Beim folgenden Bericht handelt es sich um ein historisches Meisterwerk über das Siegerland. Geschrieben für all jene, die schon immer wissen wollten, was es mit den Bergvölkern der Region zwischen dem Teutoburger Wald und Frankfurt auf sich hat...
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Expeditionsbericht Siegerland
Es begab sich im Jahre 2005, da ich beschloss, meine schon lange geplante Expedition ins Quellgebiet der Sieg und damit ins Herzen des Siegerlandes zu unternehmen. Bereits zwei Jahre waren vergangen, in denen ich mein Basislager am Südwestrand des Siegerlandes aufgeschlagen und erste Kontakte mit den Einheimischen aufgenommen hatte. Die Erfahrungen dieser Jahre liessen nichts Gutes vermuten
und tatsächlich muss ich Lesern mit damenhaftem Gemüt dringend davon abraten, meinem Bericht weiter zu folgen - zu schrecklich sind die zu berichtenden Vorkommnisse. Man darf sich von der frühen Literatur nicht täuschen lassen: Nach einer jahrhundertlangen kulturellen Blütezeit (in Folge reichhaltiger Erzfunde), fristet der Siegerländer heute ein gar trauriges Dasein in erdrückender Kulturlosigkeit, welche sich am ehesten im überall verstreuten Unrat, den Wahlergebnissen der CDU, der Populationsdichte von Nordic-Walking-Stöcken und der wahnhaften Kontaktscheue manifestiert.
Nach dem Erwerb von reichlich Proviant bepackte ich also am 31. März im Jahre des Herrn 2005 mein treues Rad Bergamont und brach im frühen Morgengrauen auf. Als Orientierungshilfe diente mir die Expeditionskarte des mir unbekannten Gelehrten "Bund Deutscher Radfahrer". Aber oh weh! Zu alt schien diese Karte zu sein, zu ungenau die Linienführung und die laut Legende empfehlenswerten
Radrouten hatten hin und wieder auch mal Steigungswinkel jenseits der 15%. Schnell vermisste ich das Messtischblatt des ADAC, in welchem zumindest die Wegmarkierungen der Einheimischen niedergezeichnet waren.
In Freudenberg erregten geheimnisvolle, handgemalte und in Cellophan gehüllte Schilder mit der Aufschrift "Radweg Eisenbahntunnel Hohenhain" meine Neugier und ich beschloss, der Spur zu folgen. Ich schlug mich durch Büsche, kletterte über Gräben und tatsächlich - nach einigen hundert Metern befand ich mich auf einem frischen, etwa 3 Meter breitem und natürlich mit einem blauen Lollipop geschmückten
Radweg, der anscheinend auf einer ehemaligen Bahntrasse angelegt worden war. Verwundert ob dieses Umstandes - schließlich war mir in den letzten 2 Jahren keine nennenswerte Zahl weiterer Radfahrer begegnet - folgte ich dem Weg weiter bergauf. In einer Kurve raste dann unerwartet der erste echte Siegerländer in einem orangen Rollgehäuse mit 100 km/h auf mich zu, so daß ich mich und Bergamont nur durch einen beherzten Sprung ins Dickicht retten konnte.
Nach der Durchquerung des Tunnels endete der Radweg überraschend im Nichts, nur Wildnis und ein paar armseelige Behausungen umgaben mich. Doch da! Am Wegesrand hing die schrecklich lebensechte Darstellung eines Gefolterten: Man hatte ihn an ein einfaches Holzgerüst genagelt und scheinar auch mit einem Messer an der Brust geritzt. Solche und ählich ekelerregende Darstellungen sollten mich nun auf Schritt und Tritt begleiten, die Botschaft war klar: Wir wollen keine Fremden hier. Ich musste im Siegerland sein.
Zögernd stieg ich von Bergamont ab und folgte dem Schotter einige Kilometer bis zur nächsten Lichtung. Nach ein paar weiteren Kilometern auf Bergamonts Rücken fanden wir schließlich die auf der Karte verzeichnete Bigge-Quelle, an welcher wir rasteten. Die Einheimischen hatten die Quelle jedoch in Bauschutt eingefasst und hübsch mit gelblichen Syroporverpackungen dekoriert (Opfergaben?), so daß ich beschloss, weiterzuziehen, um nicht die Wut der Einheimischen durch das Stören dieses Stilebens auf mich zu ziehen.
Schließlich rasteten wir also auf einem hohen Hügel. Weit erstreckte sich das Siegerland vor mir und ich konnte zahlreiche Siegerländer mit bloßem Auge beobachten, die in ihren bunten Rollgehäusen emsig um die Hügel wimmelten.
Im nächsten Ort gelang es mir dann tatsächlich, den ersten
Siegerländer ohne Gehäuse zu beoachten und zwar just in dem Moment, als er sich aus seinem Rollgehäuse schälte. Nach wenigen Augenblicken hatte mich das Exemplar jedoch bemerkt und flüchte mit panischem Blick in sein Wohngehäuse. Hatte ich ihn etwa mit irgendetwas verängstigt? Tiefer im Ort stiess ich in kurzen Abständen auf drei weitere gehäuselose Exemplare, die jedoch ebenfalls bei einem freundlichen Anruf zusammenzuckten und die Flucht ergriffen. Tatsächlich scheint es so, als sei dem Siegerländer die Gefährlichkeit der eigenen Spezies bekannt, nur so ist seine unnatürliche Scheu wohl zu erklären. Zwar begegnete mir Verlauf der Reise auch einige wenige freundliche Exemplare, bei diesen stellte sich jedoch schnell heraus, daß es sich um fremde Entwicklungshelfer oder Missionare handelte.
Am späten Mittag erreichten wir auf der Spitze eines Berges eine versteckt liegende Fallenstellerhütte. Ich liess mich dort fürstlich bewirten und staunte über die gar wunderlichen Tiere, die der Fallensteller erlegt hatte. Erfreut nahm ich den unerwartet hohen hygienischen Standard zur Kenntniss, so trugen Zapfhahn und Gläser Warnschilder mit der Aufschrift "Krombacher", die wohl vor dem Genuss warnen sollten. Beim Aufbruch verlangte das Fallenstellerexemplar jedoch frech nach einer Bezahlung in harter Euro-Münze, mit der laut Literatur im Siegerland sonst üblichen Murmelwährung wollte es sich nicht zufrieden geben. Um den weiteren Verlauf meiner Reise nicht zu gefährden, warf ich ihm ein paar Münzen zu und zog schnell weiter.
Am späten Abend erreichten wir einen weit vorgeschobenen
Aussenposten der Zivilisation: Burg Bilstein. Hoch auf einem Felsen gelegen, kauerte sich die Burg nahezu ängstlich an den Berghang. Nach anstrengendem Aufstieg erreichte ich schließlich das massive Burgtor, an welchem ich nach kurzer Blickkontrolle eingelassen wurde. Nach ein paar angstvollen Blicken ins mittlerweile dunkle Dickicht schlug eine Burgdiener das Tor wieder hinter mir zu und brachte mich in mein Schlafgemach.
Beim Frühstück traff in zu meiner Freude weitere hochgebildete
Forscher, welche mir zahlreiche Frage zu den Roll- und Wohngehäusen der Siegerländer beantworten konnten. So handelt sich bei den Rollgehäusen wohl um kultische Objekte, mit denen der Siegerländer morgens und abends an religiösen Prozessionen in die nächstgelenge Siedlung teilnimmt, wobei man versucht, sich möglich langsam und würdevoll fortzubewegen und durch laute, eintönige Fanfarenstösse die Götter gnädig zu stimmen. Den religiösen Höhenpunkt erlebt die Woche dann jeden Freitag abend. An diesem Wochentag versammelt sich eine Art Priesterkaste mit ihren Rollgehäusen an einer in blaues Licht getauchten Kultstätte, deren Bezeichnung sich in unserem Sprachraum am ehesten als "Araltanke" ausprechen lässt. Dort mischen sich dann dumpfe Trommelschläge unter die bereits erwähnten Fanfarenstösse, während die anwesenden Siegerländer-Exemplare versuchen, durch den Genuss minderwertiger Alkoholika die Tristesse
des eigenen Daseins zu vergessen.
Frisch gestärkt brach ich auf machte sogleich erfreut eine weitere interessante Beobachtung: Der Siegerländer liebt Fahrräder über alles! Ständig versucht er selbst in seinem Rollgehäuse, möglichst engen körperlichen Kontakt mit dem Radfahrer aufzunehmen, egal wie breit die Strasse und leer die Gegenfahrbahn ist. Auf die Dauer wird diese Anhänglichkeit jedoch lästig, so daß ich weitere Exemplare mit drohenden Schlenkern auf Abstand bringen musste.
Viele Stunden und etliche hundert Höhenmeter später erreichten wir endlich die Siegquelle. Steil ging es ab hier mehre Kilometer bergab, nach bereits einer Stunde war Siegen erreicht. Hier hat sich der Fahrradkult hemmungslos Bahn gebrochen, überall sieht man lustige Schildchen mit Fahrrababbildungen am Wegesrand, mit roter, weisser, blauer oder grüner Farbe. Der ein oder andere Siegerländer hatte sich sogar ein oder mehrere Fahräder auf sein Rollgehäuse montiert - ob es sich hier auch um eine Art Priesterkaste handelt?
Oder will der so bestückte Siegerländer einen sozialen Status
demonstrieren? Tief im Herzen der Siedlung begegneten mir die ersten anderen Radfahrer, offensichtlich sogar inheimische: Gekleidet in engen papageienbunten Kleidchen und mit Kopfbedeckungen, die am ehesten an überdimensionale Narrenkappen erinnern, bewegen sie sich scheinbar ziellos und langsam über die Gehwege vorwärts.
Schnell drückten mir die dadaistische Verkehrsplanung und schmutzige Tristesse Siegens aufs Gemüt, so daß ich die Stadt schnell auf holprigen Pfaden durchquerte und weiter dem Lauf der Sieg folgte. In einem kleinem Vorort lüftete sich dann auch das schreckliche Geheimiss, warum ich nur so wenige heranwachsende Siegerländer beobachten konnte: In kleinen Seitenstrassen lockt man die ahnungs- und gehäuselosen Jungtiere mittels blauer Schilder mit der Abbildung spielender Kinder auf die Strasse um sie dann mit den bereits angesprochenen Rollgehäusen bei hohem Tempo zu erlegen. Ich spielte kurz mit dem Gedanken, diesem Brauch auf den Grund zu gehen (handelt sich um Opfergaben? um Populationskontrolle in Folge von Überbevölkerung?), aber meine Nerven schienen überreizt. Ich gab Bergamont die Sporen und erreichte nach einigen Kilometern die Freusburg, von welcher jahrhundertelang erfolgreich eine Ausbreitung
des Siegerländertums verhindert werden konnte. In meinem Nacken sass das Grauen, immer heftiger trieb ich Bergamont an und sah so schon nach wenigen Minuten die Türme von Kirchen. Noch wenige Meter... das Basislager! Gerettet!
Marcel Normann-----------------------------------------------------