Die Apothekerin hat sowohl fachlich richtig gehandelt, es ist ihr genau nichts fachlich vorzuwerfen, als auch lebensfremd. Warum?
Sie muß sich so verhalten, daß gemäß ihrem Kenntnisstand, bzw dem, was an Kenntnis von ihr erwartet wird, das ausgegebene Produkt bis an die Grenze ihrer Zuständigkeit hin sachgemäß behandelt wird. Sobald dieser Zuständigkeitsbereich verlassen wird, indem der Kunde es in seinen Besitz übernimmt, ist sie von dieser Sorgfaltspflicht befreit. Das ist sie auch dann, wenn der Kunde sich anders verhält, als er das im Laden angekündigt hat.
Ob ihre Kenntnisse bis in das praktische Leben reichen, das der konkrete Kunde, oder auch der durchschnittliche Kunde praktizieren, spielt keine Rolle. Sie muß sich an das halten, was ihr vom Hersteller und vonseiten ihrer Fachausbildung zu diesem Thema an Wissen bereitgestellt wird. Ob dieses Wissen lebenspraktisch ist, muß sie unabhängig von den gerade genannten Voraussetzungen bzw über diese hinaus nicht überprüfen.
Wenn sie, um bei Insulinpräparaten zu bleiben, das Produkt passend gelagert hat und sich vergewissert, daß es der Kunde so nach hause transportiert, daß es voraussehbar keinen schädlichen Einwirkungen ausgesetzt sein wird, ist sie von ihrer Sorgfaltspflicht befreit. Sie ist nicht verpflichtet, den Kunden bis zu seiner Wohnung zu begleiten oder zu prüfen, ab wann das Präparat tatsächlich Schaden erleidet und ob dieser Fall eintritt. Eine Überprüfung nach lebenspraktischen Gesichtspunkten ist für sie irrelevant.
Die Lebenswirklichkeit zeigt aber empirisch, daß diese Insulinpräparate bei weitem (!) nicht so temperaturempfindlich sind, wie das seitens der Hersteller gesagt wird. Ich bin jahrelang jeden Sommer mit gut isoliertem aber nicht gekühltem Insulinpräparat auf Radreise im Süden unterwegs. Im Gepäck-Tascheninneren dürften die Vorräte noch weniger erhitzt werden, als das momentan Genutzte in der Lenkertasche.
Bei Außentemperaturen bis zu 50° in der Sonne müßten aber alle Vorräte vollkommen kaputt gegangen sein, wenn es nach Lehrbuchmeinung geht. Was definitiv nicht der Fall war, sonst könnte ich heute hier nicht schreiben. Es handelt sich hierbei erkennbar um eine Absicherung, die mit massivem Toleranzbereich ausgestattet ist.
Daher kommt mein wohlmeinendes Schmunzeln, wenn ich beim Verlassen der Apotheke bei Temperaturen von meinetwegen 25° in D nach dem Bedarf einer Kühltasche gefragt werde, und meine Gedanken, was sie wohl dazu sagen würde, wenn ich das nächstemal im Herbst komme, wenn ich erzähle, daß die Patronen wieder über >4 Wochen in I und GR überlebt haben und nicht einmal nachts in den Kühlschrank wanderten.
Noch weniger lebenspraktisch scheint mir zu sein, daß im anderen Extrem bei winterlichen Temperaturen im Frostbereich nicht dieselben Fragen gestellt werden. Ein meinetwegen 1-Stündiger Heimweg mit dem erworbenen Präparat in einer Tasche bei minus 5° hat recht wahrscheinlich dessen irreversible Zerstörung zur Folge.