Wie man zum perfekten Reiserad kommtIch möchte hier erzählen, wie ich zu meinem Reiserad und zum Thema Radreisen gekommen bin. Möglicherweise ist der Text länger, als er sein sollte. Ich bin sicherlich nicht der einzige, der auf eine eher merkwürdige und vollkommen ungeplante Art und Weise zu seinen Radreise-Erfahrungen gekommen ist, und auf dem Weg dahin eine Menge mehr oder weniger erfolgreicher Experimente mit seinem Gefährt angestellt hat. Vielleicht interessiert es ja jemanden
Wie alles begann2004 war ich auf einer Konferenz an der EPFL in Lausanne. Nachmittags hatte ich Termine, am Vormittag wollte ich mir die Stadt ansehen. Und ich habe mich verlaufen! Niemand sprach Deutsch oder Englisch, und Französisch kann ich nicht. Smartphones gabs 2004 noch nicht. Zum Glück bin ich auf eine U-Bahn-Station gestoßen. Das war der Anlass für mein erstes Navi, ein Garmin eTrex. Keine Kartendarstellung, kein Routing, aber man konnte Wegpunkte speichern und hatte dann immer einen Kompaßpfeil, der in die richtige Richtung zeigt und sagt, wie weit es noch ist.
Ich habe dann noch im August 2004 angefangen, damit längere Wanderungen zu unternehmen. Zum Beispiel ins Zittauer Gebirge -- auf dem Bild der Töpfer bei Oybin.
Das man sich nicht mehr verlaufen kann, war so super, dass es mich im Dezember direkt nach Galicien gezogen hat -- eher aus Zufall, ich bekam einen günstigen Flug nach Santiago de Compostela. Auf dem Bild La Corona am Atlantik. Navi ist super! Irgendwo ankommen, Speicherknopf drücken, und man findet wieder zurück, z.B. zum Hotel oder zum Bahnhof
Mein erstes streckentaugliches RadWanderungen sind aber nicht so ganz meins. Zum einen verbringt man eine Menge Zeit mit eher unspannender Strecke zwischen zwei Sehenswürdigkeiten oder Einkehren. Zum anderen läuft man sich bei jedem Urlaub am ersten Tag Blasen an den Füßen und einen Muskelkater aus der Hölle. Und wenn man fit ist, ist der Urlaub dann schon vorbei.
2005 ist mein aktuelles Rad ein Bastard, selbst zusammengesetzt aus einem grünen und einem blauen DDR Mifa-Rad und einem Gazelle-Hollandrad, hat 3 Gänge und ist schwer. Aber es fährt. Ich habe versucht, mir ein neues Rad zu kaufen. Aber mit meinen 1.96m finde ich keines -- mein letzter Versuch endete damit, dass mir der Händler nach 3 Monaten den Vorschuss zurück gab: Nicht lieferbar.
Im März 2005 lande ich durch Zufall (mir war daheim langweilig) für ein paar Tage bei einem Bogenbau-Seminar im Tierpark in Hankensbüttel, in der Nähe von Gifhorn.
Die Frau, die neben mir ihren Bogen mit einem Ziehmesser langsam aus einem Stave schälte, hatte einen fahrradbegeisterten Sohn und wollte ihn fragen, ob er einen Tipp für mich hat.
Er schickt mir eine Email: Im Frühjahr ein Rad in einer Übergröße zu bekommen wäre aussichtslos, aber selberbauen wäre drin. Er hat auch gleich eine kommentierten Excel-Liste angehängt
Das nehme ich sehr gerne an! Am 13. Mai 2005 fotografiere ich dieses Puzzle. Man beachte die wunderschönen blaugrauen Shimano-LX-Komponenten vom Modelljahr 2004 -- diese Farbgebung gabs nie wieder
Zusammengebaut sah es dann so aus. 3x9fach-Schaltung, 26"-Laufräder, Semi-Sliks, V-Brakes, gemütlich steiler Vorbau, leicht gekröpfter Lenker, No-Saint-Rahmen von Radsport Bormann, Marzocci Luftfedergabel mit 100mm Federweg. Nicht schlecht für ein Wochenende Arbeit!
TagestourenWährend ich bisher kaum über 30km hinaus gekommen bin, werden mit dem neuen Rad -- auch dank des Navigationsgeräts -- die Tagestouren immer länger. Schon im August fahre ich eine 100km-Tour über Burg Falkenstein im Selketal. Rückfahrt mit der Bahn.
Als nächstes experimentiere ich mit Stauraum für Werkzeug, Kleingeld und Regenjacke. Hier ein Versuch mit einer fetten Satteltasche an der Saale bei Bernburg.
Erkenntnis des ersten Winters: Schutzbleche müssen ran! Die üblichen Steckschutzbleche sind nicht lang genug, daher wird mit einem zusätzlichen Stück Plastik improvisiert. Das Bild ist im Feb. 2006 an der Salzquelle in Sülldorf entstanden.
Die Satteltasche ist auch für Tagestouren nicht zufriedenstellend, und ein Rucksack ist zu schweißtreibend. Im Mai 2006 teste ich eine "Arschrakete" auf einem leichten Sattelstützengepäckträger. Der dreht sich allerdings immer wieder zur Seite weg. Außerdem tut mir der Hintern weh.
Erste Radreisen in DeutschlandIch bekomme trotzdem Lust auf längere Touren ohne abendliche Heimfahrt! Dafür baue ich mein Rad reisetauglich um. Da ich beim Rahmenkauf keine Sekunde an Radreisen gedacht habe, fehlt eine Gepäckträgeraufnahme. Der Träger muss mit Schellen am Rahmen befestigt werden. Dazu eine Federsattelstütze gegen Po-Aua. Von schmalen Reifchen verspreche ich mir mehr Tempo.
Die erste Radreise geht gründlich schief. Nach drei Tagen Saaleradweg gebe ich auf und steige in Hof in den Zug nach Hause. Ein Kopfkissen und eine dickere Isomatte müssen her. Das Rad fährt super, aber dünne Reifchen und Federsattelstütze sind Quatsch
Aber es hat mich gepackt. Schon eine Woche später, im Juli 2006, bin ich wieder auf Tour (Erfurt -> Karlsruhe -> Hof), diesmal mit Reisekopfkissen, Thermarest, Haltern für handelsübliche 1.5L-Flaschen, einem Brooks-Ledersattel, ohne Federsattelstütze und mit schönen breiten Semislicks. Ich denke sogar an einen Lappen, um morgens den Tau aus dem Zelt zu wischen, und an Wäscheklammern.
Diesmal funktioniert alles super. Und weil ich ein bisschen stur bin, fahre ich auf dieser Tour auch noch das letzte Stückchen vom Saaleradweg, das ich vor drei Wochen abgebrochen habe. Insgesamt 1250km in 11 Tagesetappen, und ich habe jeden Tag genossen
Auch Anstiege finde ich sehr reizvoll. Schon im August geht es auf die nächste Tour ins schöne Elbsandsteingebirge. Im Bild der Blick von Festung Königstein über die Elbe hinweg auf den Lilienstein.
Ab ins Ausland!Nach ein paar tollen und problemlosen Radreisen in Deutschland werde ich mutiger, und breche im April 2007 mit dem Nachtzug zu meiner ersten Auslandsradreise in die Toskana auf. Mein Rad ist nun genau ein Jahr alt und läuft super. Ich habe keine Bedenken, dass ich strande.
Mir fehlt noch die Auslandserfahrung. Ich habe eine Einkaufstasche voller Kekse und Brote in einem Beutel am Lenker, und generell zu viel Gepäck. Essen nach Italien mitnehmen -- auf diese Idee komme ich nicht wieder
Im Zug habe ich die ganze Zeit darüber nachgedacht, dass ich lieber mit dem Rad durch die Alpen fahren möchte als mit dem Zug. Im August mache ich das, von Karlsruhe aus in die Schweiz, weiter bis an den Lago di Como und zurück. Ich fahre an 16 Tagen 1378km, 20600 Höhenmeter und 14 Alpenpässe, incl. Bernina, Julier und Albula, bis mir in St. Gallen das Hinterrad bricht und ich mit dem Zug heimfahre
Ich stelle fest: Das ist so ganz genau meins!
Im Februar 2008 mache ich noch einen Bikepacking-Versuch mit einem anderen Sattelstützengepäckträger, Biwak-Sack und Rucksack. Aber die Gewichtseinsparung ist eher gering, der Tempo-Gewinn ist zu vernachlässigen, der Rucksack ist nervig, und es ist allgemein lästig, alles vom Rad zu fummeln, bevor man an seine Sachen kommt. Vom Bikepacking bin ich final geheilt.
Im Juni 2008 zerlege und verpacke ich mein Rad für eine Flugreise nach Trondheim, und radle über Norwegen und Schweden 2100km nach Deutschland zurück.
Fazit: Rad zerlegen ist extrem lästig, bloß nie wieder. Aber Norwegen ist große Klasse! Ich habe aber wieder viel zuviel Gepäck mit. Das war auch das letzte Mal, dass ich Kochgeschirr dabei hatte. Ich habe mir nicht mal eine Gaskartusche gekauft, weil ich keine Lust auf selberkochen und abspülen im Urlaub habe, und darum Kocher und Töpfe unbenutzt spazierengefahren.
Mit dem Rad bin ich jedenfalls sehr zufrieden, und Radreisen liegen mir sehr, erst recht im Gebirge
FeinschliffMangels Zweitrad schraube ich aber ständig am Rad herum. Für Tagestouren daheim möchte ich Klickpedale, einen Nabendynamo und LED-Licht, aber keinen schweren Gepäckträger und nur die kleinen Flaschenhalter für 750ml.
2009 darf das Rad das erste Mal auf ein Metal-Festival mit. Gefällt mir sehr! Während die anderen Besucher ihre Autos mit einem Trecker aus dem Matsch ziehen lassen müssen und danach erst mal längere Zeit im Stau feststecken, bin ich schon längst im Sattel und unterwegs
Diese 30%-Steigung am Hirschbichl hat mich im September 2009 vermutlich den ersten Rahmen gekostet: Riss im Ausfallende!
Alter Rahmen raus, neuer rein! Eine neue Gabel ist bei der Gelegenheit auch fällig.
Der neue Rahmen ist schwarz, und hat Gepäckträgerösen! Endlich keine Schellenbefestigung mehr
2011 lege ich mir ein Zweitrad zu. Endlich darf das Reiserad bleiben wie es ist, kein Herumgeschraube vor jeder Radreise mehr! Ich beschließe auch, dass ich auf Radreise auf Nabendynamo und LED-Licht nicht verzichten möchte. Außerdem tausche ich noch den Vorbau gegen einen flacheren, sportlicheren.
Weil die gekauften Laufräder nicht besonders lange halten, beschließe ich 2012, ab sofort selber einzuspeichen.
Nicht immer geht alles glatt. Ein abgerissenes Schaltwerk ließ sich jedenfalls einfacher ersetzen als das verbogene Schaltauge, weil das ein Spezialteil ist.
Weil Freunde davon schwärmen, wie toll direkt, leicht und wartungsfrei eine Starrgabel wäre, probiere ich das auch mal.
Allerdings tun mir nach langen Etappen die Gelenke weh. Auf die Federgabel will ich nicht verzichten. Eine Starrgabel hilft auch nicht gegen den Schlamm im Schweinfurter Land
Ich probiere auch mal größere Taschen aus, hier in Umbrien 2015. Allerdings mache ich die größeren Taschen dann leider auch voll, und habe ein sehr hecklastiges Rad. Das mache ich nicht wieder.
Mit einer geschickten Beladung (schweres nach unten, leichtes nach oben) und einer guten Gepäckauswahl bekomme ich auch eine Winterausrüstung in 2 Ortlieb-Frontrollern und einer Gepäckrolle unter, ohne dass das Rad instabil wird. Hier im März 2017 auf dem Brocken, unterwegs zum Zelten in Wildemann.
2018 sind dann die orangen Globetrotter-Taschen zu löchrig für Radreisen. Die neuen Taschen sind gelb -- ich bekomme nun schon mal die Frage, ob ich ein Borussia Dortmund-Fan bin
Im Juli 2021 rüste ich nun auch mein Reiserad auf hydraulische Scheibenbremsen um, und teste die erfolgreich in den Österreicher Alpen.
Zustand 2023Im Frühjahr 2023 sind mir an zwei anderen Rädern Lenker und Sattelstütze gebrochen. Darum tausche ich Lenker, Sattelstütze und Vorbau prophylaktisch bei allen viel gelaufenen Rädern. Damit sind die blaugrauen Shimano LX-Kurbeln Modelljahr 2004 die allerletzten vom ursprünglichen Rad erhaltenen Bauteile. Alles andere habe ich bereits getauscht, meistens sogar mehrfach.
Nachdem ich elektrochemische Kontaktkorrosion zwischen dem Aluminium-Rahmen und allen stählernen Flaschenhalterösen bemerke, lege ich mir auch schon den nächsten Rahmen ins Lager. Noch löst aber Schmirgelpapier und ein Klecks schwarze Farbe das Problem.
Mit meinem Reiserad bin ich sehr zufrieden, so wie es jetzt ist. Das Rad hat sich über den Verlauf von 19 Jahren an mich angepasst, und umgekehrt. Alles, was mir nicht gefallen hat, habe ich längst getauscht. Die Geometrie, der Sattel, die Entfaltung des Antriebs sind auf meine Anforderungen abgestimmt. Da ein 3x9fach-Antrieb inzwischen nur noch in den unteren Qualitätsstufen zu bekommen ist, habe ich auch dafür einen Vorrat an Ersatzteilen. Mal sehen, was für Touren das Rad noch erleben wird, und wann der nächste Rahmen eingebaut wird