Hallo zusammen,
ich beschreibe anbei mein Schaltungskonzept, welches ich gerade bei meinem neuen Reiserad-Neuaufbau auf der Basis eines Intec M1-Rahmens (26er-Räder, Rennlenker mit STI-Hebeln) verwirklicht habe. Vielleicht mag es ja für den einen oder anderen eine Anregung sein, auch wenn der Ansatz eigentlich aus dem Museum stammt...
Prämissen: In der Ebene benutze ich am meisten den Entfaltungsbereich zwischen ca. 3,5 m bis ca. 5,5 m. Hier ist mir eine feine Abstufung („halbe Gänge“) sehr wichtig. An meinem anderen Fahrrad benutze ich deshalb ein gepimptes 9-fach-Rennritzelpaket 14-15-16-17-18-19-21-25-30 mit einer 24/36/48-Kurbel. Das hat aber die Nachteile, dass
1) die ganz kleinen Entfaltungen fehlen (insb. für ein schweres Reiserad mit Gepäck).
2) man die halben Gänge auch dann schalten muss, wenn man sie eigentlich gar nicht haben will, z.B. im Stadtverkehr mit häufigem Anfahren oder wenn man vorne auf dem kleinen Blatt fährt.
Ich wollte also gerne kurze Bergübersetzungen mit einer feinen Abstufungen für die Ebene kombinieren. Auf der anderen Seite war ich aber zu deutlichen Zugeständnissen bei den langen Gängen bereit: Eine Entfaltung von 7 – 7,5 m im längsten Gang reicht mir vollkommen und Entfaltungen von über 8 m fahre ich erfahrungsgemäß nutzlos spazieren. Ich lasse bergab lieber rollen und genieße die Kurbelpause und ich habe selten oder nie das Bedürfnis, z.B. bei 30 km/h dann noch auf 40 km/h zu beschleunigen, um möglichst schnell unten zu sein. (Mit einem vollbeladenen Reiserad wird das erst recht so sein.)
Durch Internet-Recherche und insb. einigen sehr interessanten Artikeln in der „Fahrradzukunft“ über das „half step plus granny“-Schaltkonzept bin ich inspiriert worden und habe schließlich mit einer Standard-10er-Kassette 11-36 und einer selbst zusammengestellten 22/36/38-Kurbel das folgende Schema realisiert:
http://www.ritzelrechner.de/?GR=DERS&...=2.6&UN=KMH Es bietet:
- 23 nutzbare Gänge
- davon 12 relativ gleichmäßig abgestufte, halbe Gänge im Entfaltungsbereich von 3,2 m bis 6,2 m. Der durchschnittliche Schaltsprung in diesem Bereich ist 6,5 %.
- auf dem kleinen Blatt bergtaugliche Gänge in Sprüngen von ca. 15 % bis hinunter zu einer Entfaltung von knapp 1,3 m
- eine Entfaltung im höchsten Gang von 7,25 m. Das reicht noch für 35 km/h bei TF 80, was mir dicke genügt.
Ich finde das half step-Schaltungsschema überhaupt nicht kompliziert, denn es folgt einer ganz einfachen Regel, die man schnell verinnerlicht:
Entspricht der erwünschte halbe Schaltschritt „richtungsgemäß“ (rauf/runter) dem Wechsel (rauf/runter) zwischen mittlerem und großen Kettenblatt?
Ja: nur vorne schalten
Nein: vorne schalten, hinten gegenschalten (das Gegenschalten erfolgt immer mit entsprechenden STI-Hebel wie vorne: Nimmt man vorne den kleinen „Klackerhebel“, dann hinten auch. Nimmt man vorne den Bremshebel, dann hinten auch).
Das Schalten selbst, auch gleichzeitig vorne/hinten, ist mit den STI-Hebeln ja ohnehin sehr komfortabel. Es ist sehr vorteilhaft, die halben Schritte nicht schalten zu müssen, sondern nur optional über das „große“ Blatt zur Verfügung zu haben, z.B. auf gerader Strecke mit Gegenwind etc.
Den Umwerfer habe ich so justiert, dass ich auf dem mittleren Blatt die ganze Kassette schleiffrei bespielen kann. Ein Schleifen der Kette am großen Blatt ist bei der 2-Zähne-Differenz 36/38 ohnehin kein Thema. Dadurch habe ich einen Entfaltungsbereich von 2,1 m bis 6,9 m in vollen Gängen im „Normalbetrieb“ allein auf dem mittleren Blatt. Die beiden anderen Blätter sind eine Option für steile/lange Berge bzw. für die halben Gänge in der Ebene. Zum Thema Kettenschräglauf: Beim MTB ist ja jetzt Marketing-Hype, vorne nur noch 1-fach ohne Umwerfer zu haben. Was ist denn der Unterschied zwischen 1-fach und mittlerem Kettenblatt (3-fach) mit ähnlicher Kettenlinie? M.E. ist sehr vieles fahrbar, solange es schleiffrei ist, und das ist hier ja der Fall.
Die Differenz von 14 Zähnen zwischen 22 und 36 ist problemlos schaltbar. Auch ein 20er („Mountain Goat“) wäre sicherlich machbar, dann würde die min. Entfaltung sogar bei 1,15 m liegen. Ich habe zudem ein Kettenschutzkasten von SKS montiert. Dessen Halteblech wird in den Aufbau zwischen Tretlagergehäuse und außenliegender Lagerschale (HT II) geklemmt und wirkt dadurch als Kettenführung. Beim Abwurf der Kette vom mittleren Kettenblatt wird diese sehr zuverlässig auf das kleine Blatt geführt. Zwischen kleinem Blatt und diesem Halteblech ist so wenig Platz, dass sich die Kette erst gar nicht auf das Tretlagergehäuse verirren kann. (Ohne das würde ich sicherheitshalber einen Kettenabweiser montieren, dann sollte es auch gut funktionieren.)
Relevante verwendete Teile:
1) STI-Schaltbremshebel STI 5703 (3x10)
2) 10fach 11-36-Kassette von Shimano. Das ist ein Standard-Teil. Es muss hier nichts kombiniert werden.
3) Hollowtech II Deore-Trekkingkurbel 26/36/48. Das 48er habe ich durch ein 38er ausgetauscht. Das 26er habe ich durch ein 22er getauscht (letzteres ist im Grunde nur optional und für die halben Schritte ja nicht wichtig)
4) 9-fach MTB-Shadow-Schaltwerk mit großem Käfig („SGS“). Ich habe das aus der Alvio-Reihe genommen. Ist günstig und m.E. gut genug. Wichtig ist 9-fach aufgrund der kompatiblen Seileinzuglängen zwischen RR 10-fach und MTB 9-fach. (Schaltet problemlos 10-fach, denn der Schwenkbereich (Kassettenbreite) ist ja dieselbe.)
5) (Downpull-)Umwerfer 2-fach(!) aus der Shimano 105er-Reihe. 2-fach ist wichtig, weil das innere Blech des Schaltkäfigs hier nicht so weit heruntergezogen ist. Dadurch kann der Umwerfer so eingestellt werden, dass bei Kettenlauf auf dem großen Blatt dieses Blech nicht auf dem mittleren Blatt schleift. Der Umwerfer ist vom Radius her eigentlich für ein großes Blatt von > 50 Zähnen vorgesehen. Das sieht komisch aus, funktioniert aber trotzdem. Die Aufbauhöhe des Umwerfers ist praktischerweise klein genug, dass bei Kettenlauf auf dem kleinsten Blatt die Verbindungsstrebe des Umwerferkäfigs nicht auf der Kettenstrebe aufsetzt. (Bei mir ist noch ca. 2-3 mm Platz.) Aber: Der Schwenkbereich des Werfers hat ursprünglich nicht ganz ausgereicht, um alle 3 Blätter schalten zu können: Die kleine Kunststoffnase, die auf die Begrenzungsschraube für die äußere Maximalposition trifft, setzt „irgendwo“ auf, wenn man eben diese Begrenzungsschraube ganz herausdreht, und begrenzt dadurch den äußeren Anschlag zu sehr. Diese Nase habe ich mit einer Feile vorsichtig abgeschliffen (ca. 15 Minuten Arbeit), um den Umwerfer gefügig zu machen. Der Schwenkbereich wurde dadurch geringfügig nach außen (rechts) erweitert. Außerdem habe ich beim Einbau der Kurbel zwischen Kurbel und Innenlager einen Spacer (ca. 1 mm) weniger genommen als angegeben und dadurch die Kettenlinie geringfügig nach innen verschoben, was dem Schwenkbereich des Umwerfers nochmal entgegenkam. (Die Kettenlinie etwas nach innen zu setzen ist bei half-step-granny tendenziell sowieso sinnvoll, denn der Lehre nach sollte nicht das mittlere Kettenblatt, sondern die Mittellinie zwischen mittlerem und großem Kettenblatt auf der Mittellinie der Kassette liegen.)
So funktioniert es gut. 36 auf 22 ist kein Problem dank des Führungsbleches des Kettenschutzkastens. 22 auf 36 ist bei halbwegs vorsichtiger Betätigung des STI-Hebels auch völlig problemlos. Die Wechsel 36 <--> 38 flutschen sowieso.
Ich weiß, dass „half step plus granny“ im Zeitalter von 11- oder 12-fach-Kassetten und 14- oder 18-Gang-Getrieben als verstaubt gilt. Trotzdem habe ich hiermit eine Möglichkeit gefunden und umgesetzt, die meine persönlichen Anforderungen perfekt abdeckt. Ich wüsste ehrlich gesagt auch gar nicht, wie ich sonst genau diese Anforderungen unter einen Hut hätte bekommen sollen. (Einzige Alternative wäre gewesen: Rohloff mit zwei half-step-Kettenblättern und Umwerfer / Kettenspanner. Aber das war mir zu teuer und gefällt mir rein subjektiv nicht so. Wenn ich eine Nabenschaltung habe, dann möchte ich keinen Kettenspanner/Umwerfer-Gedöns.)
Wenn ich mit meiner Beschreibung eine Anregung geben oder sogar zu Nachahmung anstiften kann, freue ich mich. J
VG, Tilman