Kurz zu vor dachte ich so hört sich klasse an wider mit den Rad durch dem Laub zu fahren.
Ja, so wie es Sommererlebnisse des Radelns gibt, ist der Radler auch im Herbst auf das verwiesen, was ihm die Jahreszeit vor das rollende Rad streut. Der Duft, der vom Laub in die kühle Luft aufsteigt, die leicht einsinkende Bewegung im Fahren und das einsilbige aufgeregte helle Rauschen, in dem das Rascheln der Blätter fast verschwunden ist, können für einen Augenblick und für ein Glück des Herbstes, als hätte dieser wie mit einem Löschpapier den Druck des Lebens abgenommen, die Möglichkeit unbeschwerten, leichten Daseins ins Gemüt zaubern; dann endlich segelt der Mensch, wie von der Rückkehr eines Traumes friedlich überrascht, und als hätt' er Flügel, unter flammend verfärbtem Laubwerk auf seinem Drahtesel, und wenn die Tatsächlichkeit des Vorgangs ihm auch fraglos scheint, so bleiben das genauere Wann und Wo dieser Bewegung ihrem Wie gegenüber doch unberücksichtigt.
In meinem Fall, der schon länger zurückliegt, hatten zwei Mitschüler die Rolle des Stolpersteines, die für Dich ein Ast zu spielen hatte, übernommen, und es war auch nicht Herbst, sondern schon Winter. Vielleicht klingt es wie eine Übertreibung, aber noch heute sehe ich die graue Luft der frühen Morgendämmerung, die dem bevorstehenden Schultag, diesem fühlbaren Block von sechs Stunden, die Dichte eines schweren alten Steines gab, als ich mich mit dem Rad auf den Weg machte. Nachts hatte es ein wenig geschneit; im Stadtwald lag die dünne weiße Schicht auf Baum, Boden, Busch und Weg. Windstille. Vor mir die Spuren von zwei, drei Rädern auf dem asphaltierten Waldweg. Wie es dazu kam, kann ich nicht sagen, aber plötzlich hatte ich entdeckt, daß bei ungespanntem Blick auf die Spuren im Schnee, wenn nur die Distanz recht bemessen war, der Blick vom Fluß der Linien nicht fortgetragen wurde, sondern den Verschlingungen nachging. als seien es lebendig gewordene, ausdrucksvolle Linien in einem Bild. Ja, und in dieses Bild hineinzuschauen war ähnlich beruhigend und doch zugleich aufregend wie eine Musik, die draußen spielt, aber nur innen gehört wird. Einzigartig ist die Stille, die im Wald um das Zwiegespräch von Schnee und Reifen sich ausbreitet! Wie es dann dazu gekommen war, daß meine Hände vom Lenker sich gelöst hatten, weiß ich auch nicht zu sagen. Aber an das Gefühl erinnere ich mich genau: denn da hatte ich schon begriffen, daß die Versenkung in diese Linien mir alles zeigte, worin der Weg meine Aufmerksamkeit würde beanspruchen können; als sei eine andere Zeit, eine gedehnte, in der die Dinge anders zueinander stehen, angebrochen. Da reichte eine leichte Neigung des Oberkörpers, um, bei doch zügiger Fahrt, in eine Kurve zu gehen, die schon angefangen hatte: gelesen in einem Bild!
Die beiden Mitschüler hatten aus GottweißwelchenGründen ihre Fahrt unterbrochen, hatten von fern schon ihren Mitschüler erkannt, aber aus GottweißwelchenGründen den freihändig Fahrenden auch dann nicht angerufen, als er schon ganz nahe war. Sie hätten, sagten sie später, ein merkwürdiges Gefühl gehabt, es sei etwas an dem Näherkommenden oder an seinem Näherkommen gewesen, was sie gleichsam gebannt hätte; obwohl es zu sehen gewesen sei, daß sie von dem unentwegt auf sie Zukommenden nicht gesehen wurden, hätten sie doch kein Zeichen ihrer Anwesenheit, ihrer Gegenwart zu geben vermocht. Ja, nicht einmal, als der Nahgekommene schon in sie, die noch stumm auf dem Weg verhartt hatten, hineingefahren und über sein Rad und den Gepäckträger eines der auf dem Weg stehenden Räder "geflogen" (ihr Ausdruck) war, hatten sie die Wirkung dieser Bewegung auf sie zu noch nicht überwunden, Der ganze Vorgang, so beide später immer wieder in völligem Einvernehmen, sei gewissermaßen "unwirklich" gewesen und "unglaublich" (ihre Ausdrücke).
Ich aber, geschützt durch die langsame Hörigkeit vor dem Gewahrwerden jeglicher Gefahr, war sanft gelandet: hatte nichts und niemand gesehen! Als ich unten lag, spürte ich, wie Schnee auf meinem Gesicht schmolz und daß dann das Wasser bis an die Lippe lief; später wiesen sie auf mich und ich entdeckte im Spiegel die schon klebrig werdenden Rinnsale des Blutes zwischen Stirn und Mund. Auch in der ersten Schulstunde noch: wie friedlich das Licht der Morgensonne auf der noch unbeschriebenen Tafel!
Einen Gruß von
Tilmann