Im Sommer 2003 beschloß ich ein Nachfolgerad für mein Hybrid auf VSF-Basis von 1989 zusammenzustellen.
Ich wollte weg von der Geometrie eines Geradeausläufers und wollte daher als Basis einen wendigen MTB-Rahmen verwenden. Dafür hatte ich schon mal angefangen Teile zu suchen als ich das Reiseradforum entdeckte.
Passiv erhielt ich durch Lesen viele brauchbare Anregungen, aktiv erlangte ich detailliertes Feedback durch die Forumsmitglieder. Dafür herzlichen Dank, insbesondere an u.a. Joerg046, Tivo, HeinzH, ma.dee, cyclist, Wolfgang Mohr, Alpha, Oliver!
Ich wollte der Bitte einiger, das Rad und sein Werdegang vorzustellen hier nachkommen.
Bedingt durch meine etwas außergewöhnlichen Körpermaße (Langer Rumpf mit kurzen Beinen und Armen) hatte ich mich bei meiner Suche auf keinem Rad optimal wohl gefühlt. So kam ich auf die Idee "Maßrad".
Von einem vielgepriesenen Stahl-Alchimisten namens Pallesen erfuhr ich, dem viele Jünger huldigten ;-)
Ich dachte mir, "das klingt gut" und erteilte den Auftragnach einem paar Telephonaten, ohne Pallesen vorher getroffen zu haben.
Um es vorweg zu nehmen: meine Erfahrungen waren unterschiedlich facettiert. "There was some good, there was some bad and then some"
Ein paar Sachen fand ich wirklich klasse gemacht, mit anderen Aspekten war ich überhaupt nicht zufrieden und mein daraus resultierendes Fazit folgt zum Schluß.
Einige von euch haben ja ein Norwid und äußerten sich durchweg positiv.
Das freut mich für euch, es kann aber auch -na sagen wir mal "suboptimal"- laufen...
Zielvorgabe Es sollte ein Esbjerg-Rahmen werden mit möglichst kurzem Radstand und steilem Steuerkopfwinkel, mit Rohloff-Ausfallenden, mit genügend Platz für einen 60mm Big Apple hinten und einer Federgabel mit 80mm Federweg vorne, mit Nectoro Rohloff-Vorbau+Lenker sowie parallel funktionierenden HS66 und HS11-Bremsgriffen.
Von der Linienführung und Farbwahl her wollte ich dem Rad einen Anstrich von Retro-Look geben.
Einen Teil der Komponenten hatte ich wie gesagt schon, Pallesen akzeptierte den Auftrag mit diesen Vorgaben und machte sich ans Werk.
Die
Teileliste im einzelnen:
- Rahmen:Esbjerg Columbus Thron megasize mit CC-gefrästem Norwid Rohloff Ausfallenden,
Hinterbaulänge:420mm, Steuerrohrwinkel 71,5°, Sitzrohrwinkel 73°, Bremszug im Oberrohr, Edelstahlcodierplatte
- Pulverbeschichtung in RAL 9011 mattklar (um Strukturen besser erkennen zu lassen und weil sich das klasse anfühlt), mit erhabenen Schriftzug "Suum cuique" (lat. "Jedem das Seine")
- Steuersatz: Stronglight Headstrong NCS 1 1/8"
- Kurbelsatz: Stronglight Mygal Mono
- Steuerlager: engtrade.de
- Federgabel: Magura Vidar (Stahlfeder/Öl), 80mm Federweg, Verstellbare Vorspannung und interne Zugstufenregelung
- Pedale: Point LU 940
- Lenker/Vorbau: Nectoro Rohloff-Rennlenker Kombination
- Lenkeraufsatz zur Anbringung von Klickfixplatte,Tacho, Klingel etc.: Point Extension Clamp EXTC 2
- Lenkerband: Cinelli/3M Reflexband
- Lenkerunterpolsterung: Specialized Gel Pads (sehr empfehlenswert)
- Federsattelstütze: Cane Creek Thudbuster "3G" 2004er Modell
- Sattel: Selle Royal Lookin
- VR-Nabe: Miche poliert
- HR-Nabel: Rohloff Speedhub CC-OEM-EX
- Felgen: Rigida DP 2000
- Speichen: DT Comp schwarz
- Speichennippel: DT Prolock schwarz
- VR-Reifen: Conti City Contact 47-559
- HR-Reifen: Big Apple 60-559
- Schläuche: Michelin Air Plus thorn resistant + extra airtight (der Praxistest wird es zeigen)
- Hauptbremse: Magura HS66
- Zusatzbremsgriffe parrallel eingebunden: HS11
- Kette: Rohloff SLT-99
- Dynamo: Dyonisis Lightspin
- Scheinwerfer: SON E6
- Rücklicht: D-Toplight
- Schutzbleche: SKS 60/559
- Gepäckträger: Tubus Logo
- Pitlock Sicherungen VR, HR, Sattelstütze
- Tacho: Sigma BC 1600 mit TF
- Flaschenhalter: Tacx Tao
Montagezeit Die avisierte Montagezeit wurde um 2 Sommermonate überzogen :-(. Pallesen hatte das Ausfallende, welches für mein Rad bestimmt war an einen anderen Händler weiterverkauft. Als er beim Hersteller des Ausfallendes nachbestellen wollte konnte dieser nicht liefern. Ich weiß, daß Guylaine-Geschädigte deutlich länger warteten - es war trotzdem ärgerlich + vollkommen überflüssig!!
Während der Wartezeit wurden Detailaspekte vorangetrieben so z.B. das Kombinieren der HS66 + HS11 Griffe. Als ich Pallesen meine Teile nach einem langen Trip von über 650 km brachte, (darunter auch die Teile, die mir Magura zur Kombination beider Griffe empfohlen hatte) meinte er nur "WIR werden die Teile, die WIR hierzu nötig finden besorgen und diese IHNEN in Rechnung stellen".
Er machte es letztlich genau so, wie Magura es mir vorgeschlagen hatte und verwendete auch die von mir besorgten Teile.
Die in der Auftragsbestätigung ausgeführten Montagekosten von 80 Euro verdoppelte Pallesen bei Abholung des Rades überraschend jedoch auf 160 Euro "wegen des Mehraufwandes".
100% Aufschlag fand ich schon happig :-(( und war "not amused" aber ich wollte das Rad nur noch heimbringen...
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Erste Erfahrungen Klar freute ich mich das Rad auf das ich so lange gewartet hatte, endlich zu sehen. Dem Äußeren nach entsprach es auch dem, was ich mir vorgestellt hatte.
Die weitere Bestandsaufnahme erfolgt chronologisch.
Der Rahmen war wirklich ganz wunderbar verarbeitet! Auch die Qualität des Lackes war absolute Sonderklasse, der Lack lud fast dazu ein, die Beschaffenheit der Muffen mit der Zunge nachzufühlen ( nee Quatsch ;-) Auch die erhabene Struktur des Schriftzuges lud geradezu ein, öfters die Finger darüber gleiten zu lassen *schwärm*
- Dann aber bestieg ich das Rad und ..... konnte die HS66-Griffe nicht vernünftig erreichen :-( Mein Vorschlag, die Griffe weiter nach oben zu schieben quittierte Pallesen mit "das wäre zu aufwendig, dazu müßte ich die gesamte Bremskonstruktion auseinander nehmen". Darauf hin drehte er den Lenker im Vorbau, so daß die Griffe weiter nach oben kamen. So kam ich trotz regulierter Bremsgriffweite besser von oben ran, von unten aber konnte ich es vergessen, da ich dazu das Handgelenk zu sehr nach oben abknicken müßte
- Als ich mir vorführen lassen wollte, wie sich das Rohloff Hinterrad ausbauen ließ stellte sich heraus, daß die Magura Schnellspanner am Gepäckträger nicht vorbeikamen. Gut, daß sich das Problem vor Ort stellte, denn so konnte Pallesen den Hebel soweit wegfräsen, daß er sich lösen ließ.
- Keine 5 km am Ufern des Plöner Sees gefahren und "Plock" fiel die Halterung des E6-Lampenhalters zur Seite weg. Sie war an der Gabelbrücke festgeschraubt und wollte Loctite sehen.
- "Kling Klang Kling Klang" machte es später beim Ein- und Ausfedern der Federgabel . Woher? Das wollte ich auch gerne wissen. Pallesen, den ich per Handy die Geräusche hören ließ meinte "stärkere Federn einbauen".
- Es ging aber leider weiter mit den akustischen Überraschungen. " Dung Dung Dung" machte etwas später der Conti-Reifen. Hier machte ich 2 Beulen an der Flanke und eine auf der Lauffläche aus. Telephonisch meinte Pallesen "dann müssen SIE den Reifen neu montieren und exakt parallel ausrichten".
Dazu kam es nicht, denn ich fuhr sofort (ich war noch in Schleswig Holstein) wieder zu Pallesen, damit er sich selbst darum kümmern möge.
- Der Lampenhalter war eine Kleinigkeit, er kriegte sein Loctite. Inzwischen hat er sich wieder gelöst, aber mit einem paar Zahnscheiben kriege ich den wohl fest.
- Das Kling Klang kam nicht von der Federgabel sondern von der Feder des Lenkungsdämpfers, die protestierte als sie beim Ein- und Ausfedern der Gabel lang gezogen wurde. Palllesen meinte, Federgabel mit Lenkungsdämpfer zu kombinieren wäre doch keine so gute Idee gewesen. In der Zwischenzeit habe ich eine längere Feder von Hebie eingesetzt und "gut ist"
- Beim Reifen konnte Pallesen sich das neue Montieren sparen denn es handelte sich um einen Karkassenschaden. Ein Anruf bei Conti und es wurde blitzschnell Ersatz geliefert. Seitdem keine Probleme.
- Zu Hause wunderte ich mich jedoch, warum der Sattel trotz mehrfachen Anziehens der Pitlock-Klemme ganz langsam nach unten wanderte.
Ich nahm daraufhin das Pitlock auseinander und stellte fest, daß die Andruckscheibe und die Teflonscheibe nicht montiert waren, photographierte die Achse wie sie montiert war und schickte das Bild an Pitlock. Herr Busse von Pitlock erklärte so könne kein Druck aufgebaut werden.
Pallesen meinte, es wäre sein Gehilfe, der mein Rad montiert und schickte mir eine neue Achse.
Das brachte jedoch nichts, der Sattel rutschte immer noch :-(
Also blieb nur noch die Möglichkeit, daß die von Pallesen gelieferte Thudbuster Federsattelstütze untermaßig sei. Mitgeliefert war eine Cane Creek Adapterhülse von 27,2/30,4, die aber die zu dünne Stütze durchrutschen ließ.
Daraufhin schickte Pallesen mir eine seiner eigenen Hülsen, die aber auch nicht packte.
Als ich erneut anrief schlug er mir vor, ich möge mit einem Körner einige 100x die Außenseite seiner Reduzierhülse bearbeiten, damit sie eine größere Oberfläche bekäme denn "Clane Creek macht halt keine 30,6 Hülsen".
15 min später hatte ich herausgefunden, daß Clane Creek genau diese Hülse auf seiner amerikanischen Seite listet und daß auch der deutsche Vertrieb sie führte. Als ich Pallesen damit konfrontierte meinte er "dann besorgen SIE sie sich doch" (da er die Stütze nicht über den deutschen Vertrieb bekommen hatte)!
Da die Hülse aber mit Porto immerhin 11 Euro kostet fragte ich ihn, wie er sich die Erstattung vorstellte. Daraufhin entgegnete er, daß er in diesem Falle mir seine alte Hülse sowie 4 Speichen, die er mir ohne Berechnung geschickt hatte in Rechnung stellen wollte. Das war mir dann echt zu blöde.
Bei einem Rad in dieser luftigen Preisregion um jeden Cent zu feilschen ist für mich genau das Gegenteil von Kundendienst, es ja auch nicht so, daß das Rad in einem perfekten Zustand übergeben wurde...
Die neue auf meine Rechnung besorgte original Adapterhülse hält jetzt aber endlich :-)
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Fahreigenschaften / Komponentenbewertung Wenn man mal diese Wermutstropfen ausblendet muß man aber schon sagen, daß sich das Rad klasse fährt. Auch mit Gepäck und über 70 km/h
runter flattert nichts (OK OK, ich mache letzteres nicht sehr oft und auch nicht sehr lange ;-)
Mein erstes gefedertes Rad! Das ist gannnnnnz was Feines!!! Nicht nur gewinnt man auf unebenem Gelände enorm an Souveränität bergab, gerade bergauf ist es enorm entspannend, nicht jede Unebenheit umrunden zu müssen. Die Magura-Gabel ist auch steif genug, daß sie etliches klaglos wegsteckt.
Die Rohloff-Nabe ist ein Traum! Absolut locker etliche Gänge durchschalten und dazu eine sehr brauchbare Entfaltungsbreite - klasse! Der theoretischen Mehraufwand beim Schalten mit Klickbox ist marginal. Das liegt sicherlich auch an der sehr schönen Schaltzugverlegung von Pallesen. Das ist ihm sehr schön gelungen! Die Klickbox kann ich persönlich nur empfehlen!
4 Bremsgriffe, davon bin ich auch begeistert, klappt prima!
Was die Verzögerungswirkung angeht muß ich noch ein wenig frickeln. Demnächst kommt die HS33 (Bremskörper und Griffe) dran, der knarzende Plastikgriff der HS11 nervte doch zu sehr. Mal gucken, ob andere Bremsbeläge besser meine Felge packen...
Zugegeben, ich habe keine praktischen Erfahrungen mit V-Brakes gemacht (habe den Entwicklungssprung Cantilever -> Magura direkt gemacht), ich möchte somit nicht ausschließen, daß diese besser verzögern, aber das teste ich demnächst mal an meinem Zweitrad.
Der E6 als Scheinwerfer ist in seiner Ausleuchtung einfach überzeugend. Sollte man einen breiteren Lichtkegel brauchen kann man einen zweiten E6 anschließen.
In Sachen Helligkeit gibt aus dem MTB-Bereich Lösungen, u.a.
http://www.solidlights.co.uk/features/bright.php die an Stadionbeleuchtung erinnern, sie ziehen jedoch in bezug auf die Energieversorgung Probleme nach sich (Akkugröße, Kapazität, externe Kontrollmonitore, Ladezeit usw. usf.), mit denen ich mich nicht belasten möchte - daher die Dynamolösung.
Die Lightspin -Rolle dreht einmal angeschubst ein ganzes Weilchen vollkommen lautlos weiter.
Der Lightspin ist auf jeden Fall eine Ausnahmeseitenläufer (ausführliche Infos unter
http://www.pdeleuw.de/fahrrad/lightspin.html ,
http://www.dynosys-ag.ch/ ) In einem bei SON /Schmidt in Tübingen abgehaltenen Vergleichstest hatte der Lightspin den SON im Wirkungsgrad und Spannung übertroffen ( SON Wirkungsgrad bei 10/20/30 km/h =64/56/48 % , Spannung 4,9/5,9/6,8 Volt und Lightspin 71/67/58 % und Spannung 5,1/6,3/6,3) ). Es ist auch wirklich so, daß ab 8 km/h sofort die ganze Leistung da ist.
Aaaaaber:an meinem Big Apple mit seitlicher Riffelung und weniger als 2cm Abstand zur Laufrolle entstehen leider deutliche Laufgeräusche. An der Ausrichtung auf die Achse liegt es nicht, eher daran, daß die recht grobe Reifenriffellung sich mit der Laufrolle bei diesem Abstand nicht verträgt. Ich werde jetzt mit anderen Laufrollen experimentieren bzw. die Originalrolle etwas "bearbeiten". Ansonsten: Durchrutschen ist auch bei starkem Regen kein Problem.
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Ausblick Das Problem mit den schlecht erreichbaren Bremsgriffen versuche ich jetzt mit einer Gabelschaftverlängerung, die mir die Griffe "entgegenbringt" zu lösen.
Als letzte Option hätte ich, einen ganz neuen Gabelschaft montieren zu lassen, der sehr viel weniger gekürzt würde.
Hypothetisch das Oberrohr kürzer konzipiert zu haben hätte nichts gebracht, weil ich sonst mit meiner Schuhspitze das Schutzblech berührt hätte.
Insgesamt habe ich das Rad so konzipiert, daß eine Vielzahl von Optionen reversibel bleibt. Die jetzt absolut notwendigen Änderungen bedingen jetzt noch ein paar Stunden Bastelarbeit (ärgerlicherweise auch Mehrkosten), aber das wird schon...
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Fazit Ein Maßrad ist etwas Schönes (auch für´s Ego ;-) wenn man mit einem Rahmen von der Stange nicht klar kommt. Der Unterschied ist eher klein aber entscheidend.
Leider kann man ein Maßrad nicht probefahren, da es fertig ja nie im Vorführraum steht. Neben der Qualität des Rahmens spielt natürlich eine Rolle, wie konzeptionell umfassend der Rahmenbauer auf die eigenen Bedürfnisse ernsthaft eingeht und die Montage gewissenhaft vornimmt. Hier muß die Chemie stimmen und eine Vertrauensbasis vorliegen, sonst ärgert man sich nur.
Hierzu sollten sich die Beteiligten unbedingt vorher (!) treffen.
Ich bin mittlerweile überzeugt: ein g-u-t-e-r Kundendienst sollte in maximal 2 Autostunden Entfernung erreichbar sein,
gleichgültig ob es um Nachbesserungen oder andere praktische Hilfestellungen geht; somit würde ich persönlich nur noch einen Auftrag vergeben, wenn der Rahmenbauer näher dran wohnte; von einer Blindbestellung wie in meinem Fall würde ich in Zukunft absehen.
Grüße,
moogley