dem Göschener Tal und dem Dammagltscher im Hintergrund auch über ein ansehnliches Panorama verfügt, was für den Rest der Strecke nicht gilt. Nach Göschenen muss ich dann sehr schwer kurbeln, während ein heftiger Verkehr – auch LKW und Busse – sich gleichfalls den Berg hochwälzt. Die Gotthard-Matterhorn-Bahn verläuft meist parallel zur Straße, taucht aber immer wieder im Tunnel ab. Lange halboffene Galerien binden einen Teil der Abgase zu meinem Leidwesen in meiner Atemluft. Kaum ein Pass verdeutlicht die Strapazen von Alpenüberquerungen in früheren Zeiten besser als der Talabschnitt von Göschenen zur Teufelsbrücke. Von der Teufelsbrücke ist es nicht mehr bis zur Ebene bei Andermatt, das ich diesmal in der Mittagszeit erreiche. Ich stärke mich mit einem Sandwich und Eistee, was mir aber dann schwer im Magen liegt. Der starke Gegenwind Richtung Hospental fordert zusätzliche Reserven. Direkt in Hospental steigt dann die Gotthardstraße steil an. Mein Zwerchfell drückt unangenehm gegen meine Luftzufuhr, so kann ich nicht optimal fahren, ein schlechter Rhythmus ist die Folge. Die zunächst schwüle Luft weicht zunehmend einer kühlen unter dichten Wolken. Dieser Teil der Gotthardstrecke ist ziemlich langweilig. Die Straße streckt sich fast gerade, die Vegetation ist spärlich und schöne Bergpanoramen sind auch nicht zu sehen. Als Ausgleich ist die Strecke allerdings nicht sehr schwierig und weniger steil als der Teil unterhalb von Andermatt. Nur wenige Radler sind unterwegs und der Autoverkehr ist gering. Obwohl ich mit meiner Leistung nicht zufrieden bin, nähere ich mich zunehmend zwei Radlern, die kurz nach dem Abzweig zur alten Gotthardstraße (Kopfsteinpflaster) einhole. Es ist ein Paar aus Luzern. Sie haben zwar kein Gepäck, sind aber Neulinge im Fahren von Bergpässen – umso stolzer sind sie, schon so weit gekommen zu sein. Ich fahre den beiden voraus, muss aber jetzt bereits eine Jacke überziehen, weil es eisig kalt geworden ist. Der heftige Gegenwind lässt die Fühltemperatur noch mal geringer erscheinen. Nicht mehr weit vom Pass, hat sich eine Nieselwolke ausgebreitet und erlaubt keine Ausblicke mehr auf die Umgebung. Am Gotthardpass friere ich bereits. Eine historische gelb-schwarze Postkutsche ist im Einsatz für eine Hochzeit – der Wind bläst die Romantik davon. Im Selbstbedienungsrestaurant (schlechte Essensqualität) wärme ich mich auf. Es dauert nicht lange und das Schweizer Radlerpaar ist auch schon da. Sie simsen ihren Erfolg gleich an etliche Freunde. Sie sind weder große Radler noch haben sie überhaupt jemals einen ernsthaften Berg bezwungen – und jetzt gleich den Gotthard. Das ist mutig. Draußen schlägt die Wetterfront mit aller Kraft zu. Der leichte Niesel ist in mittelstarken Regen übergegangen, Sichtweite unter 50 m. Max. 8° Celsius. Die Schweizer fahren schließlich mit dem Postbus nach Airolo (er nimmt begrenzt Räder mit), von dort wollen sie mit der Bahn nach Luzern zurück. Meine Prämisse bei solchen Wetterverhältnissen nicht auf das Rad zu steigen, lasse ich fallen. Ich packe mich in mehrere Trikotlagen, dicke Regenjacke, langes Beinkleid und starte bei vermeintlich schwächer werdendem Regen. Einige hundert Meter später ist von abnehmender Regendichte nichts mehr zu merken. Ich fahre durch eine Wasserwand. Nach einigen Kehren bei ständigem Sicherheitsbremsen – die Finger sind fast unbeweglich – halte ich in einer halboffenen Galerie. Ich entleere meine Schuhe – sie haben sich in Wasserbecher verwandelt. Nach der provisorischen Trocknung schwimme ich weiter nach unten. Bei einem Abzweig steht ein Schild „Kraftfahrtstraße“, also Radler verboten. Ich nehme die Alternativstrecke, die aber leider wenig später zur Kopfsteinpflasterstrecke wird (ich empfehle das kleine „verbotene“ Stück einfach durchzufahren). Nochmal langsamer fahren. Immerhin, der Regen hat fast aufgehört. Nach oben steht die Wolke undurchlässig um die Berge. Airolo ist zu sehen. Ich spiele mit dem Gedanken, die Etappe abzubrechen. Dann fahre ich doch weiter, nehme den Weg zum Nufenenpass in Angriff (Ortsdurchfahrt Airolo nicht nötig). Das nur sanft ansteigende, sehr ruhige Val Bedretto beginnt mit Wiesen, die Topografie erinnert an das Meiental, die Bergkulisse bleibt unsichtbar. Die Luft ist ein wenig schwül, wenngleich nicht wirklich warm. An einem Stein nehme ich eine zweite Trockenaktion vor. Mit neuen Socken und Handschuhen kann ich wieder ohne Schüttelfrost fahren – zumindest solange es nicht richtig kalt wird. Ich kalkuliere mein neues Etappenziel. Der Nufenenpass hält keine Unterkunftsmöglichkeit bereit. Ich müsste also auch noch bis Ulrichen abfahren. Das ist schon wegen der feuchten Kleidung nicht ratsam. Zeitlich kann ich es auch nicht mehr schaffen. In All Aqua gibt es laut Karte ein Hotel. Das ist die letzte Übernachtungsmöglichkeit vor dem Pass. Die Kilometer und Höhenmeter sind machbar. Also Weiterfahren durch das dampfende Tal. Weiter oben wird das Tal enger und waldreicher, ähnelt jetzt mehr dem unteren Gadmental. Ich fahre an Ronco vorbei – ein kleiner Ort mit Hotel und muss Richtung All Aqua eine erstes kleines steileres Stück überwinden. All Aqua besteht nur aus dem Hotel und einer Seilbahnstation. An der Seilbahn werden offenbar zurzeit Wartungsarbeiten durchgeführt. Deswegen stehen auffällig viele Autos hier. Und das ist auch der Grund, dass das Hotel ausgebucht ist. Die Arbeiter nehmen fast die gesamte Bettenkapazität in Beschlag. Im Fernsehen läuft die Tour de France und für einen diesen Tags wahrhaft geschundenen Fahrradhelden gibt es nicht das kleinste Zimmer mehr. Also wieder die 3-4 km zurück nach Ronco. Dort bekomme ich ein Zimmer für 75 SFr (50 €), nicht gerade preiswert für ein sehr kleines Zimmer in einem abgelegenen Bergort – aber ich bin eben froh, nach einem solchen Tag überhaupt so etwas wie ein Nest zu finden. Das Essen ist von nur mäßiger Qualität. Es wird italienisch gesprochen, aber eben nicht italienisch gekocht. Di, 5.7. Ronco – Nufenenpass (2478m) – Ulrichen – Brig – Visp (651) – Zermatt (1616m)[115 km – 8:21 h – 13,7 km/h – 1929 Hm] Als ich gegen 8:20 Uhr starte, hängen die Wolken auf den Berggipfeln, die Luft ist feucht-kalt und trägt entsprechend wenig Sauerstoff. Der Sommer mal wieder in weiter Ferne. Noch einmal fahre ich nun das Stück bis All Aqua. Dort grüße ich ein Schweizer Paar, die gerade ihre Mountainbikes satteln. Sie gehören zu den glücklichen Touristen, die im Hotel tags zuvor noch ein Zimmer ergattern konnten. Wenig später sind die Schweizer an mich herangefahren – Benny und Ilse sind aus St. Gallen, die schon häufiger in der Gegend des Nufenen gewandert und geradelt sind. Ich erzähle ihnen von einem Managementprofessor aus St. Gallen, der einst wesentlich den von mir belegten Studiengang Verwaltungswissenschaft an der Uni Konstanz geprägt hatte. Den kennen sie natürlich nicht. Sie fahren mir ein wenig davon, doch bleibe ich in Sichtweite und kann bald wieder aufschließen. Zuvor entdecke ich noch ein Murmeltier – direkt neben der Straße hält es in aufrechter Position still und schaut mich wohl mit gemischten Gefühlen an. Ist es auch der Kälte wegen noch lahm und stellt sich lieber still als zu flüchten? – Nun, Murmeltiere sind nicht nur vorsichtige, sondern auch neugierige Tiere. Jedenfalls gelingt mir ein Foto von dem Nager – leider ist das Licht sehr ungünstig, um einen Kontrast zwischen Tier und Hintergrund zu erhalten. Offene Bergwiesen bestimmen mittlerweile die Szenerie, einzelne Bauernhäuser liegen an der Straße und der Pass ist schon weithin zu erahnen. Die Kälte wird immer mehr durch einen kräftigen Wind in alle Hautporen hineingetrieben, ich fühle mich wie an einer Eiskanüle angeschlossen. Trotz der unangenehmen Witterung finde ich einen guten Rhythmus, habe mittlerweile Benny und Ilse ein wenig hinter mir gelassen bis wir schließlich den Nufenenpass auch wegen der gegenseitigen Fotos gleichzeitig erreichen. Der Wind auf der Passhöhe ist in Böen stürmisch, für eine Abfahrt sogar gefährlich. Schneegriesel treibt durch die Luft, es ist ca. 4°C! Die SB-Gaststätte bietet Gelegenheit zum Aufwärmen, eine warme Schokolade tut jetzt richtig gut. Benny muss gleich wieder losradeln, denn Ilse traut sich den Berg nicht mehr runter – zu kalt, zu windig (sie wollten beide wieder zurück nach All Aqua). Weil ich mich mit Ilse noch unterhalte bis Benny sie mit dem Auto abholt, ist es für die Abfahrt bereits 12 Uhr – der Zeitvorteil der schnellen Auffahrt ist damit hin. Dick eingepackt stürze ich mich die faszinierenden Serpentinen nach Ulrichen runter. Die Abfahrt ist höchst gefährlich – auf einer Postkarte schreibe ich, die gefährlichste meines Radlerdaseins – und das ist nicht übertrieben. Die stürmischen Windböen kommen durch die Richtungswechsel in den Kehren immerzu von einer anderen Seite. Die eisige Kälte tut ein Übriges, dass die Finger nicht gut greifen und die Schulter verhärtet. Soweit ich nicht mehr ganz steil herunterfahre, werde ich im Gegenwind deutlich heruntergebremst. Noch vor Ulrichen kann ich die dickere Jacke mit der dünnen Windjacke tauschen, der Sommer ist aber auch hier noch weit weg. Das obere Goms ist ein breites Wiesental, das von vielen Dörfern in der charakteristischen mit dunklen Holzblanken gebauten Häusern geprägt wird. Nach unten hin wird das Tal schmäler bis es am Rhonedurchbruch bei Brig in eine breite Flussebene übergeht, von dort an Rhonetal genannt. Das Goms ist teilweise flach und hügelig, sonst führen nur kleine Schübe stärker nach unten. Entsprechend schwer muss ich gegen den Wind kämpfen, der nicht abflauen will, zweimal werde ich fast umgerissen. Immerhin wird es kurz vor Brig endlich etwas wärmer, in Brig ist es sogar schwül-warm, wenngleich der Wind auch dort manche Tischdecke noch wegfegt. Meine ursprüngliche Idee, vom Gomstal eine Exkursion via Seilbahn zum Aletschgletscher zu machen und eventuell sogar auf der Höhe von Bettmer- oder Riederalp zu übernachten, streiche ich aus meinem Programm. Ich habe seit dem Bernina und in der großen Schweizer Pässe-Acht eineinhalb Tage gegenüber der Planung verloren. Ich entscheide mich für einen nicht geplanten Ruhetag in Zermatt, fahre aber hier durch und heute noch bis Zermatt. Zudem spekuliere ich auch darauf, die Runde von Martigny zum Genfer See über Thonons-les-Bains und über den Col de la Forclaz zurück nach Martigny ausfallen zu lassen. Dann hätte ich sogar wieder einen halben Tag Vorsprung – wenn ich sonst durchhalte und das Wetter auch noch mitspielt. Eigentlich ist nur noch das Wetter ein Fragezeichen, denn ich habe mittlerweile genug Zutrauen gesammelt, dass ich diese Tour bewältigen kann. Mehr als die Hälfte der 2000er habe ich bereits hinter mir gelassen und ich spüre eine günstige Konstitution, auch wenn ich hin und wieder gegen kleine Ermüdungserscheinungen ankämpfen muss. So bin ich auch etwas abgekämpft, um nicht zu sagen entnervt vom vielen Wind, als ich mich in Brig in einen Bistrosessel zurücklehne und köstliche Rösti genieße. Brig ist zwar ein Verkehrs- und Wirtschaftszentrum, aber mit seinen Türmchen und schmucken Häuserfassaden ist es auch eine atmosphärisch sympathische Stadt. Noch bis Visp muss ich mit dem extremen Gegenwind kämpfen, dann endlich entspannt sich die Lage. Ich beginne die Fahrt ins Vispertal, wo sich noch nichts vom autofreien Zermatt erahnen lässt. Es herrscht extremer Verkehr – Lieferwagen wie Touristen und Einheimische. Der erste flache Abschnitt ist noch landschaftlich wenig reizvoll. Die Sicht ist beidseitig von bewaldeten Bergen begrenzt und auch in Fahrtrichtung verwehrt ein Berg weitere Ausblicke. Dann zweigt das Tal nach Saas Fee ab und leitet ein bisschen den Verkehr ab, während ich dem weiteren Verlauf entlang der Matter (die auch Vispa heißt) folge. Direkt bei der Gabelung der beiden Täler gibt es eine steile Rampe, die die Straße oberhalb der Kinschlucht führt, von der man auf der Straße fahrend nur wenig sieht. Auf der anderen Flussseite verläuft am Hang die Bahntrasse, auf der der Glacierexpress seinem Endpunkt Zermatt zustrebt. Das Tal streckt sich von Visp bis Zermatt auf ca. 30 km. Daher sind die rund 1000 Höhenmeter nicht so anstrengend. Immer wieder folgen auf steilere Passagen ebene Stücke und ich kann mich wieder erholen bzw. auch schon mal recht temporeich fahren. Der Autoverkehr bleibt aber dicht. Trotzdem habe ich genügend Zeit die Fahrt zu genießen. Es ist ein sehr lohnenswerter Abstecher. Immer wieder tauchen weiße Gipfelspitzen auf, geben ein herrliches Panorama. Zahllose Wasserfälle treten aus den Bergen, später sorgen die sprudelnden Kaskaden für ein Lichtspiel aus dem weißen Schaum und dem leuchtenden Grün der Bäume. Viel Lärchenwald säumt insbesondere nach Täsch die schmale Straße, die nunmehr nur noch von Autos mit Sondergenehmigung benutzt werden darf. In Täsch hat sich richtiger Parkhaus-Tourismus entwickelt. Parkhäuser wachsen wie eine Boomtown aus dem Boden. Ein gutes Geschäft. Caravan-Camper schlagen hier ihr Basisquartier auf. Einige übernachten hier gleich, andere steigen auf die Bahn um, wieder andere nehmen Elektrobustransporte in Anspruch. Trotz des Privilegs von Täsch nach Zermatt mit dem eigenen Velo fahren zu können, seien andere Radler gewarnt. Die manchmal gar nicht so wenigen Autos mit Ausnahmegenehmigung brettern recht heftig auf der Straße. Diese ist aber schmal und nur schwer einzusehen. Die meisten Raser sitzen in Schnickschnack-Sportwagen – Geld haben sie wohl, mehr scheinen sie nicht zu besitzen – eine Schande für diese grandiose Kulisse der Natur. Nachdem ich schon in der Mitte des Tales einmal wähnte, das Matterhorn zu sehen (es war ein anderer Berg, von dem der Wind eine Schneefahne wegwehte), kann ich nun endlich diesen schweizerischsten aller Schweizer Berge erkennen. Erst wenn die ersten Häuser von Zermatt ins Auge fallen, kommt auch der Berg zum Vorschein. Die Abendsonne leuchtet ihn in aller Pracht an. Keine Wolke trübt den Blick. Auch ich bin als erfahrener Alpenradler beeindruckt. Der Berg ist einfach grandios! Selbst der noch höhere Monte Rosa weiter östlich kann nicht dieses Charisma verströmen. Leider versäume ich, den Berg jetzt zu fotografieren. Ich glaube, dass das Licht schon etwas schwach ist und hoffe, am nächsten Tag auch noch mal ein solches Panorama zu erhalten. Das war zu optimistisch… Am Ortsanfang müssen auch die letzten Autos ins Parkhaus. Danach fahren nur noch Elektrobusse – oder eben Fahrräder. Viele Mountainbikes sind zu sehen. Die dienen Einheimischen oder Touristen hier der Fortbewegung und dem Mountainbiking. Solche, die mit dem Rad hier hochfahren, gibt es nur wenige (es ist ja eine Sackgasse und keine durchgehende Passstraße). Der Blick vom Matterhorn wieder abgewendet nach vorne in die Straßen gerichtet verblüfft mich dann. Zwar sehe ich typische Schweizer Holzhausarchitektur wie sie in den Bergen üblich ist, doch sehe ich nur Japaner, japanische Schriftzeichen, japanische Speisekarten. – Bin ich aus versehen falsch abgebogen und im Land der aufgehenden Sonne? Ist der Berg im Rücken des Dorfes nicht das Matterhorn sondern der Fujiyama? – Ja, die Japaner lieben die Alpen und am Berg der Berge fühlen sie sich besonders wohl. Die Schweizer haben sich auf die asiatischen Gäste eingestellt und entsprechend häufig sieht man auch japanische Schrift. Die Unterkunftsmöglichkeiten in Zermatt sind so vielfältig, dass man leicht die Übersicht verliert. Man sollte sich vorher oder über die Touristinformation auf einige wenige Adressen konzentrieren. Ein zufälliges Nachfragen kann schnell zur Tortur werden, denn die meisten Hotels sind für einen Deutschen wie mich zu teuer. Es soll auch einen ortsnahen Camping geben – daran kann ich aber bei diesen arktischen Nächten keinen Gefallen finden. Zum Glück weiß ich von der Jugendherberge, die ich schließlich auch mithilfe meines Reiseführers finde (südlich außer- und oberhalb des Zentrums Richtung Blatten). Auf dem Weg dorthin entdecke ich das Kleinod eines Murmeltierbrunnens. Die Jugendherberge umfasst mehrere Gebäude und ist sehr gut eingerichtet. Es ist gibt jedoch eine Zwang zur Halbpension (52 €), allenfalls kann man alternativ ein Lunchpaket bekommen. Dass es in einem Ort, in dem es vor Restaurants aller Couleur geradezu wimmelt, solche Zwangsverpflichtungen auferlegt werden, stößt bei mir auf Unverständnis. Weil ich für das Abendessen zu spät bin, werde ich zwar für die erste Nacht entschädigt, kann aber für die zweite Nacht keine Entschädigung erwirken. Zum Essen gehe ich an diesem Abend in gemütliches Lokal, wo ich Trockenfleisch, Raclette und Schweinesteak mit Käse überbacken als typische Walliser Gerichte verspeise. Auffällig auch hier die vielen japanischen Touristen, die ihr Fondue-Essen gleich mit blitzender Fotokamera für die Daheimgebliebenen im Bild festhalten. Mi, 6.7. Zermatt (Ruhetag)[0 km] In der Jugendherberge lerne ich zunächst einen Holländer kennen, der bereits seit über zehn Jahren immer wieder nach Zermatt kommt. Er macht ausgedehnte Bergwanderungen, klettert jedoch nicht. Ihn faszinieren die immer wieder wechselnden Wolkenbilder, die man in den Bergen beobachten kann – und die sich verändernden Landschaftsbilder im Wechsel der Lichtverhältnisse. So ist er weniger von der schlechten Witterung dieses Tages betrübt als ich. Zunächst verdecken aufziehende Wolken das Matterhorn und es ist wenig sommerlich kühl bei ca. 14° C. Der Ort Zermatt ist eine kollektive Shopping- und Fressmeile – eben reiner Tourismus. Die zahlungskräftige Kundschaft aus Japan, Amerika und den Eidgenossen bereitet den Modeboutiquen und Juwelierläden ein einträgliches Leben. Besonders häufig sind Shops für Sportmode und Trekkingausrüstungen. Vorteilhaft ist die große Auswahl an Fastfood, die Qualität der Sandwiches ist bemerkenswert gut. Ich entlaste meinen Ballast um marginale 1,5 kg, indem ich in einem Paket ein paar Mitbringsel und ein paar überflüssige Klamotten nach Deutschland schicke – es kostet stolze 23 SFr (15 €, was allerdings für Pakete aus Frankreich oder von Deutschland ins Ausland gleichermaßen teuer ist – die Preise für Paketdienste stehen in Europa in keinem Verhältnis zu den der Transportleistung, die 2-Kilogrenze ist geradezu lächerlich). Nochmal zurück in der Jugendherberge lerne ich auch noch einen Deutschen kennen, der eine ziemlich exklusive Kletterfortbildung bei einem Bergsteiger gebucht hat. Er möchte dem Gipfel des Schweizer Nationalberges mit Pickel und Steigeisen näher kommen. Ich selbst entscheide mich trotz der zunehmend schlechten Witterung, doch noch mit der Gornergratbahn auf 3000m hoch zu fahren. Die einfache Fahrt zum Gornergrat mit dieser höchst gelegenen Zahnradbahn in Europas kostet immerhin 36 SFr (24 €). Die Ansagen in der Bahn gibt es in Deutsch, Englisch und – Japanisch. Tatsächlich ist die Hälfte der mitfahrenden Touristen Japaner. Auch das Klischee vom Ostasiaten, der für die Bergwanderung unzureichend gekleidet ist, wird gleich bestätigt. Die Bahn steigt zunächst durch einen archaichen Lärchen- Kiefern und Zedernwald. Hin und wieder fallen schöne Blicke auf Gletscherflächen. Am Gornergrat herrscht dann eine mondlandschaftliche Bergwelt vor. Mit Seilbahnen kann man noch weiter hinauffahren. Doch bereits hier herrscht bereits solches Winterwetter, das ein Verweilen wenig Sinn macht. Der Blick in den Gornergratgletscher ist bald durch Wolken und Schneegestöber getrübt. Der Monte Rosa ist nicht mal zu erahnen. Ein Aufwärmen im Stationskiosk und dann beginne ich den Berg hinunterzuwandern. Meine Radschuhe sind zwar nicht ideal, der Kombischuh ermöglicht aber mit der Profilsohle durchaus Wanderungen in nicht zu schwierigem Berggelände. Die Pfade sind gut sichtbar, eine spezielle Bergwanderausrüstung ist nicht nötig. Aber das Wetter setzt mir immer mehr zu. Je tiefer ich komme desto dichter wird die Wolke. Bald marschiere ich durch massive Regenwolken. In Riffelsberg kehre ich für Apfelstrudel und Milchkaffee ein (dass das recht teure, im Ambiente ein wenig steif wirkende Restaurant/Café/Hotel nicht mal einen Capuccino anbieten kann, sollte nicht unerwähnt bleiben). Vorübergehend ist es wieder etwas trockener, doch bald regnet es wieder unerbittlich in der Wolke. Wenngleich ich keine Panoramablicke erhaschen kann, so stimmt die alpine Flora doch milde. Besonders schön ist der Waldsteig im untersten Teil ab Riffelalp, wo die Zedern und Lärchen das Bild eines eiszeitlichen Urwaldes abgeben. Völlig durchnässt erreiche ich Blatten und die Jugendherberge. Durch das ständige Runterlaufen – für mich als Radler eine ungewohnte Bewegung – spüre die Belastung für meine Muskulatur, eine leichte Bänderdehnung am Knie ist die Konsequenz. Kurioserweise erhole ich mich vom Ruhetag wieder auf dem Rad am nächsten Tag. Da ich nun mal gezwungen bin, die Halbpension zu bezahlen, will ich das Abendessen in der Jugendherberge auch nicht verschenken. Es gibt zähe Hähnchenschenkel (der gefürchtete Gummiadler) mit Tütenpüree, eine fade Suppe dazu. Es schmeckt grässlich. Nun, der Magen ist gefüllt und beim Spaziergang durch das kalte Zermatt am Abend schaue ich mir zwar noch einige Gormet-Speisekarten an, bleibe aber asketisch. Und welcher Trug, wenn die Restaurants mit „Unsere Sommerhits“ locken – Sommer? – Den gibt’s hier nicht, nicht in der Schweiz – und das weiß ich bald – auch nicht drum herum.
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Liebe Grüße! Ciao! Salut! Saludos! Greetings! Matthias Pedalgeist - Panorama für Radreisen, Landeskunde, Wegepoesie, offene Ohren & Begegnungen | |
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#480406 - 11/16/08 11:07 PM
Re: Große Alpentour der 2000er
[Re: veloträumer]
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Teil 3: Die WestalpenDo, 7.7. Zermatt – Visp – Sierre – Sion – Martigny (465m) – Sembrancher – Bourg St. Pierre (1632m)[147 km – 9:12 h – 16,0 km/h – 1248 Hm] Nach dem Frühstück mit dem Holländer, der Zermatt heute Morgen auch verlässt – mit dem Zug Richtung Grindelwald – starte ich um 8:20 Uhr bei kalter Witterung (lange Hose unverzichtbar), der Himmel ist bewölkt. Was die lang gestreckte Hinfahrt einfach machte, bedeutet für die Abfahrt vergleichsweise weniger berauschende Momente. Einige Flachpassagen und Gegenhügel ziehen die Talfahrt in die Länge. Zurück im Rhonetal geht die Fahrt zunächst flott voran. Es ist zwar etwas milder, bleibt aber für die Jahreszeit deutlich zu kühl – und die Sonne bleibt wie fast den ganzen Tag versteckt. Teils benutze ich einen Radweg, der aber unabsehbar irgendwo im Ödland endet und in zahlreichen Zacken die Durchschnittsgeschwindigkeit deutlich drückt. An der Straße werden immer wieder frische Aprikosen zum Verkauf angeboten. Für die Verkäuferinnen empfinde ich schon Mitleid wegen der kühlen Temperaturen, kann ich mich doch noch etwas warm strampeln. Mit den Aprikosen werden hier überall köstliche Kuchen gebacken, finden aber auch noch sonst in der Küche häufige Verwendung. Fast unscheinbar verläuft die Sprachgrenze zwischen Deutschschweiz und französischsprachiger Westschweiz. Ein Föhrenwald, der Pfynwald, überzieht einen kleinen, kaum spürbaren Hügel. Dann wirkt auf einmal alles Französisch. Doch weniger dürfte diese Grenze eine Wetterscheide sein. Vielmehr setzt mit fortschreitendem Tag im gesamten Schweizer Rhonetal der Wind ein. Und das drückt nun ab Sierre meine Geschwindigkeit von 24-28 km/h auf magere 18 km/h. In Sion stoße ich auf ein ebenso voll bepacktes Reiseradlerpaar aus Frankreich – sie sind um die 60 Jahre alt – und wollen noch über Furka und Gotthard – Bon Courage! Ich fahre nun auf einer Nebenroute und bald auf einem Radweg ausschließlich auf der linken Rhoneseite. Es geht mitunter schnurgerade durch Obstplantagen – Birnen, Äpfel und immer wieder Aprikosen. Doch mit Radleridylle hat die Fahrt nun gar nichts mehr zu tun. Der Wind ist stürmisch, erreicht zuweilen Orkanstärke und ich muss gar ein paar Mal anhalten, um nicht vom Rad zu fliegen. Natürlich habe ich frontalen Gegenwind. Ich bewege mich nur noch mi13-15 km/h, der Tiefenrekord liegt bei 8 km/h. Es ist kaum möglich, eine passende Übersetzung für die Windfahrt zu finden – kaum habe ich hochgeschaltet, muss ich wieder runterschalten. Dass ein Rennradler an mir vorbeifliegt, frustriert mich noch mehr – spürt der denn gar nichts vom Wind? – Na ja, wie bereits bekannt bildet meine Rad auch eine große Windfront, die nun wie ein frontal aufgestelltes Brett gegen den Wind wirkt. Mit viel Mühe erreiche ich Martigny, das trotz der bescheidenen Meereshöhe von 465 m fast in einer Wolkenhülle versinkt. Richtung Genfer See ist die Wetterlage ebenso schlecht, dass mir die bereits zwei Tage zuvor geplante Routenänderung leicht fällt. Nach einer Stärkung in einem Migros-Restaurant schlage ich den Weg zum Grand St. Bernard ein. Fast wie ein Wunder ist das Tal windfrei und sogar die Wolken lockern etwas auf. Das weit geschnittene, grüne Tal mit viel Mischwald steigt nur langsam an und ich bin nun bergauf schneller unterwegs als zuvor im Flachen gegen den Wind. Manche Passagen sind mit drei Spuren autobahnähnlich ausgebaut. Das lockt manche Raser und große LKWs an. Trotzdem überwiegt das angenehme Fahrgefühl. Weiter oben bei Orsières treten mehr Wiesen hervor, es steigt stetig mit 6-8% an. Ich fahre einen guten Rhythmus, empfinde den Anstieg nicht sehr schwer. Auch die Blessuren durch die Wanderung des Vortages an den Kniebändern und in den Wadenmuskeln sind wie weggewischt. Welche Strecke hätte ich ohne diesen Wind heute bewältigen können? – Nochmal verändern sich die Wiesenhänge mit wie eingesteckten Bäumen, das Bergpanorama bleibt aber in den Wolken. Der Atemhauch bildet sich deutlich in der Luft ab, es ist jetzt sehr kalt, aber weiterhin windstill. Camping ist kein Thema, als ich auf gut 1600m den letzten Ort vor der Passhöhe erreiche, ideal für eine ruhige Nacht. Der Ort liegt etwas unterhalb der Straße, ein Motel ist aber gleich an der Straße. Den Blickfang liefert der Kiosk gegenüber mit zwei überlebensgroßen Bernhardinern, jeweils unter einem Sonnenschirm. Logisch, dass im Umkreis der hier berühmt gewordenen vierbeinigen Lebensretter die Maskottchen in allen erdenklichen Variationen feilgeboten werden. Ein echter Bernhardiner hält sogar Wache am Motel. Das Thermometer am Motel/Hotel/Restaurant zeigt 8°C (!). Ich kann das Fahrrad gleich ebenerdig ins Zimmer schieben, sehr praktisch, und mit 60 Franken (40 €) ein fast untypisch niedriger Preis in der Schweiz (bei allerdings bescheidenem Komfort, es gäbe auch bessere Hotelzimmer im Haupthaus für etwas mehr). Es gibt ordentliches Essen und eigentlich fehlt hier nur der klare Blick auf das wohl attraktive verhüllte Bergpanorama. Fr, 8.7. Bourg St. Pierre – Col du Grand St. Bernard (2469m) – Aosta (583m) – Cogne – Lillaz (1617m)[82 km – 6:35 h – 12,4 km/h – 1905 Hm] Nach dem Frühstück beginne ich die Tagesfahrt um 8:30 Uhr bei winterlichen 7°C. Wolken vernebeln immer noch die Bergspitzen, nur die unteren Berghänge sind wolkenfrei. Die großen Bernhardiner schauen recht freundlich, da will ich mal hoffen, dass auch die Sonne bald lacht, einen Sonnenschirm haben sie ja schon. Die Straße bis zum großen Bernhard-Tunnel verläuft nahezu vollständig in den halboffenen Galerien der Lawinenverbauung. Ohne den bereits am Morgen einsetzenden Schwerlastverkehr wäre selbst dieser Abschnitt ein schöner. Weil ich immer wieder Radlerpaare mit Kinderhänger oder Familien mit Kindern auf Rädern auch in den hohen Bergen sehe: Der Grand St. Bernard ist wegen seines starken Verkehrsaufkommens, insbesondere wegen der LKWs, für Kinder – egal ob auf dem Rad oder im Hänger – nicht geeignet. Da nutzt es wenig, wenn mit dem Abzweig des Tunnels endlich die ruhige Bergwelt dem Radler fast allein gehört. Für erfahrene Straßenfahrer ist aber auch das kein ernstes Problem, verkehrsarme Zeiten seien aber schon empfohlen. Wenn der untere Teil des Passes eher einfacher zu bewältigen ist, beginnt mit dem Abzweig am Tunnel der durchgehend schwierige Teil der Auffahrt. Serpentinen durchziehen die offene Berglandschaft, Raubvögel gleiten am Morgenhimmel, der nun endlich die Sonne hervortreten lässt, Murmeltiere verschaffen sich Gehör. Die Kälte durchdringt aber immer noch Mark und Bein, ein biestiger Wind senkt die Fühltemperatur noch einmal. Eine Besonderheit des Grand St. Bernard sind die im Stil alter Stiche aufgestellten Tafeln, die einheitlich an Pfählen mit blechernen Napoleonhut-Schablonen die Geschichte von Napoleon Bonaparte, der mit einer Armee von 45.000 Soldaten einst die Alpen überquerte. So beschwerlich, wie der Weg damals samt schwerem Kriegsgerät gewesen ist, ist mein Aufstieg fürwahr nicht – nur ein wenig dieser Mühe kann ich nachfühlen. Doch ist diese Reise auf dem Velo ungleich schöner, kann ich doch die Natur vollends genießen und komme als friedlicher Kämpfer der Moderne. Erst kurz vor der Passhöhe nach der letzten Kehre fällt das Hospiz plötzlich ins Auge. Es gibt ein Hotel/Restaurant und ein Restaurant/Bar sowie einige Kioske mehr – alle haben Bernhardiner aus Holz, Stoff und Plastik in verschiedensten Größen und Modellen. Die Mitbringsel für daheim gebliebene Stuttgarter sind Bernie als wedelnder Schlüsselanhänger und Bernie als bellender Schmusehund – wie ich später erfahre, wurde er „Cato“ getauft und avancierte zum Lieblingskosetier von einem Dreijährigen. Der Wind pfeift so kalt um die Ecken, dass ich erst mal mit einer Tasse Capuccino und etwas Kuchen mich aufwärmen muss. Die Suche nach lebendigen Bernhardinern beginne ich erst gar nicht, denn ich sehne mich nach Wärme. Irgendwo glaube ich Hundegebell vernommen zu haben. Noch mehr Souvenir-Bernies gibt es kurz unterhalb der Passhöhe beim See, wo die schweizerisch/italienische Grenze verläuft. Mehrere Trikotschichten und meine dicke Regenjacke sollen mich bei der Abfahrt schützen, aber ich zittere mich trotzdem frierend nach unten. Eigentlich bräuchte ich Winterhandschuhe, eine dickere Winterhose, Winterstirnband und die rundum abschließende Winterbrille. Aber ich kann ja nicht alles auf einer solchen Sommertour mitnehmen. Doch schon bald erwärmt mich das blumenreiche San-Bernardino-Tal, das in Form und Vegetation dem Aostatal verwandt ist. Es leuchtet in Gelb, Weiß, Blau, Rosa und Grün. Bald spüre ich auch die aufkommende Wärme talwärts, wenngleich es nicht hochsommerlich wird. In St. Oyen kann ich endlich die lange Hose abstreifen und mich auf eine doppelte ärmellose Trikotlage umstellen. Es beginnt ein mehrtägiger, „fotoloser“ Abschnitt (mehr dazu im Kapitel zum Iseran). Die Region Aosta ist zweisprachig, doch scheint mir das Französische gegenüber dem Italienischen im Rückzug begriffen zu sein. Aosta wirkt von oben wie eine Großstadt, weil einige wichtige Verkehrsachsen durch und über die Alpen hier zusammenfließen und ein Labyrinth von Umgehungs- und Einfallstraßen erzeugen. In der Stadtmitte erstreckt sich aber eine Fußgängerzone, sodass der Durchgangsverkehr zumindest für einen kleinen Bereich ferngehalten wird. Hinter den Turmbauten und pittoresken Fassaden taucht immer wieder das Alpenpanorama auf, was der Stadt eine besonders eindrucksvolle Silhouette aus Baukunst und Natur verleiht. Die Flaniermeile verkörpert Luxus mit Boutiquen, in denen es verführerische Kleider, ausgefallene Schuhe, hochwertige Lebensmittel und Restaurants mit edler Esskultur gibt. Das gilt auch für kleinere Bistros. In einem von diesen speise ich ein köstliches Panini – es gibt ferner ausgefallene Eisteesorten und Eis-Shake-Spezialitäten. In einer Patisserie erstehe ich Tegolas (chipsförmige Kekse mit feinem Aroma) und weitere Gepäckspezialitäten aus der Aosta-Region. Stadtauswärts suche ich noch einen Bikeshop auf, in dem ich eine Trägerhose und ein Paar Radhandschuhe kaufe. Beides habe ich aktuell nicht nötig, bewährt sich aber auf späteren Touren. Immer wieder schieben sich Wolken über die Sonne, ein paar Tropfen fallen auch, es ist eher schwül-warm. Ich zweige in das Val di Cogne ab, das noch im Weinort Aymavilles, dem Eingangstor zum Tal, steil ansteigt. So führt die Straße zu Anfang lange Zeit über dem Fluss Grand Eyvia. Ein sehr heller Mischwald mit viel Birke verströmt den lieblichen, fast sanften Charakter dieser Alpenregion. Ich habe ähnliche Höhenmeter wie im Mattertal zu bewältigen, aber die Strecke ist eindeutig kürzer, entsprechend ist die Fahrt anstrengender. Der obere Teil ist dabei der leichtere. Viele Baustellen auf der Strecke stören etwas den anmutigen Eindruck des Gran Paradiso, wie der Nationalpark hier heißt. Das paradiesische Bild aus lichten Talwaldlagen und alpinen Gipfeln entfaltet sich besonders im oberen Teil mit den Seitentalöffnungen in Cogne und Lillaz. Cogne ist ein schöner, umtriebiger Ort, geprägt von vielen Touristen, die sich meist wandernd in den leicht erkundbaren Nationalpark Gran Paradiso begeben. Ich fahre noch weiter bis in das kleine, weitaus ruhigere Lillaz, wo es zwei Campingplätze gibt. Hätte ich die reale Wetterentwicklung vorhergesehen, wäre ich wohl nicht in das Tal eingefahren und hätte schon gar nicht mich ins Zelt begeben. Aber an diesem Abend ist es noch heiter – nur ein bisschen kühl für die Alpensüdseite. Nachts ist es dann sogar richtig kalt. Der Camping hat schlechte sanitäre Anlagen. Umso besser ist das Essen in einem Hotel/Restaurant. Selbst hier in der entlegenen Provinz spüre ich im Service eine höhere Professionalität in den Restaurants als in vielen Teilen der Schweiz. Die Qualität des Essens ist ausgezeichnet. Auf den Speiseplan setze ich Polenta mit Käse, ein typisch regionales Gericht, eine gebackene Forelle – frisch aus den Gebirgsbächen und eine köstliche Schokocreme mit Tegolas. Sa, 9.7. Lillaz – Cogne (1534m) – Valnontey (1666m) – Valmiana – Cogne – Lillaz (Ruhetag)[18 km – 1:30 h – 11,7 km/h – 222 Hm] Ursprünglich hatte ich für Lillaz einen halben Tag vorgesehen – Wanderung im Gran Paradiso und zu dem gleich hier vom Camping aus sichtbaren Wasserfall, der für seinen sehr schönen Strahl bekannt ist, mit zum Baden einladenden Ausformungen, mit schmucken Blumen, die herabhängen und leuchten und einer Vielzahl unterschiedlichster Blickwinkel auf die stürzenden Wässer, die so viel Schönheit erzeugen, dass kein Liebespaar auf die fotogene Erinnerung verzichten möchte. Durch die Routenänderung nach meinem Rückstand gegenüber meinem Plan mit dem Ausfall der Runde von Martigny zum Genfer See mit Rückfahrt über Forclaz-Pass habe ich jetzt einen halben Tag Vorsprung. Zum einen gelange ich mit einem vollen Ruhetag wieder in den Rhythmus, mit dem ich die Tour de France am Galibier abpassen will, zum anderen kann ich noch die Rest-Wehwehchen aus Zermatt vollständig auskurieren. Doch was der Sommer selbst hier auf der Alpensüdseite bereithält, ist weniger als erholsam. Der Himmel ist dick bewölkt, für eine Regenprognose brauche ich keinen Meteorologen. Gravierender ist jedoch die kalte Witterung, ein ideales Rheumawetter. Der Wind bohrt jedes verfügbare Molekül dieser Kaltluft durch alle Kleiderlagen hindurch weiter hinein in die Hautporen bis sich der Körper schüttelt. Den Ruhetag abzubrechen scheint aber auch nicht verheißungsvoll, denn bei meinem Ausflug Richtung Cogne (ohne Gepäck) reicht die schlechte Wetterlage weit hinunter ins Tal, sehr leicht könnte ich in eine Regenabfahrt gelangen, nur die Temperatur könnte in Aosta etwas höher liegen. Ich entscheide mich zu bleiben und erkunde zunächst das Städtchen Cogne, in dem sich noch mehr Touristen um ihr Wanderwetter betrogen fühlen und erst mal in eine der Cafés flüchten. Eine Gepäckspezialität aus Cogne ist das Mécoulén, ein rundes Rosinenbrot mit dünner Glasur, im Geschmack dem Pannetone verwandt. Eine Straße führt nach Valnontey mit Hotels und Campings am Ende der Strecke. Von dort an schirren leicht begehbare Wanderwege in den Nationalpark Gran Paradiso aus. Neben den Wegen erstrecken sich alpine Wiesen mit Steingeröll und kleinen Hainen. Der Fluss sprudelt friedlich ohne großes Gefälle vor sich hin. Die Berggipfel im Süden geben dem Ganzen ein malerisches Panorama – wenn denn nicht gerade die Wolken alles verhüllen. Der untere Teil ist auch noch bequem mit einem Straßenrad befahrbar. Das schlechte Wetter lässt mich aber vom tieferen Erkunden absehen. Ich mache einen Abstecher zu einer Käsealm, die im Direktverkauf würzig-herbe Käsesorten und Pannacotta mit Minzlikör (ein überraschend gelungener Gaumenkitzel) anbietet. Noch bevor ich zum Camping in Lillaz zurückgekehrt bin, setzt der Regen ein, der zunächst drei Stunden anhält. Es gibt zwar einen kleinen Raum am Camping, in den man sich setzen kann, doch was macht man nach ein paar Postkarten schreiben noch? Nach Regenende nutze ich die Gelegenheit, den nahen Wasserfall noch zu erwandern, stets fröstelnd in Spätherbstkleidung. Von den Bergen kommen immer dunklere Wolkenschwaden ins Tal. Das Highlight ist dann das Aufwärmen beim Abendessen. Ich gehe in einen anderes Restaurant als tags zuvor. Dort kann ich zwar speisen, muss aber wegen vorbestellter Plätze recht schnell den Platz räumen. Ausgerechnet an diesem Abend. Bemerkenswert wie das Essen auch von Familien mit Kindern hier zelebriert wird. Irgendwie ist das eine andere Atmosphäre als in der Schweiz oder in Deutschland. Und Kinder müssen hier nicht immer still sitzen. Da ist einfach mehr Toleranz zu spüren als bei dem immer noch preußisch angehauchten Tischappell bei deutschen Familienessen. So, 10.7. Lillaz – Aymavilles (670m) – Pré-St.-Didier – Col du Petit St. Bernard (2188m) – Bourg St. Maurice – Moûtiers – Albertville [162 km – 9:31 h – 17,0 km/h – 1599 Hm] Die ganze Nacht hat es geregnet, die Temperatur ist etwas erträglicher als tags zuvor. Obwohl ich bereits um 5:45 Uhr aufstehe, bin ich erst um 8 Uhr abfahrtsbereit. Ich habe enorme Probleme, bei andauerndem Nieselregen das Zelt trocken zu reiben. Das etwas ketzerische Fazit aus Cogne lautet: 1000 Höhenmeter für einen Tag Schüttelfrost. Im Gegensatz zum Mattertal gestaltet sich die Abfahrt bis ins Aostatal durchgehend flott. Glücklicherweise liegen die Baustellen brach, weil Sonntag ist. Lediglich die Kälte verhindert ein ungetrübtes Abfahrtserlebnis. Immerhin kann ich mir nach Amayvilles für die folgende zunächst leichte Auffahrt die lange Hose auszuziehen. Einen kurzen Smalltalk führe ich vom Rad aus mit einem italienischen Rennradler, der über den Col di San Carlo fahren will. Das ist der Pass, der eine schwierige Extrarunde über knapp 2000 m ermöglicht, bevor man den Kleinen St. Bernhard angeht. Ich bleibe aber auf meiner geradlinigen Route der großen Pässe. Bald blicke ich auf den Höhepunkt dieser Strecke – das Mont-Blanc-Massiv. Eine große, mächtig, das Tal fast erdrückende weiße Kulisse tut sich da auf. Der Mont Blanc ist jedoch ein unscheinbarer, weil wenig charakteristischer Kegel, der in der Form mit seinen Nachbarn beliebig austauschbar wäre. Nur kurz ist die Spitze wolkenfrei, während sich im unteren Teil die Wolken halten. Später umnebeln sie dann die Spitze, sodass ich nie einen ganz freien Blick auf den Berg werfen kann. In einem Bistro kurz vor den Abzweig bei Pré-St.-Didier nehme ich einen kleinen Snack und aufwärmenden Milchkaffee zu mir. Wenn die Sonne hervortritt, ist es zwar sofort warm, aber sobald Wolken aufziehen kühlt der Wind den Körper wieder aus. Während die meisten Autos nach Norden Richtung Courmayeur und weiter durch den 11,5 km langen Mont-Blanc-Tunnel nach Chamonix abgeleitet werden, komme ich auf der Serpentinenstraße Richtung Kleinen St. Bernard gut voran. Der Himmel ist wieder dicht bewölkt, als ich die etwas gestreckte Passage bei la Thuile – den auf dem Weg zum Pass letzten, offenbar beliebten Wintersportort – durchquere. Nach dem Ort trete ich engagiert die nächsten Serpentinen hoch. Was ich zunächst als Passhöhe vermute, ist keine und entsprechend zäh winde ich mich dann über die wie eine karge Hochebene wirkende Reststrecke zum Pass. Bedrohlich drücken die Wolken von Nordost heran, ein Gewitterguss wäre bald denkbar. Ein bisschen fahre ich auch den Wolken davon und hoffe, schnell genug zu sein. Auf der Passhöhe ist es zwar phasenweise sonnig, aber unangenehm windig und kalt. Die Hautporen haben keine Chance, sich den bohrenden Luftströmen zu verschließen. Es gibt die Möglichkeiten, eine letzte italienische Mahlzeit einzunehmen oder ein erste französische. Ich überfahre die Grenze und verspeise eine Crêpes bei den Franzosen – die meisten Gäste sitzen aber beim Italiener. Noch ein bewunderndes Lob von einer italienischen Wandergruppe und ich begebe mich auf die Abfahrt. Sie hat ein sehr mäßiges Gefälle und zieht sich in sehr langen Serpentinen an Wiesen- und Nadelwaldhängen ins Tal. Ein weiter Blick reicht in das Tal, wo man kleine Seen und die Bauanordnungen der Orte gut aus der Vogelperspektive wahrnehmen kann. Trotz des aufgelockerten Himmels gibt es auch hier in Frankreich offenbar keinen richtigen Hochsommer. Bald habe ich das charmante Seez und dann das fast zu betriebsame Bourg St. Maurice erreicht, mein eigentliches Etappenziel. Die Dichte von Rennnradfahrern nimmt hier deutlich zu und viele der Touristen sind nicht zuletzt wegen der Tour de France hier, die zwei Tage später in der Nähe bei Corchevel einer Bergankunft zu verzeichnen hat. Ich bin viel zu früh für ein Etappenende und kann noch eine wesentliche Strecke angehen. Da an der Auffahrt zum Cormet de Roselend keine Orte gelegen sind und es wohl keine Unterkunft in absehbarer Entfernung gibt, drehe ich die geplante Runde um in eine Schleife im Uhrzeigersinn und fahre weiter das Tal abwärts über Moûtiers. Ein kleiner Regenschauer weicht wieder schnell einer sonnigen Phase, die jetzt in der Tallage auch gute Wärme zu verbreiten mag. Die Landschaft bis Moûtiers hat mit den gegenüberliegenden Waldhängen, mal einer kleinen Burg und dem Blick auf die von Kanuten genutzte Isère einen recht lieblichen Charakter. Allerdings verhindert der extrem starke Verkehr einen ungetrübten Genuss. Die Strecke verläuft außerdem in verschiedenen Auf-und-Ab-Wellen etwas zäh nach unten. Der Verkehr und ein ca. 1,6 km langer Tunnel mit Gefälle würde die Fahrt in umgekehrter Richtung trotz separater Fahrradspur sehr unangenehm machen. In Moûtiers habe ich noch genügend Zeit, um Albertville zu erreichen. Es ist zunächst etwas schwierig die passende Straße zu finden, weil alle Hinweise Richtung Albertville auf die nun beginnende Kraftfahrtstraße weisen, für die Fahrräder nicht zugelassen sind. Das folgende Tal ist zunächst sehr eng geschnitten und einige Industrieanlagen sorgen für unangenehme Gerüche. Zudem ziehen immer mehr dunkle Wolken auf, die eine ziemlich triste Atmosphäre schaffen. Am Abzweig zum Col de la Madeleine muss ich mich etwas durchfragen, wo es weitergeht. Dabei stoße ich auf einen jungen Deutschen, der auch mit Zelt, aber auch mit Kocher ziemlich unbekümmert mit nicht ganz professioneller Ausstattung auf dem Weg von Norden zum Mittelmeer ist. In St. Tropez möchte er dann im Ferienhaus der Eltern ausspannen. Er sucht gerade einen wilden Zeltplatz, weil er sich angeblich keine Ausgaben für Camping oder gar Hotel leisten kann. Das Essen besteht bei ihm aus Dosenravioli und Tütensuppen. „Wenig Frankreich in Frankreich“, sage ich mir, so spart der Deutsche sich ins Asketische. Wir verabschieden uns mit der Perspektive, uns bei der Tour de France am Galibier wiederzutreffen – daraus wird aber nichts, entweder weil es dann zu viel Leute am Tourtag wurden oder weil er es doch nicht rechtzeitig geschafft hat. Dann kommt es für mich (wohl auch für ihn) zum kleinen Desaster. Es schüttet kübelweise von oben bei Feissons-s-Isère und ich habe etwas Glück im Unglück, dass ich gleich ein Bushaltestellenhäuschen als Unterstand finde. So bleibe ich zwar trocken, doch gähne ich eine ganze Stunde vor mich hin – nichts als wild prasselnde Wassermassen, die auf dem Asphalt wie vom Teufel gestochen tanzen. Ein Hotel wäre nicht in der Nähe und schon befürchte ich, gar in dem Häuschen übernachten zu müssen. Doch dann endet der Wolkenbruch plötzlich und ich kann nun auf flacher Strecke wieder Fahrt aufnehmen. Ein Hotel in la Buthie ist geschlossen, es bleibt nur das Durchfahren bis Albertville. Dort ist es zwar schon dunkel, aber von den Regenwolken ist nur wenig zu sehen und es war hier sogar die ganze Zeit trocken und recht warm. Die Isère vollzieht hier einen scharfen Knick und folglich liegt hier ein anderes Tal mit anderem Mikroklima. Ich fühle mich ermutigt, trotz der Wetterkapriolen den Campingplatz zu suchen, auch weil ich bei der Fahrt in und durch die Stadt keine Hotels ausmachen kann. Die jung und modern wirkende, breit angelegte Neustadt (erst 1845 gegründet) ist wenig reizvoll, sogar die Restaurants haben jetzt gegen 21:45 Uhr bereits geschlossen. Für eine Ex-Olympiastadt (1992) ein wenig rätselhaft. Ganz in der Nähe des Campings, aber noch unterhalb der Altstadt, finde ich ein noch geöffnetes indisches Restaurant (wie oft haben mich auf meinen Touren schon die späten Schließzeiten der Asiaten retten müssen?!). Das Essen ist vorzüglich – und ein laut lachendes Liebespaar sorgt für einen komischen Kontrast zum meditativen Ambiente. Die Nacht – oh Wunder! – bleibt trocken. Versöhnliches Ende für die längste Etappe meiner Tour. Mo, 11.7. Albertville (350m) – Venthon – Beaufort – Col de Méraillet (1605m) – Cormet de Roselend (1967m) – Bourg St. Maurice (840m) – Tignes-les-Brevières (1568m)[84 km – 6:48 h – 12,3 km/h – 2451 Hm] Die folgende Schleife über einen Fast- aber Doch-eben-nicht-2000er habe ich eingeplant, um mich zeitlich optimal an den Galibier heranzupirschen und dort auf dem Dach der der Tour de France einmal dem ganzen Treiben beizuwohnen. Im Jahr zuvor bin ich zwar bewusst der Tour im französischen Cantal entgegengefahren, habe aber im Etappenort St. Flour das Finale verpasst, weil zu spät, und den Start am nächsten Tag nicht mehr abgewartet, weil auch zu spät für meine Planung. Außerdem entfaltet sich die Faszination über die Tour erst durch die französische Radsportbegeisterung auf dem Lande bzw. an der Strecke. Im Nachhinein hat sich die Runde in jedem Fall auch landschaftlich gelohnt und die Tourbegeisterung sollte ich schon heute einfangen können. Zunächst winde ich mich aber die kurze steile Rampe in die kleine Altstadt Conflans hinauf. Die Häuser hinter den Stadttoren sind noch vollständig erhalten, einige wurden bereits im 15. Jahrhundert erbaut. Jeder Beruf hat hier ein kunstvoll gestalltetes Signet oder Schild, das meist geschmiedete Figuren oder Symbole enthält. Überbordende Blumen schmücken die herausgeputzten Fassaden, hinter denen kleine (Kunst-)Handwerksberufe, Händler oder am Platz im Zentrum Restaurantbetreiber ihrer Tätigkeit nachgehen. In jedem Fall hätte es sich bei früherer Ankunft am Abend gelohnt, hier auf dem Hügel in dem pittoresk-romantischen Ambiente zu speisen. Eine besondere Kuriosität ist das Maison Rouge mit seiner ganz roten Fassade, hinter der sich ein Heimatmuseum verbirgt. Dahinter gibt es einen Garten, von dem man tolle Panoramablicke sowohl nach Süden wie auch nach Norden erhaschen kann. Die noch tief stehende Morgensonne sorgt für kurzweilige ungewöhnliche Lichtbrechungen zwischen den Gewächsen und den schmalen Häuserfluchten. Da ich nun schon einmal den kleinen Berg hochgefahren bin, wähle ich auch gleich eine enge lokale Nebenstraße auf der Höhe, die in der Karte nicht vollständig ausgewiesen ist. Nach ein paar Villen mit Talblick auf Albertville geht es in leichtem Auf-und-Ab an landwirtschaftlich genutzten Wiesen, kleinen Wäldchen und ein paar Kleinstsiedlungen vorbei bis Venthon. Dort setze ich mich in die Morgensonne, um mit einem Kaffee mich fit zu machen für den bevorstehenden Anstieg. Ich sehe einen im schweren Tritt wiegenden Rennradler, der kleines Gepäck montiert hat, vorbeifahren. Zurück auf der Strecke, habe ich ihn bald eingeholt. Er heißt Yoko und kommt aus Finnland – nicht gerade das klassische Land für radelnde Bergfahrer. Wir plaudern auf Englisch ein gutes Stück miteinander, hin und wieder warte ich, bis er herangefahren ist. Bis Beaufort liegen die Steigungswerte zwischen 4-7%, Yoko meint aber, dass es schon 10-14% seien. Ich ahne schon, dass er noch viel quälende Arbeit an diesem Tag zu bewältigen hat. In diesem Teil wechseln schattige Mischwaldpassagen mit kleinen Auen. Tauperlen auf den Blättern glitzern, die Sonnenstrahlen funkeln in dem leicht plätschernden Wasser des kleinen Flusses. Auch bei hoch stehender Mittagssonne dürfte es hier sehr angenehm zu radeln sein, weil das dichte Blattwerk das Tal feucht und kühl hält. Beaufort ist ein kleiner, quirliger Ort, in dem sowohl Winter- wie Sommertouristen Station machen. Berühmt ist Beaufort für seinen gleichnamigen, schmackhaften Hart- und Schnittkäse, von dem ich in Form eines Sandwiches koste. Nun folgt ein steilerer Teil, der in Kehren durch überwiegend Nadelwald nach oben strebt. Yoko bleibt bald deutlich zurück, sodass ich nun in meinem Rhythmus weiterfahre. Immer mehr Radrennfahrer überholen mich und bald stehen an den engen Straßerändern überall Wohnmobile und Zelte – nicht wenige sind Deutsche. Sie sind die Vorboten der Tour. Neben den Bannern für T-Mobile, Cofidis, Banesto, Credite Agricole etc. campieren und picknicken die Fans. Jan Ullrich, Ivan Basso, Rasmussen, Moreau – Armstrong ist seltener zu lesen (er soll ja nicht so beliebt sein) – pranken als Kreideschriftzüge auf der Straße. Ein Vorabkommando der Tour verteilt gelbe Abfallsäcke und Absperrgitter an der Strecke. Ich weiß nichts über den Stand der Tour, weiß auch gerade nicht mehr genau, wo und wann noch vor der Galibier-Etappe gefahren wird. Ich frage nach und erfahre, dass die Tour heute Ruhetag hat und die Etappe über den Roselend mit anschließender Bergankunft in Corchevel erst morgen ansteht. Umso erstaunlicher sind die Zuschauermassen, die bereits heute die Passstraße bevölkern. Als schwer beladener Tourbiker steche ich aus der Masse der Rennradler heraus und bekomme entsprechend viel Zuspruch und Anfeuerung von der Fankulisse. Das wirkt sich immer wieder positiv aus, ich fühle mich in diesen Momenten psychisch stärker und das Quälende der Auffahrt weicht einem kleinen Siegergefühl. Ich mache weniger Verschnaufpausen und beiße mich besser durch. Wahrscheinlich fahre ich auch etwas schneller als ohne Menschenkulisse. Der Col de Méraillet ist ein Zwischenpass, von dem nur eine kleine Abfahrt zum Roselend-Stausee herunterführt. Eine unauffällige, aber schwierige und längere Nebenroute mündet hier ein – ebenfalls von Beaufort ausgehend. Ein größerer Parkplatz ist voll mit Autos und Wohnmobilen belegt. Ein paar an der Kurve über dem See verteilte Restaurantbetriebe haben regen Zulauf – Velofahrer, Motorbiker und all die Tourfans genießen die Aussicht auf das Farbenspiel des Blaus von der Seeoberfläche. Ein Badeabstecher zum Seeufer ist möglich, aber mit einem weiteren Abstieg von der Straße verbunden. Die Sonne wird mittlerweile immer wieder von Wolken verdeckt, sodass ich auf den Sprung ins Wasser verzichte. Nach der Straßenmulde bei der Brücke steigen weithin sichtbare Kehren wieder den Berg herauf, der fast als Wand erscheint. Die Steigung ist aber mit ca. 8% geringer als zuvor. Weiter oben windet sich die Straße über kurzgrasige Alpenwiesen, die von Steinen und Steinblöcken eigenartig übersät sind. Nochmal ein Bistro, massenhaft Tourfans und endlich gelange ich zur Passhöhe des Cormet de Roselend. Zahlreiche Radler scharen sich um das Passschild. Darunter ist auch eine große Gruppe von Trek Travel Tour, die Rennradtouren, wohl auch auf den Strecken der Tour de France organisieren. Darunter befinden sich verschiedenste Nationalitäten, auch Deutsche, aber insbesondere Engländer, Männer wie Frauen, Schwache und Starke. Sie verteilen sich in großen Abständen auf die ganze Bergstrecke, einige habe ich sogar schiebend gesehen, andere sind mir förmlich davongezischt. Es gibt hier kein Haus, nur zwei Verkaufsstände versuchen Süßigkeiten, Käse, Oliven und Postkarten an Mann und Frau zu bringen – leider erhalte ich keinen Passaufkleber. Wer was Essen will, muss die Gelegenheiten zuvor nutzen. Ich komme mit einem Alpen-erfahrenen bayrischen Radler-Trio ins Gespräch (eine Dame und zwei Herren), die etwa mit mir zusammen den Pass erreicht haben. Sie haben ihr Gepäck und Auto in Albertville stationiert und unternehmen von dort aus Stichtouren. Wir plaudern über Alpenpässe, Marathon-laufende Kinder und die Mängel von deutschen Radwegen. Die kalt-windige Witterung treibt uns schließlich auseinander, die Bayern wieder zurück, ich nach Bourg St. Maurice runter. Die Abfahrt ist auffällig ruhig, kaum Radler und Autos. Im oberen Teil finden sich schöne Flusskaskaden nebst schönen Bergwiesen. Ein paar Wolkenlücken verleiten mich schließlich zu einer Badepause, die jedoch wenig Sinn macht, weil es sofort wieder kühl wird, wenn die Sonne von Wolken verdeckt wird. Ich will die Gelegenheit nutzen einige verschwitzte Sachen im Flusswasser auszuwaschen. Ich binde eine feuchte Trägerhose über den hinteren Taschen fest. Während der Fahrt kann ich so i.d.R. Sachen trocknen. Diesmal aber geht die Sache schief. Die Träger der Hose rutschen herunter und flattern in die Speichen, ohne dass ich das merke. Eine Autofahrerin macht mich aufmerksam. Zwar sind die Träger nun schwarz geworden, ich kann mich aber glücklich schätzen, dass sie sich nicht gänzlich in den Speichen verfangen haben – das hätte gefährlich werden können. Während ich mich über meine Fahrlässigkeit ärgere (die neue Hose konnte ich später wieder sauber bekommen) – kommt der Tourenradler, der etwas weniger Gepäck als ich dabei hat und den ich zuvor bei der Abfahrt grüßend überholt hatte, heran. Er ist Holländer – schon wieder keine „Bergnation“ – und ich flachse mit ihm etwas über die Dutch Mountains, die ja so wunderbar von der Popgruppe The Nits („In The Dutch Mountains“, 1987 auf CBS) besungen wurden. Einen flacheren Teil fahren wir zusammen, soweit es steiler nach unten geht, rausche ich wieder davon. In Bourg St. Maurice pausiere ich für einen kleinen Snack in einem Bistro, wo noch zahlreiche andere Radler sich Bier, Sandwich oder Omelett schmecken lassen. Der Holländer fährt noch mal grüßend vorbei. Hier unten ist es wieder schwül-heiß, aber der Himmel verheißt alles andere als stabile Witterung. Wenig weiter in Seez sind die Wolken Richtung Iseran tief schwarz. Ich kaufe Toilettenpapier – üblicherweise gibt es das auf den wenigsten französischen Campingplätzen und on the road brauche ich es auch schon mal. Ich bekomme aber nur diese Multipacks, benötige aber nur zwei Rollen. Ein weiterer Reisradler, ebenfalls mit etwas weniger Gepäck, versorgt sich auch gerade aus dem kleinen Supermarkt. Ich biete ihm schließlich das restliche Klopapier an. Er ist auch Deutscher, kennt das Problem mit der wichtigsten Rolle der Welt. Aber er hat keinen Bedarf und so stelle ich den Rest auf einen Abfalleimer. Der Radler aus Karlsruhe heißt Joe, kam vom Kleinen St. Bernard und ist von seinen zwei badischen Partnern abgehängt worden. Per SMS erfährt er, dass die beiden kurz vor Tignes in einem Tunnel einem heftigen Gewitterschauer trotzen und eine Unterkunft ausgemacht haben, Pizzeria liege gegenüber. Joe soll nachkommen. Das sagt sich leicht, denn d.h. wie auch für mich in die Front hinein zu fahren, und das bergauf. Joe fühlt sich gezwungen loszufahren und ich mache mit. Die Taleinfahrt hat zunächst unerwartet Gefälle. Erste Tropfen prasseln herunter und spätestens bei der ortsfern liegenden Jugendherberge hätte ich jetzt allein fahrend die Etappe abgebrochen. Jetzt nässt es schon heftiger, endlich finden wir einen Balkonunterstand, um uns Regenklamotten überzuziehen. Im Gegensatz zu Joe kann ich mich nicht komplett abriegeln, ich habe eigentlich nur eine Regenjacke, die zwar atmungsaktiv ist, aber nicht ewig durchhält. Für die Schuhe habe ich keinen Schutz, die Beine sind auch ohne Regenschutz kein Problem. Wir fahren bei mäßigem Regen weiter und unser Mut wird belohnt. Bereits in den ersten Kehren bergauf können wir uns der Regenkleidung entledigen und bleiben – wenn auch bei tristem Himmel – trocken. Während mir Joe in der Ebene fast weggefahren wäre, ist er am Berg doch deutlich langsamer. Das hatte er mir aber schon vorher gesagt. Denn seine Kompagnons hängen ihn als sehr gute Bergfahrer stets deutlich ab – der eine sei ein Fast-Profi, der andere eine tierische Kämpfernatur, er selbst kommt zwar die Berge immer hoch, aber eben nur sehr langsam. Trotz des miesen Wetters habe ich einen guten Rhythmus, warte aber immer in gewissen Abständen auf Joe. Die Strecke eröffnet immer wieder schöne Blicke auf kleine Bergdörfer. Es herrscht allerdings recht starker Verkehr, auch viele LKWs befahren zumindest bis Val d’Isere den Weg. In Ste. Foy zeige ich Joe, wo die Abkürzung vom Kleinen St. Bernard einmündet. Er hätte auf diesem Wege seinen Kollegen ein Schnippchen schlagen und etliche Höhenmeter einsparen können. Doch man muss das vorher wissen, denn die abzweigende Strecke ist sowohl auf der Karte als auch auf der Abfahrt nur schwer zu erkennen. Da ich den Umweg über den Roselend gewählt habe, konnte ich die Abkürzung allerdings nicht nutzen, obwohl sie mir aus dem Radreiseführer bekannt war. Fast bedrohlich unterhalb der Staumauer vom Lac du Chevril liegt Tignes-les-Brevièrs, ein kleiner, stiller Ort mit nur wenigen Häusern, der nichts mit den weit oberhalb sichtbaren Betonburgen des begehrten Wintersportortes Tignes gemein hat. Ich könnte es noch bis Val d’Isère schaffen, das nicht mehr weit in Kilometern und Höhenmetern entfernt ist. Ich schließe mich aber der Wahl der Badener an, und fahre den kleinen Abzweig mit Joe hinunter. Entgegen der SMS-Angaben ist es kein Camping (beim dem Wetter zum Glück), sondern eine schlichte Festunterkunft. Pro Person kostet es 20 € (ohne Frühstück), ich habe ein Zimmer, Fernseher und Bergblick inklusive, die drei Badener drängen sich etwas eng in einem Zimmer. Etwas überrascht bin ich, dass sie ihr eigenes Essen (Tütensuppen und Nudeln) anrichten wollen. Keiner will nicht mal auf einen Drink in das gegenübergelegene Restaurant mitkommen. So speise ich allein ein köstliches Menü (sogar eines der besten auf der Tour). Salat mit warmen Schafskäse, mit Honig gebratene Entenbrust an Orangensauce, begleitet von Gratin Dauphinois sowie ein kleiner Nachtisch versüßen den Tagesausklang. Als ich am nächsten Morgen den drei Badenern vom Abendmahl berichte, sind sie zwar angetan, können aber nicht nachvollziehen, dass ich für ein Essen 40 € auslege. Sie sind alle drei EDV-Leute und verdienen sicherlich wesentlich mehr als ich. Mein Beispiel, dass ich schon mal absurde 1200 € für einen kaum sichtbaren Kratzer an einem Auto (eines Unfallgegners) bezahlt habe, finden sie wiederum eine durchaus angemessene Ausgabe, die sie auch fürs eigene Auto freiwillig hergeben würden. Da frage ich mich, ob es typisch Deutsch ist, nicht Genießen zu können oder zu wollen. Statistisch geben der Franzose und Italiener das Doppelte für Essen und Trinken aus wie der Deutsche. Wo liegt da der Sinn für Lebensqualität? – Dass sich die Badener auch noch über den Preis für das Zimmer beklagen, setzt der Geizmentalität die Krönung auf. Verwöhnst du den Gaumen, hebt sich die Laune. Sparst du an Mahlzeit und Trank, wird die Seele mürbe und krank! Di, 12.7. Tignes-les-Brevières – Val d'Isère – Col de l'Iseran (2764m) – Bessans – Modane – Orelle – St. Michel-de-Maurienne[113 km – 7:04 h – 15,8 km/h – 1407 Hm] Gegen 7:20 Uhr satteln wir gemeinsam auf, aber kaum haben wir die Hauptstraße wieder erreicht, ziehen die beiden Cracks von dannen. Joe ist bald wieder der Letzte, kommt aber an der Baustellenampel am Ende des Sees wieder an mich heran. In der klaren Morgensonne beeindruckt das Bergpanorama am See besonders. Nach einer kleinen Schlucht mit Tunnel öffnet sich das Tal in Val d’Isère. Der Ort wirkt trotz der etwas künstlich alpin stilisierten Holzbauweisen in skitouristisch massierter Dichte doch recht hübsch. Auch hier scheint der Sommertourismus nur ein Nebengeschäft zu sein, etliche Ferienwohnungen und Hotels sind nicht besetzt bzw. geschlossen. Wir nehmen, jetzt wieder zu viert, ein kleines Stehfrühstück an der Straße ein. Dabei gelangen weitere Sticheleien unter den drei Badenern zur Debatte. Irgendwie scheint mir Joe nicht zu den beiden anderen zu passen. Die zwei Cracks besuchen noch ein Radfahrgeschäft, ich fahre mit Joe eine Nebenstraße zum Campingplatz, wo ihm die Campingwärterin als Nicht-Campinggast den WC-Zutritt verweigert. Sodann halten wir noch mal an einer kleinen Brücke, wo ich schicksalhaft noch ein Foto von der fantastischen Bergkulisse mache, die im klaren, gleißenden Sonnenlicht eine fast hypnotisierende Aura ausstrahlt. Mittlerweile sind die beiden Cracks vorbeigefahren, haben uns aber nicht bemerkt und glauben daher die ganze Auffahrt zum Iseran, dass wir „davongeflogen“ sind. Überraschend stoße ich in einer Kehre auf den Holländer vom Vortag, der gerade einen selbst gekochten Kaffee trinkt. Er lädt mich zu einer Kaffeepause ein. Um 6 Uhr ist er bereits in Bourg St. Maurice gestartet, daher konnte er schon vor uns hier am Berg sein. Ich erfahre, dass er Sambamusik spielt und auch schon in Brasilien war. Daraus erklärt sich sein originelles Brasilien-Radtrikot. Er kommt besser den Berg hoch als runter, bergauf könnte er durchaus mit den Badener Cracks mithalten. Er ist aber Genießer und fährt zunächst ein Stück mit Joe. Dabei bemerkt er auch, wie unkollegial sich die drei Badener untereinander verhalten. Obwohl also auch der Holländer mir wegfahren kann, bin ich mit meinem Rhythmus sehr zufrieden und bescheinige mir selbst ein hohes Bergtempo. Es scheint so, als würde ich die ganz großen Pässe am besten bewältigen, andererseits sind einige der „kleineren“ Pässe tatsächlich in den Steigungsgraden schwieriger. Noch lange bleibt der Blick zur Talseite auf Val d’Isère und den See erhalten. Am Horizont leuchten pyramidenartige weiße Gipfel am Horizont. Den Schrei der Greife folgen die Warnsignale der Marmottes, wie die Murmeltiere in Frankreich heißen. Es ist alles angerichtet für einen Höhepunkt der Tour. Dann erreiche ich die Passhöhe, geschafft, der höchste „echte“ Alpenpass, 2764 m, zuweilen auch mit 2770 m angegeben. Aber, oh Schreck – meine Kamera ist weg! Ich habe sie vergessen – es kann nur an der Brücke, Ausfahrt Val d’Isère, gewesen sein. Soll ich zurückfahren und noch mal den Berg hoch, wobei die Kamera wohl längst nicht mehr dort liegt? – Nein, ich bin frustriert. Die beiden Badener Cracks sind verwundert, weil sie uns eben dort unten nicht gesehen hatten. Sie fragen nach Joe, der noch einige Kehren zurückliegt. Der Holländer ist auch da, aber so richtig freuen fällt mir schwer. Ich frage eine Gruppe von Trek Travel Bike, ob sie noch ein Begleitauto im Tal haben – aber dem ist nicht so. Ich schreibe einen Zettel, den ich am Pass an einen Pfahl hefte mit dem Hinweis, die Kamera im Kiosk abzugeben und wachte eine Weile. Die beiden Badener Cracks setzen ihren Kollegen wieder unter Druck, in dem sie sofort die Abfahrt angehen, den Col du Mont-Cenis und den Col de Montgenèvre nach Briançon noch abhaken wollen. Ich warne Joe, dass er das wahrscheinlich nicht schaffen wird, weil am Montgenèvre von Osten her eine große Höhendifferenz zu bewältigen ist (ich bin ihn schon umgekehrt gefahren). Er schreibt erst mal Postkarten, startet aber irgendwann ebenso wie der Holländer durch. Ich esse einen Sandwich aus der Gaststätte, der aber mit den überdicken Graubrotscheiben einfach zu trocken und ganz unfranzösisch ist. Hier wird außerdem deutlich, was es heißt die Natur ihrer urtümlichen Macht zu überlassen. Es gibt wegen der Höhe kein fließendes Wasser und entsprechend auch keine Toiletten! Im Kiosk erwerbe ich ein entzückendes T-Shirt mit Stickereien von Murmeltier und Gämse. Das kurioseste Souvenir ist ein Kuschelmurmeltier mit grünem Hut, das jodeln kann – habe ich nur hier gesehen. Mein Warten auf einen glücklichen Umstand in punkto Kamera ist indes vergeblich. Ich gebe auf und rausche hinunter ins Val de la Vanoise. In Bonneval frage ich beim Tourist Office, ob eine Kamera abgegeben wurde, später nochmal im schönen Lanslebourg, wo die Dame auch gleich in Val d’Isère anfragt – Fehlanzeige. Im Vanoise-Hochtal leuchten große Blumenfelder in rosa und gelben Farbtönen, geben der Landschaft ein liebliches Gesicht. Bereits in Bonneval endet die recht kurze Abfahrt und es folgen lange Passagen, in denen man kräftig treten muss um den Schwung aufrecht zu halten. Ein schwacher, aber doch giftiger Gegenwind bremst ebenso wie einige kleine Gegenhänge. Das warme Wetter und die Gewissheit im Zeitplan zu sein, erlaubt es mir, eine kleine Rastpause an der Arc einzulegen. Ich komme im Gegenwindes nur ziemlich zäh voran, eine kleine Regenpause hält mich auf und doch könnte ich eventuell über St. Michel-de-Maurienne hinaus sogar den Col du Télégraphe noch bewältigen und Valoire erreichen. Ich weiß ja nicht, ab wann die Straße für Radfahrer morgen gesperrt wird – die Gerüchte liegen bei zwei Stunden vor dem Tourtross bzw. vier vor dem Fahrerfeld. Deswegen will ich so nah wie möglich an den Galibier noch heute kommen. Vor Modane wird das Vanoise-Tal zur tiefen Schlucht, über der die Straße fast etwas waghalsig verläuft. Eine historische Teufelsbrücke führt zu einem Fort, das besichtigt werden kann. Drohende Regenwolken halten mich aber von jeder Art Exkursion ab. Im industriell geprägten Modane entschließe ich mich, eine kleine, analoge Ersatzkamera für 89 € zu kaufen, mit bescheidenem Zoom und eben keine Spiegelreflexkamera. Aber morgen steht die Tour de France bevor und davon möchte ich dann doch ein paar Bilder machen. Die Bildqualität, so stelle ich später fest, ist zwar gut, aber das Zoom unbefriedigend. Ich bekomme einfach vieles gar nicht ins Bild wie zuvor. Meine Hoffnung, die verlorene Kamera oder vielleicht auch nur den Film darin wieder zurück zu gewinnen, wird sich auch nach der Tour nicht erfüllen. Alle Nachfragen in Val d’Isère, Bonneval und Lanslebourg blieben erfolglos. Entsprechend fehlen mir auch die Bilder zwischen Aosta und Iseran. Ab Modane endet der romantische Teil. Das enge Tal wird zur reinen Verkehrsader. Eine Autobahn, die teilweise im Berg verschwindet, leitet den Verkehr von und zum Fréjus-Tunnel als eine der wichtigsten Alpentransversalen, gleiches gilt für die Bahnlinie, dazu kommt noch die Route National – mehr Platz ist nicht. Dann folgt – ein Unglück kommt selten allein – eine Straßensperrung, auch für Radfahrer. Während ich noch überlege mich verbotenerweise auf die Autobahn zu begeben, kommt schon eine Straßenwacht, die mich zwingend auf die unangenehme Umleitung verweist. Diese führt recht steil mit zusätzlich mindestens 100 Hm über das am Hang liegende Orelle. Nach der leicht gefährlichen Abfahrt, flutscht es endlich auf der Nationalstraße, aber für eine Fahrt über mein geplantes Etappenziel hinaus reicht die Zeit jetzt nicht mehr. In St. Michel-de-Maurienne, nicht mehr als ein kleiner unauffälliger Durchgangsort, ist alles auf Tour de France eingestellt. Bereits zuvor habe ich über der Autobahn Umleitungshinweise gelesen „Col du Télégraphe fermé – Col du Galibier fermé“. Trotz der offiziellen Sperrschilder an der Ortsausfahrt sehe ich aber zahlreiche PKWs und Caravans den Berg anfahren. Offenbar wird die Straße physisch erst gesperrt, wenn die Straßenränder voll stehen. Die Tour-Organisation zeigt sich flexibel – aber auch konsequent, wie sich am nächsten Tag zeigen wird. Im letzten ortsausgängig gelegenen Hotel sehe ich etliche Radler sitzen – natürlich ist es ausgebucht. Ich fahre wieder zurück und finde doch noch einen kleinen Campingplatz, den ich zuvor gar nicht wahrgenommen hatte, weil er fast nicht mehr als ein Parkplatz ist, eine Rezeption kann ich weder abends noch morgens ausmachen. Dort sind ausschließlich Tourfans mit und ohne Räder – wieder überwiegend Deutsche –, die dem nächsten Tag entgegen fiebern. In dem von mir ausgewählten Restaurant bekomme ich nur mäßige Kost. Mi, 13.7. St. Michel-de-Maurienne (712m) – Col du Télégraphe (1566m) – Valloire (1430m) – Col du Galibier (2654m) – Col du Lautaret (2058m) – Briançon/St. Blaise[82 km – 5:59 h – 13,4 km/h – 2095 Hm] Die Nacht war bei klarem Sternenhimmel überraschend mild, sollte der Sommer sich jetzt festsetzen? – Ich starte um 6:45 Uhr. Bereits bei den letzten Häusern klettere ich bei ca. 8% hinauf, was sich fast konstant bis zum Col du Télégraphe fortsetzt. Der dichte, schattige, meist dunkle Nadelwald erlaubt nur wenige freie Blicke ins Tal. Auch jetzt fahren immer noch Autos hinauf, man lässt soviel durch, um die maximale Stimmung für die Tour zu sichern und sperrt die Straße erst, wenn alle denkbaren und nicht denkbaren Plätze aufgefüllt sind. Die Straßenränder sind jetzt schon gut besetzt. Aus kleinen Zelten oder den Caravans lugen verschlafene Gesichter hervor, einige kochen bereits Kaffee, andere putzen ihre Zähne, noch andere haben die Hände schon frei und applaudieren mir. Noch vor 9 Uhr erreiche ich den Col du Télegraphe, der bereits einen guten schwierigen Teil des Gesamtaufstiegs zum Galibier ausmacht. Es ist ein Zwischenpass, der an einer Aussichtsbiegung liegt. Hier steht schon alles voll mit Radlern, im Bistro hole ich mir einen Capuccino mit Croissant und finde draußen sogar noch einen Sitzplatz in der noch teils verdeckten Morgensonne. Eine kleine, mäßige Abfahrt führt nach Valloire, ein besonders im Winter genutzter Touristenort in einer Talmulde. Heute ist jedoch Tourtag und der Ort hat sich in eine Menschenmetropole verwandelt. Am ersten Verkehrskreisel empfängt mich eine steinerne Gämse im gelben Trikot. Vor einem Supermarkt schreit ein Werbeprediger der Supermarktkette Champion seine Sprüche in ein Megaphon. Da die Straße nach dem Ort für Autos gesperrt ist, zieht sich ein Stau durch den Ort. Die Gendarmerie leitet die Autos zu den letzten eigentlich nicht vorhandenen Parkgelegenheiten. Von nun an fahre ich durch eine einzige Menschenkette. Eine Million Menschen sollen sich über den ganzen Berg verteilen. Massen von Zuschauern erwandern und erradeln die Passstraße um einen günstigen Platz zu ergattern. Unter den Radlern findet sich alles zwischen semiprofessionellem Rennradler und untrainiertem „Radazubi“. Einige knicken irgendwann ein und platzieren sich dann mitten am Hang zum Zuschauen. Noch nie bin auf einer Etappe von so vielen Radlern überholt worden, aber noch nie habe ich auch so viele überholen können. Die offenen Bergwiesen sind voller Zelte, überall sehe ich die hart gesottenen Fans bei ihrer Katzenwäsche mit Wasserkanistern, die nicht bei allen für die Belange des Tages reichen dürften. Was sagen wohl die Murmeltiere zu diesem Auflauf? Der Anstieg ist ziemlich konstant schwer, aber auch nicht der schwierigste. Ich kann den guten Rhythmus der frühen Morgenstunden weiter aufrecht halten, die wenigen Fotopausen und bewundernden Sichtpausen über die Bergwelt und die Zuschauerkulisse reichen zum Verschnaufen aus. In dem Gewühl bin ich nur einer unten vielen und erhalte letztlich weniger Aufmerksamkeit als etwa am Roselend zwei Tage zuvor. Die meisten sind irgendwie beschäftigt, haben sich noch nicht dem Treiben auf der Straße zugewandt. Besonders lautstark werde ich von einer Baskengruppe angefeuert, die in helle Begeisterung ausbricht als ich auf meinen Aufkleber mit der Baskenflagge (von meiner vorjährigen Pyrenäentour) deute. Eine andere Gruppe bietet mir einen Erfrischungsdrink an, der sich als in Eis gekühlter Schnaps mit Anisgeschmack entpuppt. Auch das wirft mich nicht um und bald habe ich die Passhöhe geschafft, wobei der letzte Teil nach einer Gaststätte noch mal leicht anzieht und das Zuschauerspalier immer enger wird. Gegen 12 Uhr stehe ich am Col du Galibier. Ein Passschild ist nicht zu erkennen, denn überall hängen Werbebanner, dazu kommen TV-Autos und ein kaum durchdringbares Gewusel von Radhelden, Gendarmerie und sonst wie angewanderten Zuschauern. So erhalte ich zufällig ein bemerkenswertes Passfoto: Über meiner Mütze ist der Werbebanner zu lesen „Tour de France – Col HC (horse category) – Champion“. Da hat mich die allseits präsente Supermarktkette zum wahren Champion geadelt. Übrigens ungedopt. So lasse ich auch gerne mal die Werbung über mir stehen… Auf der Passhöhe befindet sich keine Gaststätte oder Kiosk, es gibt kaum Platz neben der spitzen Passkehre, von der aus weite Panoramablicke sowohl nach Norden als auch nach Süden möglich sind. Absolute Mondlandschaft, keine Vegetation. Viele Fans haben sich auf den steilen Geröllhängen postiert, einige klettern sogar abenteuerlich und gefährlich über der Straßenkulisse. Einmal muss ein Polizist eingreifen, weil dadurch Steine ins Rollen geraten, die auf die weiter unten stehenden Leute herunterrollen. Ich platziere mich wenige Meter unterhalb der Passhöhe auf der Nordseite. Unter den Fans lerne ich viele Deutsche kennen, aber auch Italiener, Amerikaner und sogar Australier. Unter den Radtouristen erweckt einer besonderes Aufsehen. Etwa in den 50er oder 60ern ist der Mann, der ein historisches Rennrad aus der Frühzeit der Radfahrens fährt –ohne Gangschaltung! Wie er diesen langen Berg hochgekommen ist, bleibt für mich unergründlich – zumal wenn ich diese schweren langen Wiegetritte auf der viel zu großen Übersetzung sehe. Natürlich hat der Mann sich auch in ein entsprechend historisches Outfit gepackt – der bewundernde Applaus ist ihm von allen Seiten gewiss. Etwa zwei Stunden vor der Tourkarawane wird dann auch die Straße für Radler und Fußgänger gesperrt. Jeder muss da stehen bleiben, wo er gerade sich befindet. Da sind etliche Radler gereizt, die gerade die letzten Meter zum Pass noch bezwingen wollen. Da die Gendarmerie ist nun sehr konsequent. Manche denken sich fintenreiche Strategien aus, um den Polizeiposten zu überlisten, was aber nur den wenigsten gelingt. Diese flexible Handhabung, den Berg fast bis zum Kollaps aufzufüllen und dann doch noch rechtzeitig rigoros abzusperren, wäre in Deutschland sicherlich nicht möglich. Da hätte man schon von früh an keine Radfahrer mehr hochradeln lassen. Es fehlt einfach die Radsportbegeisterung, die den Franzosen in Fleisch und Blut liegt – egal ob aktiv radelnd oder nur Zuschauer. Mittlerweile ist die Sonne hinter dicken Wolken verschwunden. Es ist windig und kalt, leichter Niesel sorgt für ungünstige Aussichten, letztlich bleibt es aber trocken. Während ich bei diesem stundenlangen, ungemütlichen Warten schon mal darüber sinniere, wie weit ich an diesem Tag noch hätte kommen können, sorgt dann endlich die Tourkarawane für Abwechslung. Zunächst kommt eine fast endlose Autokette von offizieller Tourorganisation, Presse und Fernsehen. Manche rasen recht riskant an den Zuschauern vorbei. Ein unangenehmer Dieselgeruch beherrscht nun den Berg. Ich glaube auf meinen Touren immer wieder zu bemerken, dass die Dieselabgase in höheren Lagen ihren Geruch verändern. Ob das daran liegt, dass der Ausstoß der Abgase stärker ist oder ob sich der Gasgeruch tatsächlich ändert, weiß ich nicht. In einem der ersten Wagen sitzt Michel Virenque, der sechsmalige Bergkönig der Tour, auch ein Jahr nach seinem Rücktritt vom Rennsport noch ungemein beliebt. Als das Auto kurz stoppt, ist er sofort von Autogrammjägern umlagert und kann sich an den Busserln der weiblichen Fans erfreuen. Als Nächstes folgt die Werbekarawane, die einen Hauch Karneval in das Hochgebirge bringt. Mit überzeichnete Figuren und Gegenständen stellen sich die Sponsoren mit ihren Produkte vor. Da sind die radelnden Kängurus, die übergroßen Kaffeekannen, bunte Gartenzwerge einmal riesig, die lappigen grünen Watschenhände von Champion, die schnaubenden Flaschen als Delphinstupsnasen von Aquarel oder die silbernen Riesentaschenuhren von Festina. Als dringend benötigter Aufwärmer zischt auch ein Wagen mit feschen Mädels zu heißen Rhythmen tanzend durch das Zuschauerspalier. Witzig, komisch und originell. Werbegeschenke zu erwischen ist indes schwierig, weil die Autos doch arg schnell vorbeifahren. Als erstes konnte einen ganzen Packen kleiner Aquarel-Flaschen unter leibhaftig riskanten Einsatz ergattern. Damit war die um mich versammelte Gruppe mit Wasser versorgt. Als einziges länger brauchbares Utensil fange ich einen gelben Umhängebeutel von Credit Lyonnais auf. Nach vier Stunden schlottrig-kalten Wartens kommen sie dann, die Profis der Tour. Es fällt mir schwer mich zu entscheiden, ob ich zujubeln will oder wenigstens einen Fotoversuch wagen sollte. Winokurow von T-Mobile ist der Erste. Er wird den Sieg der Etappe nach Briançon tragen. Sein Vorsprung ist deutlich und er ist der Einzige, der mit seinem Tempo die Entschlossenheit zum Sieg zeigt. Alle Folgenden scheinen zu taktieren oder sind am Ende ihrer Kräfte und fahren auf Mithalten. Einige sind verbissen introvertiert, andere haben den Humor sogar nach einer dieser Champion-Riesenhände von einem Zuschauer zu greifen und damit ein paar Späße zu machen. Von Winokurow erwische ich schließlich die Hose auf dem Bild. Den Dänen Michael Rasmussen (Bergtrikotträger, gedopt? – na klar!) bekomme ich ganz ins Bild. Weder Lance Armstrong noch Jan Ullrich kann ich im Durcheinander ausmachen. Meine deutschen und australischen Nachbarn wissen ohnehin besser Bescheid, wer wer ist und wer im Klassement vorne liegt. Die Abstände zwischen den einzelnen Gruppen sind überraschend groß. Als Abschluss gibt es noch ordentlich Abgase von der Wagenkolonne der einzelnen Teams und der Tourorganisation. Bald ist das kurzweilige Rennerlebnis vorbei. In der Kälte möchte ich schnell weg. Leider wollen das noch einige Leute mehr. In den ersten Kehren nach unten kann ich nur mit Stotterbremsen herunterrollen. Das Fußvolk ist übermächtig. In der kurz unter der Passhöhe liegenden Gaststätte mit Kiosk verwechsle ich zu mienem späteren Ärger den richtigen Aufkleber vom Galibier mit dem des Lautaret. Ersatzweise hält ein Portemonnaie mit Galibier-Motiv heute den magischen Ort in Erinnerung. Bis zum Col du Lautaret (Bild aus 2002, mit Blick auf Ecrins-Massiv), der heute für mich nur ein Abrollpass ist und einem riesigen Parkplatz gleicht, kann ich in Schlangenlinie fast alle Fußgänger und Radler einholen. Richtung Briançon ist die Straße dann sogar wieder normal befahrbar. Die gut ausgebaute Straße ist mir bereits aus der 2002er Tour bekannt (damals von Vizille kommend). Im unteren Teil heißt es wieder kräftig strampeln um Schwung mitzunehmen. Vor der Stadt herrscht dann Autostau. Ich weiche wie einige andere Radler auf Seitenstraßen und Gehwege aus. Nach dem oberen Verkehrskreisel entspannt sich die Situation wieder. Das mir bereits bekannte Naturistencamp liegt im Süden der Stadt, schon eine Ortschaft weiter in St. Blaise, und dort eine steile Zufahrt hoch. Die dunklen Wolken sind allerdings wenig einladend für Camping. Als wäre es ein Wink mit dem Zaunpfahl, ist der Camping „La Clapière“ für immer geschlossen. Als Alternative gibt es unter der Zufahrtsstraße einen „textilen“ Campingplatz. Das wissen aber noch mehr Tourbegeisterte, eigentlich ist der Platz voll belegt. Für zwei weitere deutsche Velofahrer, einen deutschen Motorbiker und mich stellt der Campingwart dann Plätze auf einer noch freien Spielwiese (Tischtennis etc.) zur Verfügung. Noch ist der Tag aber nicht gerettet, denn tiefe Regenwolken aus Richtung Lautaret-Pass bedrohen mit Blitz und Donner eine trockene Nacht. Nach dem Duschen fahre ich zum Essen nach Briançon. Noch bevor ich die ca. zwei Kilometer zum unteren Stadtrand zurückgelegt habe, prasselt ein ungemein heftiger Regen nieder. Im ersten Restaurant ist kein Platz mehr frei, Reservierung ohnehin gewünscht. In dem Regen verweigere ich mich dem Weg in die steil oben gelegene und sehenswerte Altstadt. Aber auch in den wenigen Minuten der Suche im unteren Neustadtbereich werde ich völlig durchnässt. Als tropfende Wassersäule erhalte ich nach einiger Zeit des Wartens in einem italienischen Restaurant doch noch einen Platz. In einem Etappenort der Tour ist das mit dem Essen abends immer schwierig, so auch letztes Jahr in St. Flour. Wenn das sommerliche Open-Air-Speisen auch noch dem Sauwetter zum Opfer fällt, wird es auch in größeren Orten wie Briançon eng. Immerhin endet das Gewitter nach dem Essen. Ohne das gewünschte Camp und bei solchem Wetter beschließe ich, den geplanten, aber ohnehin mit Fragezeichen versehenen Ruhetag zu streichen. Do, 14.7. Briançon (1190m) – Col d'Izoard (2360m) – Guillestre (1000m) – Col de Vars (2109m) – (1286m) – Larche (1697m)[105 km – 8:11 h – 11,8 km/h – 2695 Hm] Die Nacht war wieder unangenehm kalt, blieb aber trocken. Am Morgen scheint der Himmel wieder gereinigt und strahlt in tiefstem Blau. Die Zeltplane ist noch reichlich nass und ohne die ersten einfallenden Sonnenstrahlen abzuwarten, kann ich meine Sachen nicht genügend gut trocknen. Mit ein paar Sachen fürs Frühstück aus dem kleinen Camping-Supermarkt verlasse ich die Tore des Campings erst gegen 9 Uhr. Die beiden Würzburger Velotourenfahrer wollen die die fast selbe Route wie ich fahren, allerdings mit dem Etappenziel Jausiers. Sie lassen es sehr gemütlich angehen und wollen wohl erst eine Stunde später starten. Für die Abzweigung Richtung Col d’Izoard ist die Fahrt in die Oberstadt nicht nötig. Die gleich kräftig ansteigende Straße führt an ein paar Villen vorbei in eine geruhsame Natur, die bald eine tiefgehend romantische Stimmung ausstrahlt. Vom Wasser überflossen glitzern und blinken die Felsen, brechen das Licht der Morgensonne in verschiedene Edelsteinfarben. Nach dem Wintersportort Cervières gestalten Wiesen die Landschaft offener, dann sorgt lockerer Lärchenwald für eine weitere Facette der Bergwelt. Zwei Schweizer Rennradler mühen sich ebenfalls hoch, sonst scheint die Tour de France die Radler heute ins Durance-Tal zu ziehen. Etliche Passagen mit über 10% und bis zu 13% verlangen heftige Schweißarbeit, zumal es mittlerweile sommerlich heiß ist. In der offenen Bergwelt verblüffen dann eigentümliche Felszacken, die wie Termitenburgen oder geknetete Zapfen aus den Geröllhängen herausstehen. Die Berghügel bekleiden weiter unten grüne Kurzgrasteppiche als Kontrast zu den felsigen Bergrücken, die sich wie Mondkrater um den Betrachter aufbauen. In dieser einzigartigen Szenerie und unterhalb der Passhöhe steht das Refuge Napoléon, eine sehr charmantes Domizil zum Übernachten, Speisen oder einfach einen Kaffee zu trinken. Auf der Passhöhe kommt zum herrlichen Blick nach Norden auch noch ein tolles Südpanorama hinzu. Ein Kiosk bietet ein paar Erfrischungen und Souvenirs. Von Süden kommt eine italienische Rennradgruppe mit zwei Frauen und zwei Männern hoch, die sich sehr locker geben – die Frauen absolut sexy und die Männer absolut Macho. Die Felstürme, -zapfen und -zacken sind auf der Südseite noch eindrucksvoller. Eine wundersamsten Felslandschaften, die ich je gesehen habe! In einen Fels sind Gedenktafeln zu Ehren Fausto Coppis und Louison Bobets (Radsportlegenden) eingelassen. Ich habe immer wieder mit alten Franzosen auf meinen Touren gesprochen, die sich für Radfahren begeistern – Fausto Coppi kennen sie alle. Er gewann den Giro d’Italia fünfmal, schaffte dabei das Double aus Sieg bei Giro und Tour de France zweimal, wurde Weltmeister und Stundenweltrekordler, war heiß geliebt und bald gehasst als untreuer Ehemann an der Seite seiner neuen Geliebten und starb 1960 bereits im Alter von 40 Jahren an den Folgen einer Malaria, die er sich bei einem Radrennen in Obervolta einfing. Die Abfahrt ist im oberen Teil recht holprig und schwierig. Eine Lowridertasche klickt sich aufgrund der Straßenbeschaffenheit aus, zum Glück komme ich zum Stehen, bevor sie ganz abfällt. Weiter unten ist die Straße wieder in gutem Zustand, es kommt aber wieder Gegenwind auf. Herrlich ist dann die Schlucht Combe de Queyras, wo die Straße oberhalb des rauschenden Wassers und durch diverse Tunnelbögen verläuft. Mutige Kanuten steigen gerade für eine Tour in den Fluss. Bei Guillestre weitet sich das Tal, die nahe Durance gibt einen weiten Blick nach Norden frei. Ohne Guillestre zu durchqueren, windet sich die Straße zum Col de Vars gleich noch oben, verläuft ohne Schatten durch stumpige mediterrane Sträucher- und Baumhänge. Nach dem schweren Izoard und der großen Hitze, die ich ja fast schon nicht mehr gewohnt bin, fühle ich mich ziemlich schlapp. Ich habe heute einen sehr hohen Wasserverbrauch. Bei einer Verschnaufpause unter einem kleinen Baum im unteren Teil kommen die beiden Würzburger mit extrem hoher Trittfrequenz fröhlich den Berg hochgestürmt. Sie brechen gleich an einem ebenfalls sich schwer tuenden Rennradler vorbei, was diesen wohl recht frustriert haben dürfte. Sie sind zwar deutlich jünger als ich (Altersklasse 20+), aber so stark hatte ich sie auch wieder nicht eingeschätzt. Insgesamt sind jetzt doch viele Velofahrer unterwegs. Darunter ist auch ein Schweizer (50+) mit seiner 17-jährigen Tochter, die zwar immer etwas zurückhängt, aber als Transalpenradlerneuling stolz darauf sein kann, doch schon solche große Pässe bewältigen zu können. Meistens können junge Menschen aber konditionell mehr leisten als das die Alten ihnen zutrauen wollen. Mit dem Vater, der jedes Jahr über die Alpen zu seinem Ferienhaus in Fréjus fährt und die Pässe wie Izoard, Vars oder Bonette schon viele Male überquert hat, fahre ich ein Stück zwischen St. Marie und les Claux. Wir treffen uns noch mal auf der Passhöhe, wo auch die Mutter als Tourbegleiterin mit Auto wartet. Dort sitzen am Refuge Napoléon – ja, schon wieder der Bonaparte (diesmal aber keine Übernachtungsmöglichkeit) – auch noch die beiden Franken, die entweder lange Pausen gemacht haben müssen oder doch ein wenig eingebrochen sind. Der Col de Vars ist landschaftlich ein krasser Gegensatz zum Izoard. Nach les Claux markieren sanfte grüne Bergkuppen wie die Hügel eines übergroßen Golfplatzes die Horizonte. Kleine idyllische Weiher strahlen Bergruhe aus. Dass hier tatsächlich auch ein Golfplatz eingerichtet ist, stellt einen seltenen Glücksfall zwischen moderner Landschaftsnutzung und ursprünglichem Landschaftsbild dar. Die kraterartigen Bergkämme an der Passhöhe zeigen die geologische Verwandtschaft zum Izoard an. Dieser Teil enthält einige flachere Passagen. Zwar ist der Vars-Pass insbesondere im unteren Teil auch schwer zu fahren, ist aber insgesamt leichter als der Izoard. Während les Claux eine touristische Hochburg für Jetset- und Trendsportarten ist (Ski, Golf, Mountainbiking, Bungie Jumping), schmücken in Vars kunstvolle geschnitzte Holzbrunnen aus den Händen der lokalen Handwerkszunft das Dorfbild. Nach einer Crêpes am Refuge Napoleon begebe mich erstmals hinunter ins Ubaye-Tal. Zwar bin ich etwas spät für mein Etappenziel, aber die von unten martialisch wirkende Straße zum Col de Larche entpuppt sich als mäßig kletternde Route, die ein gutes Bergtempo erlaubt – was eigentlich für die gesamte Passstraße auf der Westseite gilt. Die Straße kann jederzeit gesperrt sein, weil sie von häufigem Steinschlag bedroht ist. Über die gerade gezogene Straße am offenen Hang der Bergkette entlang kann ich bereits früh die Passhöhe erahnen. Es ist gerade dämmerig, als ich in Larche auf dem schön im Tal gelegenen Campingplatz mein Zelt aufschlage. Ich muss mich für das Essen beeilen und erhalte in der an der Passstraße gelegenen Auberge ein leider miserabel zubereitetes Steak mit Buttermakkaroni, ohne jeden Pfiff und Frankreich nicht würdig. Zu meinem Leid kann ich nicht mal nach der Top-3-Höhenmeter-Etappe duschen, weil im Camping die Brausen um 22 Uhr geschlossen werden. Ein bisschen war die Situation wie in Lienz – nur dass hier die Kälte der Nacht auf der mit einer Schweißkruste benetzten Haut doppelt fröstelnd wirkt. Fr, 15.7. Larche – Col de Larche (1948m?/1991m?) – Vinadio (895m) – Col de la Lombarde (2350m) – Isola (870m) – St. Etienne-de Tinée (1144m)[96 km – 6:30 h – 14,1 km/h – 2121 Hm] Morgens sehne ich mich dringend nach der Sonne, die aber in dem ungünstigen Winkel zu den Bergrücken erst spät ihre ersten wärmenden Strahlen verbreitet. Allein die Morgenkälte verhindert eine Abreise vor 9 Uhr. Dann aber stürme ich recht energisch der Passhöhe entgegen, bin sogar bald durchgeschwitzt. Eine Läuferin joggt recht flott auf der Straße, auch eine besondere Leistung in der Höhenluft. Die Gegend ist ein beliebtes Wanderziel und einige stechen schon jetzt mit Stock und Stiefel in die Bergwiesen hinein. Der Reiz der Landschaft liegt in den lieblichen Wiesen, auf denen bei genauem Betrachten eine vielfältige Flora gedeiht. Der Col de Larche, von den Italienern Colle della Maddalena genannt, ähnelt dem Col de Vars. Hundert Meter unter dem Pass liegt bereits auf italienischer Seite ein Restaurant gegenüber einem verträumten See, in dessen reinem Wasser jeder Blick am Grunde magisch verweilt und die gesundete Seele wieder wohltuend ruhig auftaucht. Im oberen Teil der Abfahrt muss ich auf einige Rinnen und Straßenunebenheiten besonders gut aufpassen. Dann läuft es sehr gut in der blendenden Kulisse des Valle di Stura. Neben der Straße plätschert, sprudelt und rauscht das Wasser, das Sonnenlicht leuchtet, bricht und schimmert an Wasser, Blumen und Blattwerk – kurz, die Natur strahlt mit überschäumender Pracht. Es ist jetzt in der starken Sonne heiß, verlockende Badestellen verkneife ich mir so früh. Nach einer kleineren flachen Passage zum kräftigen Strampeln zweigt aus dem Stura-Tal noch vor der Ortseinfahrt von Vinadio die Straße zum Col de la Lombarde ab. Im Tal versorge ich mich mit Paninis, denn die gesamte Auffahrt führt durch Niemandsland. Bereits in den untersten Kehren heizen heftige Steigungen ein, 11-13% sind Standard. Trotz schattiger, teils gänzlich die Straße überspannender Gewächstunnels fließt der Schweiß in Strömen. Die Straße ist extrem schmal, zwei Autos kommen an vielen Stellen nicht aneinander vorbei, der Belag ruppig und wellig, eine Abfahrt ist auf der Ostseite gefährlich, obwohl mir auch hier wenige Rennradler halsbrecherisch entgegen schießen. Ein Vergleich zur Westpassage am Staller Sattel ist angebracht, dort gibt es aber die unfallverhindernde Ampelregelung. Der farbenprächtige Pflanzenwuchs mutet fast tropisch an. Erst verdeckt, später offen fallen die Wasserkaskaden über große Steinblöcke neben der Straße ins Tal. An dem seinem Ruf als Geheimtipp alle Ehre machenden Pass sind doch etliche Radler unterwegs. Zu unterst überhole ich ein nettes italienisches, aus der Gegend kommendes Paar, sie mit super-sexy Outfit, beide schwer kämpfend, aber mit Beißerqualitäten. Später bei einem verlassenen Refugio, wo ich eine längere Pause einlege, fahren sie dann an mir vorbei und kommen mir im oberen Teil nochmals später wieder entgegen (sie sind nur zum Pass gefahren und wieder retour). An dem verlassenen Refugio kommen noch einige Radler vorbei, unter ihnen auch ein paar Tourenbiker. Als Bade- und Liegestelle ist der Ort weniger geeignet im Vergleich zu Stellen weiter unten oder weiter oben, aber ich habe hier fast mitten am Berg dringend Erholung nötig. Ich lerne einen Darmstädter Tourenradler kennen, der zwar weniger Gepäck, aber ein ungewöhnlich schweres Rad hat, sodass mein Gefährt insgesamt kaum mehr wiegt. Er ist auf dem Weg zum elterlichen Ferienhaus in St. Tropez – das scheint eine große germanische Radl-Kommune an der Côte d’Azur zu sein, die ich da im Laufe der Tour kennen lerne. Schon nach einer kleinen Flachpassage mit Zwischenabfahrt über das sich mit sumpfigen Wiesen zur Hochebene ausbreitende Tal bleibt der Hesse aber zurück. Trotz der Bergwelt liegt hier auch noch einer belebter Ort. Von Santuario di Santa Anna, über eine abzweigende Straße zu erreichen, dringen laute Musik und Partystimmung durch die heiße Nachmittagsluft auf den Gegenhang, an dem ich mich wieder bei heftiger Steigung weiter hoch kämpfe. Der lichte Bergwald mit Lärchen und Kiefern liefert erneut Abwechslung. Dann treten die offenen Bergwiesen hervor, die in weitgezogene, öde Geröllhänge übergehen. Bis jetzt habe ich mich stark gefühlt, habe dem extremen Berg gut getrotzt. Doch nun quäle ich mich etwas zermürbt zur Passhöhe, die greifbar nahe scheint, aber durch die ausladenden Schleifen noch ein gutes Stück entfernt ist. Am provisorischen Kiosk auf dem Col de la Lombarde nehme ich ein Stück Kuchen. Nach Süden erstreckt sich eine nicht enden wollende Kette der kahlen Seealpen aus Sand und Stein – abweisend, unnahbar. Bereits in Frankreich, ist der Straßenzustand zunächst schlecht, ständig greife ich zur Bremse. In dem wenig attraktiven Skiressort Isola 2000 beginnt eine breit ausgebaute Straße ins Tal, die die Wintertouristen bequem in die Höhe bringen soll. Trotzdem gibt es auch hier scharfe Kurven und es besteht die Gefahr dem Geschwindigkeitsrausch zu erliegen. Vorsicht ist geboten, sonst fliegt man aus der Kurve! Das Tal ist durch Nadelwald gekennzeichnet, Wiesen mit weidenden Schafen und Kühen lichten hin und wieder das Dunkle. Die Landschaft ist gleichförmiger und weniger aufregend als auf der Ostseite. Nach einer kleinen Schlucht erreiche ich das nette Örtchen Isola. Mit der Kehrtwende nach Norden im Val de Tinée geht es nur leicht ansteigend mit leichtem Rückenwind gut voran. In der tief stehenden Abendsonne liegen schon etliche Passagen im Schatten. Es gibt sogar einen intensiv grün markierten Radweg, was aber wenig Sinn macht, weil die Straße ausreichend Platz hat und nur spärlich befahren ist. Vor St. Etienne-de-Tinée gibt es zur Hauptstraße eine Alternative näher am Fluss entlang, auf beiden Strecken muss man jedoch eine kleine Rampe überwinden. Das Etappenziel ist ein noch gut besuchter, charmanter Basispunkt für die folgende Himmelsfahrt. Am Camping mit künstlichem Badesee bleibt die Nachtluft mild. Das Essen ist recht mäßig, aber es gibt etliche Alternativen, wo der eine oder andere vielleicht mehr Glück hat. Sa, 16.7. St. Etienne-de-Tinée – Col de la Bonette-Restefond (2802m) – Barcelonnette (1136m) – Col d'Allos (2247m) – Colmars[103 km – 8:37 h – 11,8 km/h – 2789 Hm] Wie am Fuße dieses in den Augen eines jeden Radlers magischen Berges nicht anders zu erwarten, sind noch mehr Velotisten hier am Zeltplatz versammelt. Ein Paar hat eine Hängerlösung gewählt. Der Mann hat an sein Rennrad einen Einradhänger, auf dem das Gepäck verstaut wird. Es würde mich einmal reizen auszuprobieren, ob ein leichtes Rennrad mit dem Hänger eventuell einen Vorteil gegenüber dem bepackten Reiserad bietet und wie sich das Gefährt bei rasanten kurvenreichen Abfahrten verhält. Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass das einseitig auf hinten konzentrierte Gewicht leichter den Berg hochzufahren ist – gleiches Gesamtgewicht einmal vorausgesetzt. Ob die anderen Radfahrer mir noch nachfolgen oder bereits die höchste asphaltierte Alpenbarriere auf dem Weg nach Süden überwunden haben, werde ich nicht mehr erfahren. Ich beginne die Fahrt um 6:50 Uhr, während die anderen noch schlafen. Noch ohne Sonne, aber bei ausgesprochen mildem Klima gehe ich die ersten leichten Steigungen an. Das Tal ist eng, die Vegetation dicht und leuchtend grün. Teils bin ich auf gleicher Höhe zur Tinée, teils fahre ich weit oberhalb in einer Schlucht. Wasser bricht überall aus den Steinen, fließt teils über die Straße, die Strahle der Kaskaden und Wasserfälle ziehen wie ungeordnete Messlatten an mir vorbei, die die Höhenmeter der Serpentinen in rauschender Phonstärke anzeigen. Autos fahren nur wenige, das bleibt auch den ganzen Berg über so. Dieser abwechslungsreich romantische Teil ist schnell zu Ende. Kurz vor La Praz mit dem vorletzten Restaurant/Bar öffnet sich Bergwelt zwischen steilen Geröllhängen. Ich möchte etwas frühstücken, doch außer Kaffee gibt es noch nichts. Die Küche, der Karte nach gibt es gute raffinierte Gerichte, wird täglich mit frischen Lebensmitteln beliefert und es ist noch zu früh – auch für einen kleinen Sandwich. Meine Müsliriegel und eine Banane müssen aushelfen. Auch bei der letzten Bar bin ich zu früh, sie öffnet erst um 14 Uhr. Hier kann ich schon fast den gesamten Berg einsehen, die bevorstehende Arbeit in weiten Serpentinen hinauf zu dem Platz, wo die Engel nur noch ein paar Stufen hinabsteigen müssen, um den Boden Mutter Erde zu betreten. Es ist ein große Einöde, kaum Autos, zeitweise bedeckter Himmel und die größte psychische Herausforderung, mit Geduld die Langsamkeit zu ertragen, mit eisernen Willen die schwindenden Kräfte zu überwinden, die Natur respektvoll zu genießen und schließlich den Kampf zum Sieg über diese enorme Barriere zu führen. Einige wenige Rennradler pirschen sich heran. Der ganze Berg ist einsehbar und ich übe mich darin zu schätzen, wie viele Kehren ich vorwärts komme, bevor ich eingeholt werde. Obwohl ich noch ein paar Kohlehydrate vermisse, breche ich nicht ein. Ich fühle mich ziemlich stark, sehe mich auf dem Weg zur Krönung, gewinne dadurch neue Power, pusche mich selber. Der Rhythmus ist gut, das Tempo auch, die Steigung nicht zu schwer. Einige Motorradfahrer grüßen enthusiastisch, motivieren zusätzlich – Danke! Außenstehende können gar nicht nachvollziehen, wie viel positive Kraft von den Aufmunterungen ausgehen, die mir Autofahrer, Motorbiker oder Radler zuwinken. Und weil das in Frankreich die motorisierten Zweibeiner am häufigsten tun, fühle ich mich auf dem dortigen Asphalt auch am wohlsten. Der deutsche Automobilist neigt leider dazu, den Radler als Konkurrenten zu betrachten, der ihn behindert und den es gilt, von der Fahrbahn zu vertreiben. Motorradfahrer sind aus allen Nationen immer etwas netter, obwohl sie mit ihren oft lärmenden Begleiterscheinungen auch ein Gräuel für den Drahteseltreter sein können. Als Zwischenziel zum Verschnaufen komme ich zu längst verlassenen und verfallenen Kasematten und Garnisonshäusern, die bereits im 19. Jahrhundert an dieser als Militärstraße gebauten Strecke der Verteidigung der Grenze zu Italien dienten. Die steileren Passagen des Passes liegen im oberen Teil. Dort lugt die Sonne immer öfters hervor und verbessert die fantastischen Panoramablicke auf kraterartigen Berge nach Norden an einer Gratstelle. Das Ziel ist nun greifbar nah. Der ganze Südhang im Blick führt noch einmal das bisher Geleistete vor Augen. Der vulkanisch anmutende Kegel des Cime de la Bonette türmt sich wie ein außerirdischer Ameisenhügel im Auge auf. Dann ist da plötzlich der Durchbruch durch eine kleine Felswand. Auf der anderen Seite geht es gemäßigt runter. Der Col de Restefond ist hier der echte Pass – „lediglich“ 2678 m hoch. Nun, in Fachkreisen ist das längst bekannt. Von hier aus hat man aus touristischen Gründen eine kühne Asphaltschleife um den Cime de la Bonette gebaut, die auf der Nordseite 2802 m hinaufführt und von dort wieder auf der Südseite erneut zum Ausgangspunkt, dem Col de Restefond, herunterführt. Nur in dieser Richtung ist die Schleife auch befahrbar, denn es handelt sich um eine Einbahnstraße. Dieser asphaltierte Übergang wird als höchster Straßenpass in den Alpen und „Top of Europe“ zelebriert, obwohl er nach strengen Kriterien kein echter Pass ist. Für die geleistete Kurbelarbeit ist das genauso unerheblich wie der Umstand, das die höchste Straße Europas bei Granada auf 3000 m über die Sierra Nevada führt (aber auch kein echter Pass ist). Diese letzten Höhenmeter sind mit das Steilste von der ganzen Auffahrt, aber hier spüre ich keinen Schmerz mehr. Das Ziel bläst alles Wehleidige aus dem Körper. Die Radfahrerdichte nimmt plötzlich zu, denn Einzelfahrer und ein größere Gruppen kommen von der Nordseite rauf und teilen nun mit mir den gleichen Weg. Einige haben entstellte Gesichter, später auf der Abfahrt begegnen mir einige, die wie vom Tod geweiht sich hin und her wiegend hinaufquälen oder mit zweifelndem Blick am Straßenrand stehend den Gipfelpunkt suchen. Dann ist es geschafft, 2802 m – „Top of Europe“, höchster Punkt meiner Veloreisen. Ein Steinzapfen zollt dem Erbauer der Straße Tribut, dahinter fällt der Berg schwindelerregend ins Tal ab. Gegenüber geleitet eine gut begehbare Treppe zum Gipfel, der nur 60 Meter höher liegt und den ich nicht mehr besteige, denn mehr Panorama als auf meiner Fahrt geht nicht. Keiner der Radler tut es, es ist das Highlight für die Autofahrer, die sich hier ein wenig die Beine vertreten können. Kein Kiosk, kein Restaurant, kein Hospiz. Für eine 12-köpfige Radfahrgruppe, Deutsche und Schweizer, stehen Getränke bereit, die in einem Begleitauto herangeschafft wurden. Einer träumt bereits von nur noch einem Höhepunkt: dem Sprung ins Meer in Nizza. Hätte ich hier erzählt, dass ich heute noch einen weiteren 2000er überwinden möchte, es hätte sie wohl umgehauen oder mir ohnehin keiner geglaubt. Zwei bayrische, zerknirschte, nicht gesprächige Reiseradler erklimmen den Berg, weitere Nationalitäten auf dem Rennvelo stoßen hinzu, Holländer, Franzosen. Das kleine Südstück auf der Schleife rausche ich hinunter, alle Anspannung löst sich, das Adrenalin bricht heraus – Jubelschreie, die Siegesfaust. Ab dem Col de Restefond gleite ich bei geringem Gefälle nach unten, dann wird es steil, die Straße in sehr gutem Zustand, Rochieren auf dem Sattel um die Kurven zu nehmen, Abfahrtsfeeling pur. Die herrlich leuchtenden Bergwiesen sind unter 2300 m leicht von Wasser durchflossen, es gibt mehr Vegetation als auf der trockenen Südseite. Ein schöner See lockt viel Bergwanderer an, viele entspannen sich auf den Wiesenteppichen unter der nun kräftigen Sommersonne. Bei 2000 m blicke ich auf ein Chalet mit Restauration. Eigentlich wollte ich ja etwas essen, doch kaum habe ich wieder eine Kehre durchjagt, sehe ich keinen Zugang mehr, zu schnell fliege ich vorbei und die Gelegenheit dahin. Nach unten hin wird es zunehmend heißer, die Luft flimmert über den Wiesen und dem Vallée de l’Ubaye, das ich nun zum zweiten Mal erreiche. In Jausiers nehme ich dann endlich ein Sandwich vom Imbissstand, etwas Joghurt und ein paar Früchte aus dem Supermarkt zu mir. Dort treffe ich zwei junge, noch unbekümmerte deutsche Reiseradler, mindestens so dick bepackt wie ich. Sie drehen ein Schleife durch die französischen Alpen, wollen auch Offroad-Pässe wie den Col de Parpaillon meistern, campieren wild häufig in der Nähe der Passhöhen – wieder mal Asketen auf zwei Rädern. An der Ausfahrt von Jausiers entdecke ich eine dieser Verkaufsstellen, die durch den genossenschaftlichen Verkauf von Regionalprodukten die heimischen Bauern und Kunsthandwerker stützen. Solche Shops findet man in allen Regionen Frankreichs. Die Produkte sind hochwertig und nicht billig. Ich erwerbe nur ein paar Spezialitäten und kleine Gegenstände, doch schon steigt mein Gesamtgewicht an und ich habe Mühe alles unterzubringen. Auf besonders schmackhafte Schoko-Orangen-Stäbchen kann ich jedoch genauso wenig verzichten wie auf ein Kokosgebäck. Bonbons mit Genepy und ein Minifläschchen von diesem im westlichen Alpenraum populären Bitterschnaps sind schon als Reisemitbringsel gedacht. Der in verschiedenen Arten (gelb und klar) und Qualitätsstufen hergestellte Genepy enthält nur die Extrakte von Edelrauten aus einer Höhe von über 1600 m. Er liefert u.a. raffinierte Nuancen für Desserts, Konfiserieprodukte und Fleischmarinaden, dient aber insbesondere als verdauungsfördernder Aperitif. Ein wenig matt und müde schleiche ich mich durch das nun eher flache Tal nach Barcelonnette, ein sehr lebendiges und schmuckes Städtchen. Wimpelfähnchen schmücken die Hauptstraße und engen Nebengässchen. Es ist gerade Jazzfest, neben den gesetzten Konzerten am Abend – darunter der schmissige Slap-Bass-Heroe Marcus Miller – spielen auch tagsüber in den Gassen und Restaurants Gruppen auf. Um solche Events auszukosten, müsste ich allerdings große Zeitverluste bei meiner Tour in Kauf nehmen, was ich dann doch lieber vermeide. Meine Versuche, Aufkleber noch nachträglich für den Col du Galibier und im Voraus für Allos und Cayolle zu erhalten, scheitern trotz der vielen Souvenirläden. Sowohl Allos wie Cayolle erreicht man zunächst über die gleiche Zufahrtsstraße. Dann gabelt sich die Straße, der Cayolle verschwindet in ein enges, lichtarmes Tal, während die Auffahrt zum Col d’Allos sich kühn und verwirrend am Hang entlang und über tiefen Abgründen, von Viadukten überbrückt, zu meiner Linken unter der späten Nachmittagssonne entlang schlängelt. Nach einigen kleine Stopps, die noch auf die hitzebedingte Erschöpfung zurückzuführen sind, finde ich dann doch in einen guten Rhythmus hinein. War ich einen Kilometer zuvor im Zweifel, ob ich überhaupt noch einen dicken Berg schaffen kann, spüre ich jetzt eine erstaunlich große Energie. Ich erhöhe das Tempo, schweißüberströmt und entschlossen pusche ich mich nach oben. Weiter oben wird es steiler, die Energie ist nun fast aufgebraucht, leichte Winde bremsen zusätzlich. Nach einem Wald mit knorrigen Kiefern, Fichten und Eschen, oben vermehrt Lärchen, schaffen grüne Berghügel einen Fahrkanal. Damit erreiche ich die Passhöhe, ein paar Meter zuvor liegt eine Gaststätte. Das faszinierende Rundumpanorama geht seinem Höhepunkt entgegen – dem Sonnenuntergang. Dafür haben sich einige Touristen mit Klappsesseln auf den Bergwiesen postiert. Ein jugendlicher Franzose, der mich zuvor noch mit dem Mountainbike überholt hatte, reagiert etwas ungläubig als ich ihm sage, dass ich auch den Restefond-Bonette heute schon gemeistert habe. Schnell bin ich in Foux d’Allos, einem typischen Wintersportort, viele Hotels, Lifte nahe der Straße, aber ohne Charme. Es folgt eine gemäßigte Abfahrt bis Allos, wo durch eine Kirmes viel Betrieb herrscht. Der Ort hat ein angenehmes Flair, kleine Hotels sind vorhanden, aber kein Camping. Daher fahre ich doch weiter, in Wellen gibt es Passagen, in den ich einen kräftigen Abwärtsschub bekomme. So erreiche ich noch ausreichend für das übliche Abendprogramm Colmars mit seinem Fort aus dem 17. Jahrhundert, das man zuerst von oben kommend erblickt. Der Camping liegt wenig unterhalb des Ortskerns in einer Wiesenmulde. Das Mädchen, welches mit mir abrechnen soll, würde mit den Rechenkünsten bei jeder Pisa-Studie durchfallen. Die 50 Cents, um die sie sich zugunsten des Campings unabsichtlich verrechnet, haben die Betreiber trotzdem verdient, denn es geht um einen Betrag zwischen sechs oder sieben Euro. Der Ort hat ein sehr nettes, geschlossenes Ortsbild, das Essen ist ordentlich, aber ohne französische Raffinesse. So, 17.7. Colmars (1269m) – Col des Champs (2045m?/2087m?) – Guillaumes (798m) – Col de Valberg (1673m) – Beuil – Gorges du Cians – Puget-Théniers[96 km – 6:59 h – 12,4 km/h – 1793 Hm] Wenn auch der Himmel klar ist, fallen die ersten Sonnenstrahlen wegen der umliegenden Berghänge erst spät auf den Platz. Im kühlen Grunde hat sich die Feuchtigkeit auf die Zeltplane gelegt. Der Start verzögert sich demzufolge auf 8 Uhr, Gebäck und Croissants besorge ich mir aus einer Bäckerei. Der Abzweig zum Col des Champs liegt am oberen Ortseingang und wirkt so unscheinbar wie eine private Grundstückszufahrt. Da der Pass nur eine Querverbindung zwischen den beiden parallelen und nicht weit voneinander getrennten Nord-Süd-Routen von Cayolle und Allos ist, hat er nur eine sehr untergeordnete Bedeutung. Die Straße ist entsprechend schmal und zuweilen in schlechtem Zustand, eignet sich auf beiden Seiten für bedingungslose Abfahrten nicht. Die Westseite verläuft lange durch Schatten spendenden Wald. Zunächst fahre ich an einer talseitigen Allee von Ahornbäumen entlang, die aber fließend in einen Mischwald übergeht. Später bestaune ich die Lärchenbäume, die über dem Boden einen gebogenen Unterstamm haben, um so am steilen Berg alsbald gerade in die Höhe wachsen zu können. Sonnenstrahlen suchen sich einen Lichtschlitz durch die Baumkronen hindurch und erreichen über atmosphärisch wirkungsvolle weiße Strahlmuster den Waldboden als sei hier eine geheimnisvoll verschleierter Feenwald. Sehr schnell steigt die Straße, 12 km mit vielen 12%-Passagen stehen bis zum Sattelpunkt an. Von einem Picknickplatz aus kann man Colmars wunderbar in seiner runden, Schutz gebenden Häuseranordnung aus der Vogelperspektive ins Auge fassen. Ich kämpfe bereits früh um einen guten Rhythmus, der sich aber nicht einstellen will. Auch die Hitze ist heute früher als sonst zu spüren. Ich muss übermäßig viele und lange Verschnaufpausen einlegen, erreiche die Passhöhe schließlich über eine halbe Stunde später als prognostiziert. Der Col des Champs gleicht der grünen Hügellandschaft des Col de Vars, wenngleich alles etwas wilder und urtümlicher wirkt, was eine Folge der geologisch interessanten, aus den Berghängen hervortretenden Erosionsschichten ist. Es gibt hier weder Bistro noch Kiosk. Ein paar italienische Motorradfahrer aus der Gegend südlich des Monte Rosa sind ganz begeistert, als ich ihnen berichte, dass ich auch die italienischen Alpen von den Dolomiten über das Stilfserjoch bis zum Aostatal abgeradelt habe. Die Ostseite ist im oberen Bereich offener, viele eigentümliche Bergblumen sorgen für weitläufige sommerbunte Wiesen. Einige Wanderer nutzen den Sonntag für eine Exkursion in die Bergflora. Die Abfahrt ist schwierig. Bei starkem Gefälle hat die Straße zahlreiche Rippen, Schwellen für den Wasserabfluss und Viehgitter, die wie kleine Sprungschanzen wirken. Im unteren Bereich gibt es eine Verzweigung, man kann beide Varianten wählen. Von einem Refugio mit Kinderattraktionen schwärmen zahlreiche Wanderer aus. Die Abfahrt wird durch eine Flachpassage und durch leichte Gegenhänge unterbrochen, kurz vor St. Martin-d’Entraunes ist es dann nochmal steil auf gutem Fahrbahnbelag. Schon den kleinen Ort im Auge, lohnt sich ein Stopp an einer schattigen Wasserquelle um die Trinkvorräte aufzustocken. Auf der nun mäßigen Abfahrt mit Flachstücken entlang der Var, die schwarzes Sedimentgestein mit sich trägt, habe ich das Gefühl, als würde ich mit einem Heißluftfön behandelt. Jetzt noch Klamotten zu tragen ist eigentlich Unfug, es sei denn zum Sonnenschutz. Trotzdem mache ich keine Badepause, weil ich riskiere mein Etappenziel zu verfehlen. Die schlechte Performance am Morgen stimmt mich pessimistisch. Für den auf dem Papier „kleinen“ Col de Valberg habe ich immerhin noch 800 Hm zu überwinden. So nehme ich auf der Straßenterrasse eines Restaurants im brütend heißen Guillaumes ein leichtes Bruschetta zu mir. Der erhoffte Kraftschub bleibt jedoch aus. Die Südtrasse ist ganz der prallen Sonne ausgesetzt und steigt stetig kräftig an ohne Erholungsphasen. Wieder pausiere ich häufig abgekämpft unter Restschatten von kleinen Bäumchen am Straßenrand. Die Route ist zudem landschaftlich wenig abwechslungsreich, zieht sich teilweise an einer aufgeheizten Felswand entlang, das einzige Wasser ist ein dünner Bergbach weit unten im Tal. Ich ärgere mich schließlich, nicht die ein Kilometer längere Route über Péone eingeschlagen zu haben, die vielleicht ähnlich trocken verläuft, aber zumindest verkehrsärmer ist. Der viele Verkehr hier hat eine Ursache. Die Passhöhe ist identisch mit dem Wintersportort Valberg, in dem es aber auch im Sommer allerhand kommerzielles und künstlich animiertes Treiben gibt. Ein Sessellift ist im Betrieb um kleine und große Kinder zur Bergrutsche zu bringen. Man kann Kutsche fahren, Inlineskaten, Minigolf spielen, überall sind Eisdielen und Souvenirshops, man sitzt im Trubel. Mountainbiker schießen quer zu den überlaufenden Gehwegen und müssen von der Gendarmerie zur Disziplin ermahnt werden. Ich verschaffe mir mit einem Eis innere Abkühlung und hoffe auf erfrischende Abfahrtswinde. Richtung Beuil ist das Gefälle aber noch gering. Ziemlich ordinäre Weidewiesen überziehen ein kleines Hochtal. In Beuil ist noch mal ein Brunnen zum Auftanken. Was nun kommt, ist nicht weniger als ein Weltwunder! Noch ein paar Kurven durch Wiesen hin zur Cians, die unauffällig neben der Straße dahinströmt und dann beginnt eine unvergleichliche Welt aus rost-rotem Stein. Abbrüchige Felsen ragen unmittelbar neben der Straße senkrecht in die Höhe, wasserdurchflutete Mooswände schaffen feuchte Kontraste. Die Gorges du Cians zieht sich wie ein enger Schlauch, die Sonne, kaum dass sie nicht mehr im Zenit steht, bleibt hier von Felsen verdeckt. Dann immer wieder Tunnels und Torbögen aus diesem roten Fels, die Cians rauscht über ebensolch gefärbte Steinblöcke. Die Fahrt ist rasant, berauscht, ja betört. Die Blicke gehen steil nach oben und ich muss mich zur Sicht- und Fotopause zwingen. Wundern, staunen – Wow! Im untersten Teil bleiben die Felsformationen in der Form gleich, sind aber nur noch im üblichen Grau. Noch mehr Moos, noch mehr Feuchte, der Fluss zum Bad einladend. Hier hätte ich die Mittagshitze gut überstanden. Das flache Tal der Var bis Puget-Théniers (und weiter bis Annot) kenne ich bereits aus meiner Tour 2002, damals vom Col de Turini kommend und zur Verdon-Schlucht fahrend. Das FKK-Camp „Club Origan“ erreicht man über einen Abzweig am Ortsausgang, kurz vor der Brücke und über die Bahngleise. Nach zwei welligen Kilometern führt eine derart steile Rampe in das Camp, dass mir die Zunge an der Rezeption heraushängt. Und es sind tatsächlich volle 100 Hm von Puget-Théniers aus. Vom Zelt aus habe ich eine sehr schöne Aussicht auf das Var-Tal. Zeltnachbar ist eine nette italienische Familie. Für die freizügige Romantik zahle ich 28 € pro Nacht – ein rekordverdächtiger Preis für einen Zeltplatz. Im Camp gibt es ein Restaurant, das ordentliche Gerichte serviert, aber auch ohne besondere Finessen. Mo, 18.7. Puget-Théniers (Ruhetag)[13 km – 0:53 h – 14,5 km/h – 101 Hm] Wenn insgesamt der Sommer auf meiner Tour zu wünschen übrig lässt, so habe ich mit den Ruhetagen besonderes Pech. Eingerahmt von zwei tollen Hochsommertagen ist es ausgerechnet heute stark bewölkt, erst spät am Nachmittag gibt es ein paar Wolkenlücken. Bis in den Nachmittag hinein regnen immer wieder kleine Schauern ab, die Luft bleibt aber mediterran mild. Durch den Regen und fehlenden Wind trocknet meine morgens gewaschene Kleidung nur teilweise bis zum nächsten Morgen. Nach der Waschaktion durchstreife ich die Macchia der hinter dem Camp aufsteigenden Berghänge auf einem markierten Pfad, den man nackt erwandern kann. Immer höher steige ich über das Var-Tal in Adlerhöhen. Wieder unten zurück verweile ein bisschen am Pool, später nehme ich noch ein kurzes Bad am Camp-eigenen Strand in der Var. Vom Camp geleitet dazu ein schwierig zu begehender, glitschiger Pfad entlang eines Rinnsals zum Fluss. Das sandige und steinige Sediment der Var ist aschgrau bis schwarz. Nur wenige Stellen eignen sich zum Eintauchen, die Strömung ist zu stark oder die Flusssteine sind zu klitschig um durch den Fluss zu waten. Außer zwei fröhlichen Holländerinnen findet sich auch niemand mehr für das bisschen Abendsonne ein. Am Abend suche ich dann verzweifelt einen Kugelschreiber um meine Reisenotizen weiter schreiben zu können – der Shop im Camp hatte den ganzen Tag geschlossen. Als ich in Puget-Théniers eintreffe, haben die Geschäfte schon geschlossen. Umso erfreulicher ist dann, dass mir die Frau in der Tankstelle am östlichen Ortseingang einen Kugelschreiber umsonst überlässt, obwohl ich sonst nichts kaufe. Zurück im Ort schlendere ich durch die alten engen Gassen, die teils als Halbtreppen angelegt sind. Besonders eindrucksvoll sind die mehrstöckigen Hausbrücken, die über einige Gassen wie Torbögen gebaut sind. Die Gebäude des alten Ortskerns stammen aus der Renaissancezeit und sind immer noch bewohnt, obwohl manche Fassade ziemlich brüchig erscheint. Ein süßes Bild geben die Katzen ab, die sich jeweils auf einer anderen Treppenstufe als Fotomodelle positioniert haben. Ein wirkungsstarkes Fotomotiv ist schließlich noch ein Brunnen mit einem leicht gekrümmten T aus Holz, von dem mehrere, nach unten größer werdende Steinovale, ähnlich wie Curlingsteine geformt, an einem Seil herunterhängen, über die das Wasser herunter fließt. Ich kann mich schließlich nicht entscheiden bei der schwülen Luft in ein geschlossenes Restaurant zu gehen, das laut Karte raffiniert zubereitete Gerichte anbietet. So esse ich lieber freizügiger im Restaurant des Camps, wo aber im Vergleich zum Vorabend es lärmend und voll ist. Es gibt einen Partyabend mit einem Einheitsmenü „Couscous“, ein Aperitif, ein Tellergericht mit Kuskus und verschiedenen Sorten Fleisch, eine Karaffe Wein und ein Dessert. Es ist zwar billig, aber auch wenig schmackhaft. Der DJ arbeitet mit Desktop und Soundfiles, womit er zwar einige Mädels beeindrucken kann, aber die Musikübergänge – das sage ich als ehemaliger Gelegenheits-DJ – sind grottenschlecht. Weil die Disco-Zone auf der halboffenen Terrasse fließend in das Restaurantareal übergeht, ist es außerdem zu laut für den Essbereich. Da ist die Ruhe am Zelt mir doch ein höheres Gut. Di, 19.7. Puget-Théniers (418m) – P.d. Gueydan – Gorges de Daluis – Guillaumes – Col de la Cayolle (2326m) – Gorges du Bachelard – les Thuiles – le Lauzet-Ubaye[115 km – 8:14 h – 13,7 km/h – 2008 Hm] Etwas übermüdet gelingt mir die Abreise erst um 7:30 Uhr. Keine Wolke trübt den Himmel, der Sonnentag bleibt den ganzen Tag. Bis zur Pont de Gueydan durchfahre ich noch mal bekanntes Terrain. Das Wiedersehen mit der Festungsstadt Entrevaux (Bild aus 2002) ist aber auch im Morgenlicht eine Augenweide (damals war es abendlicher Etappenort). Der alte Ortsteil mit Rundtürmen direkt über der Var ist nur über eine alte Steinbrücke erreichbar, oben am Berg von einer mächtigen Festung flankiert. Kleines Frühstück in der Morgensonne. An der Pont de Gueydan macht die Var einen scharfen Knick und geht von dem zuvor enger gewordenen Tal überraschend in eine weite Flussaue über. Die erwartet enge Schlucht beginnt erst nach Daluis, dessen Ortskern beschaulich über der Straße liegt. Nun steige ich stärker und alsbald tritt das graue Gestein gegenüber dem rostroten zurück. Aus der Vogelperspektive kann man die Grenze der Gesteinsfarben in der Flussebene besonders gut studieren. Bald leuchtet die gesamte Schlucht in Rot, verblüffende Felsformationen machen aus der Strecke ein Labyrinth, wobei die beiden Fahrspuren teils getrennt verlaufen, die in Südrichtung häufiger durch kleine Tunnels, die in Nordrichtung häufiger durch freie, senkrecht aufragende Felstürme. Dazwischen noch ein Brückenviadukt, das vom Schluchtende eine alternative Ostroute bis Guillaumes ermöglicht, allerdings auf schlechterer Fahrbahn. Die Straße der Gorges de Daluis verläuft im Gegensatz zur Cians-Schlucht weit über dem Flusslauf, ist trockener und der Sonne ausgesetzt, was in den Morgen- oder Abendstunden durchaus angenehm ist. Die Steigungen sind mäßig, dazwischen gibt es Flachstücke, nach Guillaumes geht es kurz runter. Manchmal tauchen die Felsen des Canyons so steil und tief hinab, dass man nicht auf den Schluchtgrund sehen kann. Wohl den Mauerseglern und Greifvögeln, die hier in solcher Kulisse zuhause sind. Einer Schlucht den Vorzug zu geben hieße auf ein Wunder mehr zu verzichten. In St. Martin d’Entraunes möchte ich etwas Kohlehydrate nachlegen. Doch in dem im Gegensatz zu Guillaumes sehr beschaulichen Örtchen kann ich mich nicht tourengerecht versorgen. Auch das einzige Hotel kann mir nichts für on the road anbieten. Ich müsste schon für ein richtiges Essen Platz nehmen, was ich aber hier direkt vor der nun steiler werdenden Passauffahrt nicht tun sollte. Letzter bescheidener Proviant hilft über das kleinste Energiedefizit hinweg. Zum Glück ist es heute nicht ganz so heiß wie zwei Tage zuvor, als ich das kleine Teilstück zwischen Guillaumes und St. Martin d’Entraunes schon in umgekehrter Richtung gefahren war. Im höher gelegen Entraunes, nur eine kleine Häuseransammlung gibt es dann ein Refugio mit Bistro, wo ich zwei gut belegte Sandwiches erhalte, die in den Bergregionen meist mit Graubrot und nicht wie sonst in Frankreich mit Baguette gemacht werden. Kurz vor Entraunes steigen aus einem Lieferwagen holländische Rennradler aus und beginnen hier ihren Aufstieg zum Col de la Cayolle. Vom Auto werden sie dann auf der anderen Seite in Barcelonnette wieder eingesammelt – so, so… – Umso erstaunlicher ist es daher, dass sie mich bis zu einem auf ca. 1600 m Höhe abzweigenden Wanderweg, wo ich zu einer 2-stündigen Bade- und Esspause aussteige, nicht eingeholt haben. Nur ein Paar fährt mir voraus, das ich aber auch bald passiere. In den kräftigen Kaskaden der Var haben sich hier zahlreiche Vertiefungen gebildet, die man zum Baden nutzen kann. Durch die noch großen Wassermassen ist es aber nicht ganz ungefährlich und außerdem sehr kalt. Zum Abkühlen aber allemal willkommen. Die Ursache des schwarzen Sediments der Var kann ich dann weiter oben erkennen: Alle Wasseradern, die den Fluss speisen, laufen über schwarzen, bröseligen Schiefer, der in kleinen Stücken abgetragen wird. Dabei bilden diese kleinen Wasseradern manchmal rund ausgeformte, schwarze Wannen und sorgen für Lava-ähnliche Berghänge zwischen Wald- oder Wiesenhängen. Auch in Estenc gibt es noch Unterkunftsmöglichkeiten und Essgelegenheiten. Etliche Ausflügler schauen mir Kaffee-trinkend oder Eis-schleckend bei meiner Mühsal zu. Hier liegt das Quellgebiet der Var, das durch einen kleinen See definiert ist, der das Wasser aus den überall durchflossenen Wiesen und weiteren Bergbächen aufsammelt. Das Wiesengrün weicht bald einem aufgelockertem Fichtenwald und Bergblumen in Rot, Blau und Gelb (Genepy), die sich dem windoffenen, steinigen Untergrund angepasst haben. Die faszinierenden Panoramablicke nach Süden verleihen mir neue Kräfte für die letzten Höhenmeter. Auf der Passhöhe ist es dann schon etwas kühl. Col de la Cayolle. 32. Tourtag. Der 32. (und letzte) 2000er! Die Kernleistung der Tour ist geschafft. Abschied vom Hochgebirge. Abschied von den Murmeltieren. Seufz. – Ich unterhalte mich mit einem österreichischen Motorradfahrer aus Gmunden auch über die Sichtweisen von Deutschen auf Schweizer und Österreicher und umgekehrt. Er sieht sein derzeit als Erfolgsmodell gehandeltes Heimatland durchaus kritisch. Der Biker möchte noch in kurzer Zeit durch die Schweiz entlang des Genfer Sees zurück nach Österreich und bittet mich um eine Routenempfehlung. Ich rate ihm den Weg über Grimsel-, Susten-, Oberalppass als die die landschaftlich abwechslungsreichste, Fahrspaß bringende und doch nicht zu schwierige Route. Der Col de la Cayolle ist ohne jeden Kommerz, etwas unterhalb der Passhöhe gibt es zwar eine Alm, aber so was wie einen Aufkleber kann ich hier und auch weiter unten nicht erhalten. Die schon weitgehend schattige Nordseite ist deutlich kühler. Etliche Wasserfälle begleiten die rauschende Abfahrt, dann muss ich plötzlich anhalten. Ein Räumfahrzeug schafft Schiefer und Geröll von der Fahrbahn, Wasser läuft über die Straße. Eine Furt ermöglicht eine einspurige Nutzung der Straße, der Berg ist teilweise mächtig abgerutscht. Jetzt erklärt sich mir der Hinweis auf einer Digitaltafel nach Entraunes, dass der Col de la Cayolle gesperrt sei. Da sowohl Autos weiterfuhren, ich mir das nicht erklären konnte und außerdem auch bei Baustellen oft noch ein Durchkommen für den Radfahrer möglich ist, habe ich den Hinweis ignoriert. Und schließlich kann ich tatsächlich ungehindert weiterfahren. Die Gorges de Bachelard ist sehr eng, wild und ungestüm, erinnert z.B. an den Rhein bei der Via Mala. Um nicht den Umweg über Barcelonnette zu fahren, schlage ich die Abkürzung Richtung le Lauzet-Ubaye ein, die allerdings mit einem leichten Auf-und-Ab etwas höher als die D 900 verläuft. In Thuiles stoße ich dann auf die verkehrsreiche Route. Erst bremst ein bissiger Gegenwind, dann fällt die Straße doch noch so stark ab, dass ich bequem bis le Lauzet-Ubaye rolle. Das Ubaye-Tal, in das ich nun schon das dritte Mal gelange, ist auch von hohen Bergrücken umragt, sodass die Sonne recht früh verschwindet. Entsprechend kühl wird es auf dem Campingplatz, ein sehr einfach ausgestatteter an der Ortseinfahrt. Im Ort gibt es mittelalterliche, nieder gebaute Häuserzeilen, auch wieder mit kleinen Hausbrücken über die Gassen. An der Hauptstraße – mancher LKW donnert laut vorbei – speise ich sehr gute regionale Küche auf einer Gartenterrasse. Mi, 20.7. le Lauzet-Ubaye (906m) – (1112m) – Tallard – Plan-de-Vitrolles (580m) – Barcillonnette – Col d'Espréaux (1142m?/1160m?) – Veynes – Aspres-s-Buech (755m) – Col de Cabre (1180m)[104 km – 7:20 h – 14,1 km/h – 1235 Hm] Am Morgen ist es saukalt, die Sonne ist bei der Abreise um 8 Uhr noch nicht auf dem Platz. Mir fehlt die Bewegungsenergie und ich suche erst mal eine Bäckerei auf, was die Abreise schließlich auf 8:30 Uhr hinausschiebt. Meine Route verläuft zunächst stärker aufwärts als erwartet bis ich einen Aussichtspunkt über dem großen Stausee Serre-Ponçon erreiche. Von dort zweigt eine Straße zum nahen Col St. Jean nach Süden ab. Die D 900 entfernt sich vom Stausee und führt in einem Auf-und-Ab erst wieder unterhalb der Staumauer bei les Celliers zum Wasser der Durance zurück. Zuvor besuche ich in la Bréoule zwei Kunsthandwerker, wo ich ein paar kleine Mitbringsel erwerbe, darunter eine aus Leder geknautschte Schildkröte und eine Mini-Sonnenuhr, die als Symbol für die hier verlaufende Route der Sonnenuhren (von denen ich allerdings nur wenige gesehen habe) steht. Es ist schnell brütend heiß geworden und mich verlassen alsbald die Kräfte. Für eine Rast packe ich ein dickes Sandwich in Tallard ein, wo ein vieleckiges Schloss steht, in dem Konzerte und andere Kulturevents veranstaltet werden. Etwas zu früh abgebogen, lande ich auf dem Weg Richtung Barcillonnette noch in der Talebene an einem kleinen Bächlein, das zur Abkühlung und für die Rastpause reichen muss. Ich würde jetzt in der stechend heißen Sonne am Berg schmoren, obwohl die Lufttemperatur nicht ganz so hoch ist. Obwohl eigentlich noch zu heiß, zwinge ich mich dann alsbald zur Weiterfahrt. Am Berg weht mir ein austrocknender Wind entgegen, sodass ich nur zäh voran komme, nicht zuletzt ist der Anstieg heftiger als erwartet. Zunächst blicke ich auf öde Feld- und Wiesenhänge. In der Nähe des Col d’Espréaux treten dann eigenartig geschichtete Gesteins- und Sandstrukturen hervor, wie sie auch schon am Cayolle zu beobachten waren. Die schwarze Erde steht im bizarren Kontrast zu einem grünen mediterranen Mischwald. Die letzten Kurven zur Passhöhe sind fast flach und fahren sich wie ein Slalom um Berghügel und Haine. Die Nordseite dieses sehr wenig befahrenen Passes ist durch typisch mitteleuropäischen Mischwald geprägt. In der Talebene der Buëch setzt der Gegenwind mir immer stärker zu. Ein Radweg strebt idyllisch und geradewegs entlang des Flusses. Der Kampf überwiegt aber, die Zeit läuft mir davon. Trotz einer leichten Richtungsänderung mit der Fahrt über einen kleinen Hügel nach Aspres-s-Buëch ändert sich an der fatalen Windsituation nichts. Der Wind frischt sogar in Böen auf, als ich auf der D 993 Richtung Col de Cabre fahre bzw. kämpfe. In St. Pierre führt mich ein Camping-Hinweis in die Irre, ich verliere nochmal Zeit. Der Camping ist schließlich ein Parkgelände mit Ferienhaus bei der Heilquelle hinter St. Pierre, wo es aber kein Restaurant gibt, eventuell könnte ich in St. Pierre etwas zu essen kriegen (also wieder hin und zurück). Die Dame teilt mir mit, dass das nächste Hotel-Restaurant auf der Passhöhe liegt. Ich muss mich entscheiden, das Zeitfenster ist knapp und meine Psyche am Boden. Ich lege mich wieder in den Wind, kämpfe mich auf der schwachen Steigung nebst Wiesen und Feldern bis la Beaume. Dort schöpfe ich neue Hoffnung, als ich einen Gasthof erkenne – er hat aber geschlossen. So ziehe ich mir ein wärmendes Trikot über und lege alle Power hinein um den Berg anzugehen. Der Wind ist direkt am Berg weniger stark und ich stürme mit enormem Tempo hinauf zum Col de Cabre. Dort bekomme ich ein Zimmer für 35 €, es gibt immerhin noch Essen nach 21 Uhr, allerdings bleibt auch diesmal die Küchenleistung hinter dem üblichen Nimbus französischer Qualität zurück. Do, 21.7. Col de Cabre – Luc – Die (400m) – Col de Rousset (1254m) – D103/D518 – Grands/Petits Goulets – Pont-en-Royans (230m) – Gorges de la Bourne – Villard-de-Lans (990m)[127 km – 8:34 h – 14,9 km/h – 1663 Hm] Mal wieder eine Nacht in einem richtigen Bett – welcher Luxus! Die Morgenröte sorgt für ein besonders schönes Bergpanorama am Horizont. Die Passunterkunft wird auch noch von drei Fernfahrern genutzt, die gerade ihre Schwergewichte warm laufen lassen. Die Luft ist auch hier morgens sehr kühl, als ich um 7:45 Uhr ohne Frühstück hinab fahre. Der Mischwald am schattigen Nordhang gleicht bereits dem deutscher feuchter Mittelgebirgshänge, etwa an der Schwäbischen Alb. Auf einer gut ausgebauten Fahrbahn fröstele ich mich bei mäßigem Gefälle nach unten, wo alsbald Flachstücke überwiegen. Große Felsquader ragen aus den Waldhängen auf und drücken am Horizont der Region Drôme ihren Stempel auf. Ruhig und leicht gräuselnd fließt der gleichnamige Fluss durch Wälder und Wiesen. Dann versperren riesige helle, wie zusammengewürfelt aufgetürmte Felsblöcke den Weg der Drôme. Nur eine schmale Pforte für das Wasser bildet den Durchbruch der Drôme. Wenig später breitet sich eine weite Feld- und Wiesenlandschaft aus, deren Reiz in der umgebenden charakteristischen Bergkulisse liegt. Erst bei einem Frühstück in Luc-en-Diois endet die Schattenzone dauerhaft. Kurz vor Die besuche ich einen Jardin de Papillon, obwohl mein Zeitfenster schon wieder eng ist. Sollte ich doch gestern schon bis Luc gekommen sein, so will ich heute den Rückstand aufholen und bis Villard-de-Lans kommen. Der Besuch bei den Schmetterlingen lohnt sich aber allemal. Im tropischen Mikroklima flattern schillernd blaue und grüne Falter umher, große mit roten Augenmustern auf gelben Grund, kleine mit rot-schwarzen Fächermustern, heimische und exotische. Sie fliegen um Beine und Ohren und machen den Gang durch die Gazekäfige zu einem sinnlichen Erlebnis. Überall erläutern Tafeln (französisch/englisch) nicht nur die Artenvielfalt, sondern stellen auch die Entwicklungsstationen und die Heimatbiotope vor. Es wird Schmetterlingszucht betrieben, die Puppen können an übereinander geordneten Stangen hängend bewundert werden. Die meisten Züchtungen erfolgen jedoch in den Heimatländern der Schmetterlinge und sind mit sozialen wie ökologischen Projekten dort gekoppelt. Der größte Schmetterling der Welt (aus Indonesien) ist mit im Bild, aber nur als totes Modell. Im angrenzenden Shop erstehe ich u.a. ein Schmetterlingsmobile. In Die lohnt es sich durch die Fußgängerzone zu schlendern. Überall locken schmackhafte Verführungen, ich bräuchte wohl ein halbes Jahr, um alles einmal probiert zu haben. Leider habe ich auf den Touren nie Gelegenheit die verschiedenen regionalen Produkte für die tägliche Küche zuzubereiten und zu kosten. Nur die eine oder andere Gebäckspezialität kann ich entweder gleich verspeisen oder in kleinen Mengen als Proviant mitführen. Die Stadt fungiert als ein kleines Zentrum für die Drôme-Region und dient als südlicher Ausgangspunkt für das Vercors. Die Trödelei dauert ein Weilchen. So muss ich mich in der Mittagshitze wieder am Berg durchbeißen um nicht zu arg in Zeitrückstand zu geraten. Im unteren Teil breitet sich ein ebenso typisches wie klischeehaftes Postkartenbild aus, das in einem Farbraster alle Elemente der Region zusammenstellt. Unten leuchten goldfarben auf leicht geschwungenen Hügeln Getreidefelder, daneben zieren die geordneten Reihen des violetten Lavendels die Gegenhügel, Walnuss- und Obstbäume setzen passende Grüntöne dazu, dazwischen die gebleichten Brauntöne der beackerten Erde. Darüber ziehen dichte dunkel-grüne Mischwaldgürtel die Hänge hinauf, oben wachsen dann die grauen Bergklötze heraus. Über allem hängt das helle Azur des Himmels, von wo aus vereinzelte Wolken Schattenspiele auf Berg und Tal entwerfen. Die langen Schlaufen am Berg, von oben furchteinflößend zu betrachten, machen die Steigung erträglich. Zeitweilig habe ich mit leichten Magenkrämpfen und Durchfall zu kämpfen, muss daher zweimal ungewollt unterbrechen. Schwerwiegender ist allerdings der böige und stürmische Wind, der selbst direkt am Berg nicht verschwindet. Durch die Kehren fahre ich immer eine Strecke gegen den Wind, komme fast zum Stillstand, muss sogar das Rad mal absetzen, weil ich sonst umkippen würde. Nach der nächsten Kehre werde ich dann wieder vom Wind hochgeschoben. Ein vernünftiger Rhythmus ist dabei nicht zu finden und ohne den Wind wäre ich trotz der Unpässlichkeiten den Berg mit hohem Tempo hochgefahren, weil ich doch deutliche Kraftreserven an einem unerwartet leichten Berg verspüre. Unten habe ich noch einige Radler überholt, oben ziehen dann einige Rennradler an mir vorbei. Die Passhöhe lässt sich nur schwer erahnen, weil die Straße nicht über einen Bergkamm führt, sondern in einem kurzen Tunnel zur anderen Bergseite verschwindet. Als ich noch glaube, etliche weitere Kehren bewältigen zu müssen, schießt ein holländischer Rennradler so an mir vorbei, so dass ich Übermenschliches vermute. Es stellt sich dann heraus, dass der Col de Rousset nur noch wenige Meter entfernt war und er zum Finale seinen 14-jährigen Sohn „der Ehre wegen“ abhängen musste. Wir plaudern ein wenig miteinander und genießen den eindruckvollen Blick den Berg hinunter und zu den landschaftstypischen Felsabbruchkanten hinüber. Nach dem Tunnel gibt es ein Gasthaus und ein unansehnliches Apartmenthaus. Nach einer kleinen Abfahrt fahre ich über eine Hochtalebene, auf der alles Provenzalische verschwunden ist. Nadelwald, Mischwald und Wiesen bilden eine ziemlich „nordische“ Landschaft. Bei einer kleinen Rast nicke ich gleich ein. Wieder berappelt gelange ich zu den Grands Goulets, eine Ansammlung mächtiger Tunnelbögen, in den Stein der engen Schlucht gehauen. Am Galerieeingang liegt ein besseres Hotel, viele Touristen fahren bewundernd die Strecke ab. Die Straße ist schmal, der Fels auch in den offenen Passagen noch über dem Kopf. Kühn gebaut, rasant zum abfahren, grandios in der Wirkung. Ich fliege immer weiter nach unten. Am Ende der engen Schlucht nochmal ähnlich durch die Petits Goulets. Noch ein Stück weiter runter bin ich auf 230 m über Meereshöhe, fast auf Höhe der nahen Isère-Ebene, die Luft ist entsprechend aufgeheizt. Pont-en-Royans ist der wichtigste nördliche Ausgangspunkt um die zahlreichen Schluchten des Vercors zu erkunden, es herrscht großer Trubel. Die Häuser wirken vom Fels ans Wasser gedrückt, hängen sogar teils reizvoll über der Bourne, gleich dahinter beginnt die Gorges de la Bourne. Schnell fahre ich weiter, nicht mehr ganz sicher, ob ich noch vor Einbruch der Dunkelheit mein Etappenziel erreichen werde. So richtig bewusst bin ich mir auch nicht der nun noch anstehenden 750 Hm, die ich nahezu ohne Erholungsphasen erarbeiten muss. Ich empfinde den Anstieg schwieriger als am Col de Rousset, wohl weil ich ausgepowert bin und ich auch auf das Tempo drücken muss. Nur im untersten Bereich gäbe es noch Campingmöglichkeiten, danach sehe ich zumindest keine geöffneten Unterkunftsmöglichkeiten mehr. Umso so mehr Natur, wieder eine Schlucht, nun von unten angefahren, ständig mit dem Blick in die hoch und senkrecht aufragenden Felskulissen, die für Greifvögel und Mauersegler ideale Nist- und Flugreviere bieten. Anfangs fließt die Bourne noch ruhig neben der Straße, bald ist die Schlucht aber während des Fahrens nicht mehr einsehbar. Wie in den Fels einrasiert ist die Straße in den Fels gehauen, der Berg über meinem Kopf hängend, kleine Galerien folgen. Für die Steigungen mobilisiere ich wieder alle Kräfte, ein ähnliches Szenario wie am Vorabend. Und weil ich beim stetigen Anstieg kaum noch ein Ende erwarte, tritt umso plötzlicher nach einer letzten Biegung der Schlucht die Hochebene hervor, die ich noch nachmittags vom Col de Rousset kommend bereits etwas weiter nördlich teilweise befahren hatte. Der Campingplatz liegt noch unterhalb des Ortes, zu dem ein Fußweg hinaufführt. Ein kleiner Bach durchfließt den Camping, ein Holzbrücklein verbindet die beiden Platzteile. Es ist auch hier sehr kühl und nachts richtig kalt, was durch die offenen Bergwiesen rundum auch noch bildlich gestärkt wird. Vor dem fröstelnden Schlaferlebnis drehe ich noch eine Runde durch den Ort, der gut besucht ist und viel Essgelegenheiten bietet. Es ist aber ein typischer Skiort, mit wenig Charme und an einer Schickeria orientiert. So lande ich im Restaurant „Golf“, wo ich ein gutes Entrecote bekomme, ich vermisse aber auch hier etwas Ausgefallenes, Originelles. Fr, 22.7. Villard-de-Lans – Sassenage – Voreppe (200m) – Col de la Placette (587m) – St. Laurent-du-Pont (385m) – Col de Couze (626m) – Chambery – Grésy-s-Aix – Aix-les-Bains[120 km – 7:05 h – 16,7 km/h – 695 Hm] Durch den kühlen Bachgrund hat sich viel Nässe auf der Zeltplane gesammelt und auch die fortwährende Morgenkälte trägt dazu bei, dass ich erst nach 8 Uhr abreise. Nach einem ersten Stück Hochebene in der Sonne gelange ich in die nächste Schlucht, die Gorges d’Engines – weniger spektakulär als die vom Vortag, aber durch die hohen Doldengewächse am Flusslauf etwas geheimnisvoll wirkend, ein bisschen an den kroatischen Nationalpark Plitvice erinnernd. Nach sanftem Gefälle öffnet sich ein weiterer Panoramablick über das Isère-Tal und die industrielle und städtische Agglomeration Grenoble. Noch ein paar schnelle Kehren und ich bin auf dem tiefsten Punkt meiner Tour, etwa 200 m über dem Meeresspiegel – und zurück im schlichten Verkehrswahn. Der ungeliebten Verkehrsader kann ich bald mit einer alternativen Zufahrtsstraße in Richtung Voreppe nach der Brücke über die Isère entweichen. Voreppe ist ein geschäftiger Ort, schon etwas oberhalb der Ebene gelegen. Heute ist Markttag und entsprechend drängelt sich alles um die Stände mit schmackhaften Obst, Gemüse, Käse, Fleisch, Wurst, Schinken, Pasteten, Geflügel, Backwaren und allerlei nicht essbarem Krimskrams. Ich kann mir Mittagsproviant zulegen, darunter auch eine Schale köstlicher Himbeeren. Bereits als ich den kleinen Pass angehen will, ist es schwül-heiß. Mal wieder läuft mein Motor schlecht, ich fühle mich matt. In der nachfolgenden Ebene flimmert schon die Luft über dem Asphalt, ich suche dringend eine Gelegenheit zum Abkühlen. Ich verbringe schließlich drei Stunden an einem flachen Flusslauf zwischen St. Laurent-du-Pont und les Echelles. Sowohl auf der Suche dorthin als auch auf dem Rückweg irre ich ein wenig durch ein Labyrinth aus Wasseradern und Feldwegen. Die verlorene Zeit ist letztlich entscheidend für das nicht ganz glückliche Ende der Etappe. Auch der Col de Couze hat wie zuvor der Col de la Placette keine landschaftlichen Besonderheiten aufzuweisen. Immerhin gibt es eine kurze, aber ordentliche Abfahrt nach Chambéry (Bild aus 2002), was mir auch schon aus meiner 2002er Radtour bekannt ist, ebenso wie die folgende Strecke bis Aix-les-Bains – nur damals in umgekehrter Richtung. Ich verzichte also, die Innenstadt zu besichtigen (ein Bummel lohnt sich für Erstbesucher, denn es ist eine quirlige, aber dennoch charmante Studenten- und Einkaufsstadt mit viel Flair). Zwar kann ich die Stadt schnell umfahren, jedoch gelange ich auf der ebenen, mit Tempo fahrbaren Fahrradstraße etwas von der direkten Route ab, weil ich den richtigen Abzweig verpasse. So komme ich am Südwestende des Lac du Bourget heraus (Sicht auf den See zunächst nicht möglich) und zurück zur Straße nach Aix-les-Bains (zunächst noch parallel Radweg), wo die Ruhe der sanften Wasserfläche mit dem Verkehr an seinem Ufer um die rechte Stimmung kämpft. Ein Inlineskater bezirzt seine Auserwählte und beginnt plötzlich und ohne jeden Blick zur Seite mit einem unberechenbaren Tanz auf den Rollen, der ihn stolpernd auf die Überholspur (bzw. Gegenfahrbahn) des gut ausgebauten Radweges kolportiert. Eine Kollision kann ich nicht mehr verhindern, aber es reicht ihn über die Lowridertasche seitlich vom Lenker abzuwehren. Während ich zwar verärgert bin, aber mich auf dem Rad halten kann, erwischt ihn die gerechte Strafe, die ihn zu Boden purzeln lässt. Es zeigt sich wieder, dass sogar gut ausgebaute Radwege (Inlineskaten ist hier erlaubt) gefährlicher sind als die Straße, weil das rücksichtslose oder unbedachte Verhalten auf Radwegen nicht wirklich sanktioniert werden kann. Solche „Versehen“ gelten bei den Betroffenen als Kavaliersdelikt. Aus diesem Grunde sollten alle Gesetzgeber das Radfahren auf Radwegen grundsätzlich nur anempfehlen und nicht zwingend vorschreiben. Die Entscheidung auf der Straße zu fahren, auch bei parallelen Radwegen, kann nur der Radfahrer selbst treffen, der sowohl sein Art des Radfahrens als auch die Verhaltensweisen seiner Kollegen einordnen muss. Es ist nicht zuzumuten, dass Radfahrer sich wider besseren Wissens in Gefahr begeben, weil der Gesetzgeber stupide Verkehrsregeln vorschreibt. Der Radfahrer ist sehr wohl in der Lage seine persönliche Gefahrensituation abzuwägen und die entsprechenden Verkehrswege auszuwählen. Flexibilität tut in unseren Gesetzen und Verordnungen Not. Das Klima am See ist sehr mild und ich überlege zunächst gleich hier zu campieren. Doch ich fahre zunächst weiter, weil es auch in Grésy-s-Aix leicht außerhalb einen Camping gibt. Es geht für mich etwas unerwartet nach oben, allerdings nur mit mäßiger Steigung. In Grésy finde ich zunächst keinen Camping, aber auch kein geöffnetes Restaurant. Ich überlege noch, ob ich mein ursprüngliches Etappenziel Cusy erreichen könnte. Die Straße scheint moderat steigend weiter zu verlaufen, doch wenn sich das ändert, wird es zum Essen in der Provinz zu spät sein. Also kehre ich wieder um, sehe zwar die Zufahrt zum Camping, der abgelegen liegt und ich zum Essen runter und mit vollem Magen wieder bergauf radeln müsste. Kein Blick auf den See und die Autobahn noch im Rücken. So beschließe ich wieder an den See zu fahren und auf einen Camping in Aix-les-Bains zu gehen. Wie befürchtet, bestimmen Schickeria und exklusiver Kommerz die Uferpromenade. In einem Restaurant bekomme ich wieder ordentliches Essen ohne Gourmet-Kniffe, Service eher etwas schlapp. Sa, 23.7. Aix-les-Bains (240m) – Cusy – Col de Leschaux (897m) – Annecy (445m) – Col d'Evires (810m) – Bonne – Genève (375m)[113 km – 7:36 h – 14,7 km/h – 1089 Hm] War der Vortag schon ein etwas unglücklicher, so wird der heutige zu einem kleinen Einbruch. Es sind gerade die vermeintlich leichten Etappen, die einen aus den verschiedensten Gründen aufreiben können. Der Morgen ist ausnahmsweise mild, doch ich fühle einen gewissen Kopfdruck. Möglicherweise habe ich abends – weil kein Wasser kostenlos gereicht wurde – zu wenig Wasser zu Essen und Wein getrunken, was sich durchaus zu Kopfschmerz führen kann. Das nächtliche „Nachtanken“ mit Wasser kommt dann manchmal zu spät. So schon etwas geschlaucht, kann ich ohnehin nicht vor 8 Uhr losfahren, weil abends die Rezeption des Campings nicht mehr besetzt war und der Nachtwächter nur den Ausweis einbehalten hat, aber sich weigerte, mich bereits abends zahlen zu lassen. Das Ganze Prozedere zieht sich dann noch eine zusätzliche halbe Stunde hin. Weitere Zeit vertrödele ich am Seeufer. Endlich wieder aufwärts nach Grésy und weiter, zunehmend auch mit einigen stärkeren Steigungen, nach Cusy, finde ich trotz des Kopfschmerzes einen guten Rhythmus. Doch ich bin irgendwie körperlich erschöpft, der Kopfschmerz und ein tiefes Schlafgefühl wollen auch nicht nach einem kleinen Zwischenfrühstück weichen. Selbst in den flacheren Passagen quäle ich mich, eine kleine Zwischenabfahrt treibt mich bis zum Wendepunkt la Charniaz. Noch leuchtet das Tal grün im Sonnenlicht, doch bald trübt der Himmel ein und es bleibt eher kühl. Trotz der Malaise gelingt mir der restliche Anstieg zum Col de Leschaux recht flott. Ich fahre an einem Kunstatelier vorbei, der u.a. einen lustigen Fliegenpilz als Demo-Objekt außen aufgestellt hat. Außer einigen Rennradlern hält auch ein Auto mit einem jungen Paar auf der Passhöhe, während ich eine Banane und Joghurt verspeise. Er ist Holländer, sie ist Schwedin, wohl frisch verliebt, sie unterhalten sich in Englisch. Sie fragen mich nach einer bestimmten engen Schlucht, die in einem Prospekt abgebildet ist und die sie durchwandern wollen. Wir stellen bald fest, dass sie kein geeignetes Kartenmaterial haben und sich daher völlig verfahren haben. Jetzt sind sie ganz enttäuscht und wissen nicht so richtig weiter. Zwei so herzzerreißend niedergeschlagene und doch anmutige Gesichter – hoffentlich haben sie noch was Schönes am Tag erlebt. Von der gemäßigten Abfahrt habe ich weit tragende Panoramablicke über den Lac d’Annecy, obwohl die fehlende Sonne und eine dunstige Luftschicht keine guten Bilder zulassen. Am See ist es dann mild bis schwül, aber nicht richtig Sommer. Annecy ist mit seiner Lage am See, den großen Gärten an der Seepromenade, den alten Häusern direkt am Wasser der Kanäle, den kleinen Brücken, den verwinkelten Gassen, den schmalen Stadttoren und Übergängen, dem überbordenden Blumenschmuck, den vielen kleine Blickfängen von verzierten Details an den Häusern und nicht zuletzt die Vielfalt der Geschäfte mit Delikatessen und Kunsthandwerk bis hin zum Kitsch ein der schönsten Städte der Welt. Das Ambiente nimmt einen gleich gefangen, selbst wenn ich vor Touristen nur schwer einen Überblick behalten kann. Weil ich doch sehr matt und müde bin, entschließe ich mich zu einer längeren Trödelei durch die Gassen. Ich kaufe einen „radelnden“ Kerzenständer, schnuppere den Unterschied zwischen Vanille aus Tahiti und La Reunion (entscheide mich für eine sündhaft teure Stange aus Tahiti) in einem Spezialgewürzladen, lecker gefüllte Schokostäbchen und Savoyer Himbeerbonbons aus einer noblen Patisserie erhöhen nochmal meinen Ballast – hier gäbe es sogar Handtaschen aus Schokolade! Und selbst die Speisekarten sind mit viel Liebe einfallsreich kreierte Schmuckstücke, mit denen die Restaurants um ihre Gäste werben. Die Luft ist immer noch drückend schwül als ich die Stadt gegen 16 Uhr verlasse. Ein kleines Stück muss ich über eine Kraftfahrtstraße fahren, weil es mir an einer alternativen Ausfahrtorientierung fehlt. Die folgende N 203 ist sehr stark befahren, obwohl es eine Alternative via Autobahn gibt. Die Landschaft erinnert manchmal etwas an die Weide- und Wiesenhügel im Allgäu, sonst an andere deutsche Mittelgebirge. Außer den fortwährenden Kopfschmerzen treten auf dem Weg zum Col d’Evires keine nennenswerten Schwierigkeiten auf. Die Straße bei der Abfahrt ist autobahnähnlich bis la Roche-s-Foron, das in einem weiträumigen Bogen verläuft. Da ich noch auf das Etappenziel Thonon-les-Bains spekuliere, schlage ich den Abzweig nach Genf aus. Es geht schnurgerade, mit ungewohntem Weitblick – das Ende der Bergwelt ist jetzt Fakt – und über eine etwas schlechtere Fahrbahn Richtung Bonne, bald wird es auch flach. Ich trete zunehmend zäh, leichte Anstiege verursachen wieder stärkere Kopfschmerzen. Ich muss erkennen, dass der Weg nach Thonon-les-Bains zu weit ist, nicht mehr in angemessener Zeit vor Einbruch der Dunkelheit machbar ist. Ich muss den kürzeren Weg Richtung Genf einschlagen, um einen Campingplatz oder eine Jugendherberge zu erreichen. Annemasse, in der Karte als sehenswerte Stadt eingetragen, erlebe ich nur als unfranzösische, völlig überfremdete Industriestadt mit niedriger Lebensqualität – wohl habe ich die Altstadt verpasst. Doch ich sehne mich nach einem erholsamen Etappenende und fahre dessen ungeachtet weiter bis Genf. Dort ist es schwierig, jemand zu finden, der verständlich Auskunft geben kann. Der Camping liegt 8 km außerhalb am Südufer, so entschließe ich mich zum Aufenthalt in der Jugendherberge, die ich zwar schon mal 1986 (mit dem Auto) besucht hatte, aber von der mir nichts im Gedächtnis geblieben ist. Lediglich die Blumenuhr an der Seepromenade ist mir noch gut in Erinnerung, obwohl sie je nach Jahreszeit immer wieder ihr Gesicht mit unterschiedlichen Blumen wechselt. Heute funktioniert in der Jugendherberge alles mit einer Hightech-Karte, bis in die Dusche hinein und recht umständlich. Man kann fast nichts in den Händen halten, weil man ständig die Karte zücken muss, um weiterzukommen. Auf dem Zimmer sind Engländer und ein Japaner, dem meine Schilderung der japanischen Meile von Zermatt etwas peinlich ist. Die internationale Stadt hat sich zu einer extremen Multikulti-Emulsion entwickelt. Daher finden ich gleich in der Umgebung der Jugendherberge Restaurants unterschiedlichster Nationalitäten, aber ich fühle mich nicht in der Schweiz, alles ist zu überfremdet, es fehlt Authentizität, es fehlt Identität. Der Autoverkehr ist übermäßig und hektisch, eine Schweiz ohne Romantik eben. Eigentlich will ich mich mit einem gelungenen Abschiedsmenü für meine Megatour belohnen. Doch das Essen ist nur mäßig, die Bedienung unfreundlich und der Preis astronomisch hoch. Eben typisch Weltstadt. So, 24.7. Genève – Nyon – Lausanne |15:30-22:00| Stuttgart[66 km – 4:07 h – 16,0 km/h – 223 Hm] Warum eine Festunterkunft nicht immer die bessere Wahl ist, zeigt sich auch diesmal. Die Jugendherberge ist gut ausgelastet, entsprechend eng ist es in den Zimmern und es fällt mir schwer die Sachen schnell einzupacken. Die Zimmer sind trotz bescheidener Außentemperatur sehr warm, kaum geeignet für einen gesunden Schlaf – erst Recht nicht im Oberbett. Der Waschraum hat sogar ein wahrhaftes Tropenklima. Obwohl es bereits ab 6:30 Uhr Frühstück gibt, kann ich die frühe Zeit nicht nutzen. Dann kommt ein größerer Schwung an Gästen und ich plaudere mit einer netten Berlinerin. Sie arbeitet als Lehrerin, alles aber nur auf Zeit und sucht daher eine bessere Perspektive an einer deutschen Schule in der Schweiz oder in Frankreich, wo sie anschließend noch weiter zu Freunden reist. Da sie nur mit dem Zug fährt, gerne aber etwas von den Alpen sehen möchte, nicht zu weit von ihrer Route nach Frankreich abweichen möchte, kann ich ihr kaum etwas Weiterempfehlen. Denn anders als in der Schweiz sind die interessanten Alpentäler und -berge in Frankreich meistens nicht mit der Eisenbahn zu erreichen. Bis dann der Regen in leichtes Tröpfeln übergeht ist es bereits 10 Uhr. Das ehrgeizige Etappenziel Bern (und noch anschließender Bahnfahrt) ist gefährdet. Irgendwie hat sich in den letzten Tagen eine fortwährende Unpässlichkeit eingenistet. Schon wieder leide ich an leichtem Durchfall und es geht auch nicht ganz ohne Kopfschmerzen. Fehlen mir die hohen Berge oder habe ich die natürliche Grenze für eine solch hohe körperliche Dauerbelastung erreicht? Von dem Park am nördlichen Seeufer habe ich dann nochmal einen schönen Blick über die gesamte Bucht der Stadt mit dem Wahrzeichen, der 140 m hohen Wasserfontäne. In dem trüben Licht wirkt dann doch alles etwas trist. Da ich schon nach einem Kilometer die Fahrt unterbrechen muss, gelange ich unfreiwillig zu den Toiletten des botanischen Gartens. Teilweise in Glashäusern angelegt, gibt es bei freiem Eintritt eine Vielzahl exotischer Pflanzen zu bewundern. Ich habe aber weder Zeit noch Geduld, um intensiver in diese Welt einzutauchen. Bei kühlem Halbregenwetter versuche ich zwar Tempo zu machen, doch die angrenzenden Weinberge haben zur Folge, dass es leicht hügelig wird. Auch bei engagiertem Tritt kann ich nicht die nötige Durchschnittsgeschwindigkeit erzielen um Bern in angemessener Zeit zu erreichen. Auch für die Alternative Fribourg ist das Zeitfenster bald zu eng und ich sehne mich dann letztlich nach einem gemütlichen Ende in Lausanne. Damit wird die letzte Etappe zu einer etwas unbefriedigenden Halbetappe, in gewisser Weise auch eine Folge der letzten Tage, die nicht so günstig verlaufen sind. Ich wollte ja eigentlich noch eine Tempo-Etappe machen und ein bisschen Kilometer fressen. Und leider lässt sich die Schweiz auch nur schlecht mit dem Zug durchqueren, wie ich noch erlebe. Die Route verläuft zwar manchmal hinter den Mauern von Privatvillen mit Zugang zum See, aber ist doch reizvoller als ich mich zu erinnern vermag. Unter den hübschen Orten ragt das mittelalterliche, fast kreisrund gebaute Nyon besonders heraus. In Morges steht ein imposantes Schloss, demgegenüber ich auf einer Verkehrsinsel ein symbolisch künstlerisch inszeniertes Ensemble aus Velos entdecke, das genau rechtzeitig zum Tourende auftaucht. Ich stelle mein Rad unter dem Banner „Arrivée“ dazu. Das war’s!? – Noch nicht… Das gemütliche Ende im Zug wird dann doch noch zur Odyssee. Das Bahnland Schweiz versagt völlig, als ich am frühen Nachmittag in Lausanne mit dem Velo eine Fahrt nach Stuttgart ordern will. Zunächst bekomme ich die Auskunft, dass ich ohne Reservierung keinen Zuganschluss an diesem Tag mehr bekommen könne. Mit dem Hinweis, dass möglicherweise alle Stellplätze für Räder belegt sein könnten, erhalte ich dann doch ein Ticket für den IC nach Zürich. Die Dame, mit der Buchung des Fahrrades im grenzüberschreitenden Verkehr überfordert, verkauft mir schließlich zwei verschiedene Velotickets, was ich zunächst aus Zeitgründen nicht monieren kann. Dann bekomme ich noch ein ICE-Ticket für die Strecke Zürich – Stuttgart. Es soll die einzig mögliche Verbindung noch an diesem Tag sein, so die Auskunft. Meine im Internet recherchierten Rückfahrtalternativen sind zwar andere, die findet sie aber erst gar nicht. Der Zug hat dann genügend frei Plätze für Velos, warum er ausgebucht sein sollte, erschließt sich mir nicht, außer das Schweizer Buchungssystem ist mangelhaft. Im Zug frage ich dann wegen des ICEs nach, der eigentlich keine Fahrräder mitnimmt. Entscheidende Hilfe auch dort nicht. In Zürich versuche ich einen Zug nach Konstanz zu nehmen, was aber ein Umweg ist und daher nicht der gebuchten Strecke entspricht. Der Schaffner lehnt ab und verweist mich auf das Bahnreisezentrum. Dort gibt es wenige spezielle Schalter für Beschwerden und Umbuchungen. Ich muss eine Nummer ziehen, um an die Schalter zu gelangen, es dauert natürlich ein gewisses Weilchen. Schließlich bekomme ich dort die Auskunft, Velo und ICE geht nicht, eine alternative Verbindung gäbe es heute nicht mehr nach Stuttgart (7½ Stunden vor Mitternacht bei schlichten 220 km!). Der Zug via Konstanz ist längst abgefahren. Ich beschwere mich über die seltsamen doppelten Radkarten, bekomme eine erstattet. Mit über 120 € fahre ich aber immer noch weit über dem Preis, den ich vor meiner Reise im Internet recherchiert hatte. Ich beklage mich weiter über die miserable Auskunft, außerdem habe ich jetzt wertlos gewordene Tickets. Eine ausstehende Übernachtung würde die Ausgaben ins Astronomische wachsen lassen. „Ist das die Schweiz, dicke abkassieren, aber keine Leistung bringen?“ frage ich schließlich frech und vorwurfsvoll. Nochmal verschwindet die Dame in den Hinterzimmern. Dann heißt es, der ICE nimmt doch Räder mit!? Den Rest des Aufenthalts am Zürcher Bahnhof nutze ich, um doch noch die Reise mit einem kulinarischen Schmankerl ausklingen zu lassen. Echtes Zürcher Geschnetzeltes mit Rösti. Nun super war es für die üblichen Schweizer Hochpreise nicht, aber doch besser als manche andere Mahlzeit in der Schweiz. In den ICE steige ich dann in der Nähe des Bistros ein, es gibt genügend Platz, aber kein Fahrradabteil – wie sollte es auch. Auch die Dame am Zürcher Hauptbahnhof – und wer immer noch dazu – hat keine Kenntnis über die einzelnen Bestimmungen. Vielleicht hat sie sich auch unter Druck gefühlt und einfach die Verantwortung auf den Zugführer abgeschoben. Da mich beim Einsteigen das Zugpersonal nicht bemerkt hat, sitze ich bereits im fahrenden Zug, als es der Schaffner merkt. Dabei sieht er es nicht anhand meiner Tickets – die hat er offenbar blind abgestempelt – erst als er vorbeiläuft, bemerkt er mein Rad. Er kann zwar das Wirrwarr der Schweizer Bahnauskunft nicht nachvollziehen, kommentiert aber: „Nun sitzen Sie ja schon im Zug, und anders wären sie ja ohnehin nicht mehr nach Stuttgart gekommen.“ – Es geht doch, Herr Mehdorn! Warum nicht auch offiziell?
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Liebe Grüße! Ciao! Salut! Saludos! Greetings! Matthias Pedalgeist - Panorama für Radreisen, Landeskunde, Wegepoesie, offene Ohren & Begegnungen | |
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#480421 - 11/17/08 12:18 AM
Re: Große Alpentour der 2000er
[Re: veloträumer]
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Hallo Mathias
Was soll ich sagen, mir blieb die Spucke weg beim lesen. Tolle Tour, Super Leistung.
Gute Nacht
michl
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#480479 - 11/17/08 12:13 PM
Re: Große Alpentour der 2000er
[Re: veloträumer]
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Servus,
kann ich auch nur bewundernd bestaunen. Kommt aber auf die To-do-Liste für die nächsten Jahre.
Gruß jomo
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#480545 - 11/17/08 03:50 PM
Re: Große Alpentour der 2000er
[Re: veloträumer]
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warum hört der Text so mittendrin beim Bericht vom 20.7. auf, als hätte einer ein Stück abgehackt? Ist das ein Darstellungsproblem bei mir (bin mit firefox drin)? Das ganze macht das Lesen des Berichts dann doch ein wenig unerfreulich. Was schade ist, weil das ganze wie gewohnt sehr unterhaltsam ist. Auch wenn ich nicht gar so eine Bergziege bin wie Du - der ein oder andere Pass könnte durchaus in eine Urlaubsplanung einfließen.. LG Nat
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#480557 - 11/17/08 04:29 PM
Re: Große Alpentour der 2000er
[Re: natash]
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Hallo Nat, das ist wohl ein Darstellungsproblem. Der 20.7. ist komplett drin wie auch der Rest bis zum 24.7. - sowohl am Heim-PC mit diesem AOL-Kram als auch im Büro mit reinen Internet-Explorer. - Ein Riegel Arbeitsspeicher löst das Problem vielleicht auch. - Es sicherlich grenzwertig hier fürs Forum, aber es ist eine alte Vorlage gewesen und ein paar Infos für Alpenreisen sind halt dabei, auch wenn mal die Bilder hier sehr bescheiden sind. Habe auch schon in 3 Teile gegliedert, weil die Forumsvorschau bei dem Kompletttext in einem Beitrag Probleme bereitete. Mal sehen, ob ich noch ein paar alte Hüte hervorhole.
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Edited by veloträumer (11/17/08 04:30 PM) |
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#480563 - 11/17/08 04:53 PM
Re: Große Alpentour der 2000er
[Re: veloträumer]
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Hallo Matthias,
mit dem Firefox habe ich merkwürdigerweise das gleiche Problem wie Natalie. Mit dem IE funzt es aber.
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#480564 - 11/17/08 04:55 PM
Re: Große Alpentour der 2000er
[Re: veloträumer]
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Super-Bericht! Wird allerdings noch ein Weilchen dauern, bis ich ihn komplett gelesen habe, das klappt nur stückweise. Immerhin habe ich den Schweizer Teil schon geschafft
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