In diesem Kapitelchen wollte ich bereits das Dach meiner kleinen Tour erreichen und mich zügig auf den Rückweg machen, aber ich schaffe es leider nur von Appenzell über Glarus und Schlandern bis zum Vierwaldstätter See. Erst im nächsten Beitrag kann ich Andermatt und den Gotthard erklimmen
. Aber was mich betrifft, ich mach beharrlich weiter bis zur Zieleinfahrt
.
Das akribische Kartenstudium entlang der Veloroute 4 kommt beim Frühstück zu folgendem Ergebnis: Von Appenzell zunächst ein mäßiger Anstieg in Richtung Urnäsch, dann Abfahrt, erster starker Anstieg hinter Urnäsch, dann Abfahrt, nun folgt ein sehr starker Anstieg bis Hemberg, dann – was sonst - Abfahrt und dann ein steiler Anstieg in Kombination mit einer rasanten Abfahrt nach Wattwil, dann wahrscheinlich wieder ein Anstieg, eine Abfahrt – keine Ahnung - und schließlich über Kaltbrunn, Näfels und Glarus noch etwas talaufwärts bis Schlandern, meinem heutigen Etappenziel.
So weit die Theorie. In der Praxis einer Fahrt durch´ s Appenzeller Land sind es oft nur noch ein paar hundert Meter Luftlinie bis zum nächsten Dorf. Denn sobald man einen Bergbuckel erobert hat, sieht man die nächste Siedlung zum Greifen nahe zusammengekauert auf dem höchsten Punkt des gegenüberliegenden Hügels. Doch die schmale Straße stürzt sich zu Tal, ach was, sie überstürzt sich zu Tal, sie liebkost eine felsige Schlucht, hoppelt über den quirligen Bach, rekelt sich in felsige Flanken und klettert an der gegenüberliegenden Wand euphorisch gen Himmel. Zehn, zwölf Prozent Steigung schätzungsweise, und der eifrige Radler hat nach ein paar bodenständigen Kilometern entlang der Topographie das gegenüberliegende Hügelchen samt Dörfchen erklommen.
Diese wiederkehrenden Anstiege lassen sich übrigens bequem in kleine Häppchen portionieren, denn alle fünfzig oder hundert Meter markiert ein in den Straßenrand gerammter Holzpfahl den Verlauf des Asphalts, wahrscheinlich weil sich in dieser Gegend während des zehn Monate dauernden Winterhalbjahrs der Schnee drei Meter hoch türmt und dann die Route für Fahrzeuglenker aller Art unerkennbar unter sich begräbt.
Der Velonaut verliert also ständig 200 Höhenmeter im Sturzflug zu Tal, die er immer wieder auf´ s Neue im strammen Gegenanstieg zurückerobern darf. Ein gelungenes Trainingsprogramm im Rhythmus zwischen minimaler und maximaler Velogeschwindigkeit. Fabelhaft, denn exakt so habe ich mir das Radeln in der Schweiz – äh – im schweizerischen Voralpenland vorgestellt. Das macht Spaß und ich ignoriere nicht ohne Stolz die dicklichen Motorradfahrer, die sich in so manchem Dorf beim Capuccino von ihren Strapazen erholen.
Nach Kilometer 40 oder 50 erreiche ich ein Hochplateau und es öffnet sich ein hemmungslos grandioser Blick: Unten im Tal zu meiner Rechten blinzelt in einiger Ferne das Wasser des Zürichsees im schimmernden Licht, zu meiner Linken weitet sich lasziv ein ausgedehntes Tiefland, deftig grün und fruchtbar, und im Hintergrund erheben sich die unzähligen Zacken, Flanken und Gipfel der steinernen Riesen. Sie funkeln und leuchten in einem Potpourri aus grünen und grauen, schwarzen und braunen, blauen und weißen Farben.
Unmissverständlich liegt jetzt das Alpenvorland hinter mir und die Bergwelt vor mir. Mann, ich bin jetzt aufgeregt.
Eine enthusiastische Abfahrt in ein paar Kurven führt mich in ein zunächst noch wiesensattes weites Tal, das sich in den Glarner Alpen rasch verengt und alsbald den Radkurs im Zick Zack durch viele kleine Gewerbegebiete und Neubausiedlungen zwängt.
Bin bereits um 14 Uhr in Schlandern und finde sofort den Bahnhof. Dort ist der Schlüssel für mein Zimmer hinterlegt, das ich gestern telefonisch reserviert habe. Ich finde diese vertrauensvolle Methode sehr charmant, denn eigentlich hat der Gasthof heute geschlossen und ich werde über Nacht der einzige Bewohner sein. Bemerkenswert.
Bin jetzt also angekommen zu meiner ersten, kleinen Alpenexkursion. Und das genieße ich im hellen Sonnenlicht, bewundere die Berge von unten, fahr ein kleines Stück in Richtung Klausen, dann zurück nach Glarus, erkunde die Stadt, aha, hier geht´ s zum Pragel, nehme eine üppige Vesper aus Speck, Käse und Schinken, bin zwar überrascht, dass ich so früh hier angekommen bin, traue mir den Klausenpass aber heute nicht mehr zu, spüre sehr intensiv das gute Gefühl, sorgenfrei auf Reisen zu sein, kein Glück, aber eine große und ruhige Zufriedenheit. Alles fließt - panta rhei.
Heftiger Regen weckt mich während der Nacht. Die Wirtsleute beim schönen Frühstück zu dritt und nicht zuletzt das überraschend fachkundige Bahnhofspersonal raten mir eindringlich davon ab, heute einen Pass mit dem Rad zu fahren. Nun gut, den Klausen lass ich sausen und versuche ab Glarus ein paar Meter zum Pragel zu steigen. Macht auch keinen Sinn und ich nehme den Zug über Pfäffikon nach Arth-Goldau. Betrachte die Schlieren und Schwaden des prasselnden Regens am Fenster und erschrecke ein wenig als der keuchende Zug in vielen Kurven die schroffen Felsen hinunter nach Goldau rattert. Mann, ist das steil hier und so was nennt sich Vor-Alpen-Express, als wär das hier die Lüneburger Heide.
Ein paar wenige Kilometer durch den Regen, vorbei an Schwyz, und ich bin in Brunnen. Sitze stumm in einem Café am Ufer, suche mir ein Zimmer, deponiere mein Gepäck und beschließe eine Rundfahrt um den Vierwaldstätter See. Bei gutem Wetter isses hier wahrscheinlich ganz schön. Gedacht – erhört und der Graupel verwandelt sich in Niesel. Als ich in der nördlichen Bucht bei Küssnacht die Veloroute verliere, verbünde ich mich mit einem Rennradfahrer, der mich in hohem Tempo entlang der Hauptstraße in die quirlige Luzerner Altstadt geleitet. Mein Plan für morgen, die Schöllenen hoch nach Andermatt - niemals könne er mir das empfehlen. Sehr steil, viele Galerien, viel Verkehr, sehr unangenehm und zudem gefährlich. Nein, er würde auf jeden Fall den Zug nehmen. Paah ! Ich hab heut schon am Pragel gekniffen. Kommt überhaupt nicht in Frage
In Luzern müffelt es nach Geld, mit Verlaub, ich bin kein Feind von Luxus und Reichtum, ich finde Geld nicht unanständig und gönne jedem Menschen dieser Welt ein verzehnfachtes Einkommen, auch mir selbst, aber hier, naja, es stinkt nicht direkt in unverschämter Weise, aber es müffelt doch schon etwas taktlos. Der Duft von dicken Bündeln Schweizer Franken flirrt durch die Luft in dieser kleinen Stadt und belastet ein wenig das freie Denken und Atmen. Ich parke mein stolzes Velo trotzig neben einem ungeheuerlich großen Rolls Royce und gönne mir ein winziges Schälchen geschnippelter Gurke und Tomate für 18 Fränkli 50.
Beim Anblick der demonstrativ monumentalen Kunsthalle bin ich mir sicher: Im Vergleich wirkt das neue und ambitionierte Stuttgarter Kunstmuseum am Schlossplatz wie eine kleinkarierte Billigheimer-Hinterhofbarracke aus dem Uelzener Baumarkt.
Verlasse erhobenen und trockenen Hauptes die Uferpromenade. Auf der Veloroute rund um den See begegnet mir kein einziger Tourenradler, aber so einige Rennvelos von BMC oder Trek, Frauen und Männer im Alter zwischen 20 und 70 im emsigen Regionalverkehr, manche mit kleinen Tagesrucksäcken, hin und wieder mal ein Mountainbike von Cannondale, bloß kein billiges Zeugs, und immer flott in die Pedale. Am felsigen Südufer verläuft parallel zum Radweg eine Autobahn, die einige steil aufragende Felsen durchsticht. An einer Engstelle verkündet das Schild: „Während dem Betrieb der Materialseilbahn für Fußgänger und Velos für zehn Minuten geschlossen“. Nach wenigen Minuten öffnet sich die automatische Schranke und gibt den Weg entlang der Felsen frei. Cool, oder?
In einer unübersichtlichen Flussaue verfranse ich mich mehrmals in einem Wirrwarr neu angelegter Freizeitwege und Hochwasserdämme und stoße dabei mehrmals auf eine Joggerin, die mehrmals versucht, mich in die richtige Richtung zu lenken. Beim x-ten Mal lachen wir gemeinsam und sie schenkt mir in herzzerreißender Herzlichkeit ein Vierblättriges Kleeblatt, das sie heute gefunden hat und das mir viel Glück bringen soll. „Schöne Zeit und gute Reise“ wünscht mir die Schweizer Fee zum Abschied und ich gestehe, dass ich auch im Nachhinein noch sehr beeindruckt bin.
Nach Fahrplan legt die Fähre bei Beckenried um 17 Uhr 20 ab. Nicht um 17 Uhr 19 und auch nicht um 17 Uhr 21. Noch um 17 Uhr 18 hat man nicht den Eindruck, dass der Kahn sich heut noch mal bewegen würde. Außer einem halben Dutzend wartender Autos, meinem Velo und mir ist niemand zu sehen und nichts zu hören. Es tut sich überhaupt nichts. Um 17 Uhr 18 und schätzungsweise 45 Sekunden springen der Kapitän und sein Adjutant aus dem Bootshaus, schwingen sich auf´ s Schiff, lösen die Leinen, starten den Motor, platzieren die Passagiere und legen ab. Ein perfektes Zusammenspiel. Die Fahrzeit beträgt 20 Minuten. Nicht 19 dreiviertel und auch nicht 21 ein halb. Exakt nach 20 Minuten legt der Frachter mit einem souveränen Landemanöver um präzise 17 Uhr 40 am gegenüberliegenden Ufer an. Wir Fahrgäste sind fast alle Touristen und wir beschmunzeln und bestaunen und bewundern diese außergewöhnlich perfekte Vorführung lautlos, fassungslos und anstandslos. Für heute haben mir die Schweizer jedenfalls alle ihre Klischees auf´ s Überzeugendste bestätigt.
An der Uferstraße in Gersau finde ich eine Kneipe, dort wird der Grill vorbereitet und es gibt ein Bier. Was den Schwaben eine „Halbe“, ist den Schweizern in dieser Gegend ein „Chübli“. Nach süddeutscher Lesart handelt es sich nicht um ein großes Bier, sondern eben um eine „Halbe“. Und die hier nennen das gleich „Kübel“?
Ringsrum über den direkt vom See aus steil aufragenden Bergketten türmen sich gigantische Wolkenungeheuer, sie lauern und blähen sich brodelnd über den Gipfeln wie es uns von den hämischen Vulkanen im Vorfeld ihrer Eruption vertraut sein sollte.
Nun ja, am See ist es heute Nachmittag trocken geblieben, sitze hier also für einen Moment, sortiere meine vielen Eindrücke und erkenne in einem Sekundenbruchteil wie so ein 58 Kilo Fabian Cancellara mit sagenumwobener Geschwindigkeit an meinem Biertisch vorüberzischt.
Ziehe mich zurück nach Brunnen, wo mir an der zentralen Kreuzung des Örtchens ein Trupp rasender Randonneure aus Richtung Axenstraße entgegen kommt. Ich bin völlig begeistert von diesen Jungs, es gibt sie also doch, die Tourenradler in der Schweiz. Leider verzichten sie auf einen Zwischenstopp. Setze mich deshalb im Badhüsli an der Kante zwischen Ober- und Untersee zur Ruhe und beschließe, diese Ecke hier, ja, diese Ecke hier hat durchaus ihren Charme.