Was ist ein Berg?
Unter Berücksichtigung von: «Lack of charisma can be fatal»
Unter Berücksichtigung der der Hauptfrage immanenten Nebenfragen: Warum ist der Berg spitz? Wenn ich in der Landschaft liege und mir das wie Sex vorkommt, wer bin ich? Was ist Schnee? Was ist der Mensch? (Wird nicht beantwortet) Unter besonderer Berücksichtigung von: Lukas 23.30 «Dann werden sie anfangen, zu sagen zu den Bergen: Fallet über uns! und zu den Hügeln: Decket uns!»
Die Sphinx von Pontresina antwortet:
Die Frage sollte einem Berg gestellt werden. Der Berg spricht nicht. Der Berg steht für sich. Der Berg lockt, weist ab, schluckt Menschen, lässt sich von oben bis unten besteigen mit Bärengutmütigkeit, bietet lebensgefährliche Schönheit den Menschen, schickt Stein und Geröll, Blitz, Donner, Hagel, Lawinen, labt mit wilden Panoramen, Licht, Kräutern, Tieren, Mythen, Gemsen, Fabelwesen; rostrote Alpenrose, langblättriger Sonnentau, Berg-Hauswurz und Fieberklee, Alpendohle, Bock, Adler, Kauz der Steine, an seinem Fusse Bäume, Blätter, Nadeln, Unkraut, Wasser, Wind, in seiner Luft die Vögel, Helikopter, Wolken, Glocken aus dem Tal. Pferdekutschen. Decken. Schnaps. Es grollt der Berg und spaltet sich, wirft den Wanderer ab, wie der Wal den Ahab, das Pferd den Mensch, schliesst ein, wie der Eiswürfel die Fliege, der Gletscher die toten Kinder, schiesst ein, wie der Stoff in den Pilz durch das Moos im Wald. Der Pilz ist die dem Menschen angemessene Dosis Berg.
Der Berg ist spitz oder flach, in jedem Fall hoch, sonst ist er ein Hügel, und nicht in der Stadt, sonst ist es ein Turm oder Wolkenkratzer, eine Leiter zu Gott, zum Kamin, zum fensternl, sonst der Calvarienberg knapp ausserhalb der Stadt, bevor er das erste Mal starb.
Zum Berg gehört ausser: der Himmel - der Adler und das Gesetz. Er ist schroff und aus Stein. Umgang mit Berg heisst für Menschen: Klimmen, klettern, steigen, seilen, pickeln oder beschauen, den Berg, sich selbst oder Ansichtskarten, oder darauf schreiben, schicken.
Meist ist mit Berg nicht Berg gemeint, der geologische Berg, sondern der innere Berg, die Trutzburg, der Fels, der du bist, vor dem du sitzt, der dir die Aussicht versperrt, weshalb es eng ist und dunkel, trotz dieser hohen Luft: die vernagelte Stirn, das Brett, das Band um das Herz, die ausgestochenen Augen.
Ob auf dem Gipfel, im Tal: das Bergmassiv ist gemeint, der Selbstkomplex, der Seele trocken tief verschneite Dunkelheit.
Was ist Schnee? Schnee ist, wenn du im Haus bist oder eine Hütte dir in Aussicht steht, Balsam fürs Gemüt, was gerne aufgepeitscht und dann besänftigt wird und Kälte liebt, wenn ihr die Wärme folgt, und jeden Grund für Tee mit Rum und Kandis sucht. Der Berg ist härter als der Kopf. Dem Kopf imponiert Härte sehr, die er für ein wasserdichtes, unbestechliches, in sich selbst schon grausam ewiges Zeichen für wahre Grösse hält.
Was ist der Mensch? Nimm die Lupe. Schau hin. Mit wieviel Liebe zum Fossil ist des Menschen Sammlerherz reich und prächtig ausgestattet und wie unermüdlich forscht und staubt und hegt und pflegt er jedes frühste Zeichen seiner Art, wie sehnt er sich auf Schritt und Tritt nach Möblierung, besonders innerlich, wie ängstigt den Menschen da draussen der Mond, das Heulen der Wölfe, die Schlange, wie ängstigt ihn das Glück der blutsaugerischen Mücke, die nach innen hüpft, Rilke, jedes Hälmchen, jeder Staub, jedes Korn, jede Pusteblume, jeder Löwenzahn, jedes Rädchen, jedes Schräubchen, jeder Flur und jede Fliese, alles Wasser, alles, was zu keinem Gebrauch frei und gefährlich ungemütlich ist, und wieviel Angst hat Platz in ihm vor Implosion all dieser Daten, Dichter und Dinge, die er sammelt als sich.
Der Berg ist Expression pur. Die pure Gestalt. Gestalt gewordener, in Stein, nicht mal gehauener, in Stein sich selbst gezeugter Wille zum Berg. Und viel Wind. Wo ein Berg ist, ist das Wetter schnell. Es entscheidet über Leben und Tod bei Expedition.
Am Berg lieben wir, gefahrlos das zu lieben, was wir an uns selbst nicht liebten, wenn wir sie hätten, die Konsistenz des Steins, sein Gewicht, seine Unerbittlichkeit, Zuverlässigkeit. Petrus war Fischer, bevor er der Fels war, auf den Jesus seine Kirche baute. Er kannte die Meere, die Liebe der Frau und der Kinder. Er fiel auf Befehl partiell aus der Liebe. Er opferte sie. Er ist der seltene Fall von lebendigem Stein.
Das Feste scheint sicherer als das Flüssige, das Wasser, das zur Vernichtung neigt. Die Rettung der Ertrinkenden ist Sache der Ertrinkenden, wie das russische Sprichwort sagt. Auf Petrus hat Jesus seine Kirche gebaut. Ins Körbchen wurde Moses gesetzt. Ein Fels in der Brandung kann Rettung bedeuten, oder der Hintergrund sein, vor dem die Wellen ihr Opfer zermalmen. Die Luft ist in der Höhe dünner und der Körper leichter, die Gefühle heftiger und die Menschen in ihren Städten unten weiter weg, und selbst mit Hand und Fuss in einer Wolke stehen, ist auf dem Berg eine Sache der Menschenmöglichkeit und nicht des Himmels. Also übersteigt auf dem Berg der Mensch sich selbst.
Doch wehe, das Wohlgefallen an einer Wolke kann sich dir steigern bis hin zum Verdruss, dass dir die Wolkigkeit einer tiefhängenden Wolke vor einem Berg manisch hysterisch hypochondrisch wolkig vorkommt, dir mit überschwenglichem Pinsel vors arglose Auge geschleudert um Aufmerksamkeit buhlt, dich per blendender Erscheinung besticht und beschäftigt hält und du nicht zu dir kommst, was dir der Berg in seiner Stille und Grösse unaufdringlich verhiess, in seiner mannigfach bezaubernden Einfalt, deine Einkehr zu dir.
Der Berg ist ein entgegenkommender Ort, wie auch die Höhle, die sein Pendant ist zur Ragung, seine Einstülpung. Wer auf einem Berg lebt, ist nicht schnell im Kino. Der Berg ist mit seinem Wetter um sich herum spektakulär und in diesem Sinn ein echtes Anti-Zen-Ding. Ein Riese. Singulär. Ichich. Senkrecht und selbstbehaupterisch. Dies träfe zu, wenn der Berg ein Mensch mit einem Willen wär. Es liegt nicht am Berg. Es liegt am Mensch. Der Berg fordert den Willen der Menschen heraus. Manche besteigen ihn. Manche markieren dabei noch nie gegangene Routen. Manche, die besten, verlieren die Zehen. Manche siedeln, manche mit Mühsal, an seinem Fusse.
Für die ängstlichen und anders in Umwege verliebten, für die symbolisch veranlagten, für die Zögerlichen, für die Entscheidungsschwachen, für die Muttersöhne der Erde ist Berg die erträgliche Form von Frau, von harter Erde, Mondgestein, nicht morastigem Sumpf, und, das ist der Klew, appolinisch genug, so in die Lüfte stechend, so Leuchtturmlicht und schlank und leicht und gar nicht Bleiankerschwer und Uhbootangst, so eine wunderbare bucklige Hormonstossmöglichkeit für den, der ihn nur lang genug bearbeitet, den Berg, denn was immer wen, was immer wer auf den Berg, auf dem Berg treibt, der grösste Kick ist, die übermenschliche Herausforderung, vom Berg herunter zu den Menschen zurückzukehren.
Wenn du irgendwo absinkst, wenn du auftauchst, steigst, nenn es Tunnel, Bar, Lift, nenn es Musik, Schneise, Scheide oder Catapult, Helicopter, Traum, Rakete, nenn es Piste, Ballon oder Stoff, Pferd, Pistole, Licht, nenn es morgens, abends, mitten am Tag, immer ist Berg, denn der Berg ist ein senkrechter Rand, wie du selbst, der du zwischen den Welten hängst und in die Landschaften ragst.
P.S. für Armin Dallapiccola: «The Lake of charisma», singen Sie morgens und abends dieses Lied. Das ist Ihr Berg.
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