Die Eckdaten waren klar: Abfahrt am Montag, dem 21.10.2013 in Duisburg und Ankunft in Gross-Briesen am Samstag, dem 26.10.2013.
Denn am Sonntag stand ja die Reformationstour auf dem Programm - und da wollte ich einigermassen ausgeruht in Wiesenburg am Bahnhof stehen (denn wer weiß schon, welches Tempo die Berliner so drauf haben
).
Und dann noch das zu erwartende Wetter: Ende Oktober, also eigentlich schon fast Winter, Sturmböen und Dauerregen, vielleicht sogar Glatteis in den Höhenlagen: diese Tour würde eine Herausforderung werden - und deshalb auch Übernachtungen in Gasthöfen, JH und Hotels: abendliche Rettungsinseln nach fast unmenschlichen Expeditionen durch deutsche Mittelgebirge... Und dann auch noch die unkalkulierbare Wegbeschaffenheit: würde ich im Schlamm versinken oder in den tiefen Wäldern von wieder angesiedelten Wölfen angefallen werden?
Realistisch betrachtet also eine Tour an die Grenzen des Machbaren - und deshalb auch eine moderate Kilometerplanung.
Und als besonderes Abenteuer, direkt zu Beginn: Anreise mit der DB: Duisburg - Hameln mit Umsteigen und nur (!) 21 Minuten Umsteigezeit in Hamm!
Also wurde das Rad gesattelt, der Familie ein Lebewohl gesagt und ich machte mich auf den Weg:
Montag, 21.10.2013 Duisburg - Hameln 10 kmDer Zug war pünktlich am Bahnhof Rheinhausen eingerollt, die Pendler nach Duisburg schauten etwas gequält, als ich ihre Aktenkoffer und Schultaschen mit den Ortliebs konfrontierte, aber sie waren wohl noch im Standby-Modus: alle haben zwar geraunt und gerunzelt, aber keiner hat was gesagt: Tja, so sind wir Niederrheiner...
Nach Duisburg leerte sich der Zug, Rad und Radler fanden ihren Platz - und weil´s so bequem war, entschied sich die DB, dieses Vergnügen zu verlängern: für den gleichen Preis durfte ich bis Hamm sogar 30 Minuten länger „with Deutsche Bahn traveln“. Und dann in Hamm auch noch den Bahnhof besichtigen, das gelbe Viereck der „smoking area“ begehen, bis ich dann in Paderborn landete - ohne Verspätung mit direktem Umstieg nach Hamm.
Und dort angekommen, fing es an zu regnen - na super...
Übrigens: es waren die einzigen und letzten Regentropfen, die ich auf meiner Tour erlebte.
Ein Spaziergang durch die Hamelner Innenstadt vertrieb Zeit und erinnerte mich an die letzte Reise nach Hameln (mit einer Seniorenfreizeit im Spätsommer 2012 - da allerdings per pedes und im strömenden Regen).
Somit hatte ich noch hinreichende Insiderkenntnisse der örtlichen Cafe-Szene, die ich dann auch zur Überbrückung der Wartezeit bis zur JH-Öffnung nutzte.
Die JH Hameln liegt wunderbar direkt am Weserradweg - also eigentlich ideal - wenn man die Weser fahren möchte.
Nur: ich musste in genau die andere Richtung, weg von der Weser, Richtung Osten.
Und wie mir eine Wirtin in einer Hamelner Nachttrunk-Kneipe halb bedauernd, halb bewundernd zuraunte: „Da müssen Sie über den Ith...“.
„Ith“ hatte ich noch nie gehört, wohl auch bei meiner Vorplanung überlesen - so wie sie es sagte, musste der Ith so etwas wie die Eigernordwand des Weserberglandes sein:
so schlief ich gespannt diesem Abenteuer entgegen.
Dienstag, 22.10.2013 Hameln - Hildesheim„Der Ith ruft“ - mit diesem Gedanken wachte ich auf, betrat den noch jugendfreien Speisesaal der JH, frühstückte gut und fasste einen Plan: Der Ith kann nur mit Energie und entsprechenden Reserven bezwungen werden: ich kaufte drei Snickers (denn Mars bringt verbrauchte Energie zurück - und die brauchte ich nicht!
).
Dann ging´s endlich los:
auf dem Weg nach Coppenbrügge reichlich Gewerbegebiet und Einkaufszentren, dann ein Großklinikum, und dann endlich raus aus der Stadt.
Dank GPS fand ich auch bald die richtigen Wege weg von der Bundesstrasse, über gut zu befahrende Feldwege (Asphalt), aber für einen Niederrheiner schon mit echten Steigungen...
Und dann, quasi an einer Gipfelhütte, der Hinweis: ich habe den Ith bezwungen! So muss sich Hilary gefühlt haben: ich esse nen Stickers.
Kleine Orte liegen auf und im Weg. Erwähnenswert ist Salzhemmendorf: dort ergibt sich erstmalig die Chance auf einen Kaffee und eine Rastmöglichkeit beim dortigen Supermarkt.
Das alles bei eher spätsommerlichen Temperaturen im Sonnenschein - so haben die Menschen Muße, mich anzusprechen: „Wo kommen Sie den her? Und wohin?“ - „Duisburg, aber eigentlich Hameln - und dann Richtung Berlin“ - „Und warum mit dem Rad? Haben Sie kein Auto???“ - „Doch, aber mir macht das Spass“ - „Ach ja, verstehe ich: ich fahre auch jede Woche drei Kilometer...“: so richtige Brüder im Geiste wurden wir nicht.
Etappenziel heute war Hildesheim: da war ich noch nie - und deshalb auch eine Etappenlänge, die mir die Gelegenheit bot, nach dem Check-In im Hotel eine Stadtbesichtigung zu Fuß anzuschliessen.
Hildesheim lohnt sich: und der Tagesausklang in einem Biergarten bei 18º C Ende Oktober war nicht zu erwarten.
Mittwoch, 23.10.2013 Hildesheim - Wolfenbüttel 56 kmIn Wolfenbüttel war ich auch noch nie - das würde sich heute ändern.
Nach einem guten Frühstück Abfahrt aus Hildesheim. Noch ist es etwas kühl, aber das würde sich nach Aussage von Claudia Kleinert ändern: scheinbar hatte ich für meine Tour das herbstliche Sonnenloch erwischt; während es in anderen Regionen regnete, war es hier trocken und warm.
Es ist eine schöne Strecke, die zwar zum Teil etwas holpert, aber insgesamt gut zu befahren ist. Und die Steigungen werden flacher. Oder entwickelt sich bei mir so etwas wie Kondition?
Über Wöhle geht es nach Salzgitter. Das Naherholungsgebiet Salzgittersee scheint wohl im Sommer gut frequentiert zu sein. Einige Einkehrmöglichkeiten zeugen davon - aber um diese Jahreszeit hat hier schon der Winterschlaf begonnen. Am Schloss Saldern mache ich eine kurze Rast, umkurve geschickt eine Seniorengruppe, die sich zu einem Frühstücksbrunch in das Schlossrestaurant bewegt und geniesse die Sonne.
Ein älterer Herr parkt mehr oder weniger geschickt sein Rad an der von mir besetzten Bank, holt einen Zettel raus und fragt ganz unvermittelt: „Na, was meinen Sie? Was kostet ein Ritzel hinten?“ - „Sechs Euro!??“ - „Nee, sieben fuffzich! Und vorne?“ - „??“ - „Dreissig!!! - Und noch Kette: zwölf!“ - „???“ (was will er mir damit sagen? Ist er fahrender Ritzelhändler oder Marktforscher?). Die Lösung ist ganz einfach: gerade hat er sein 8-Gang-Diamant vom Fahrradladen abgeholt - der Zettel ist die Rechnung: „Und 36 Euro Arbeitslohn! Ganz schön teuer!“ Ich versuche kurz, eine Lanze für den Fahrradhändler zu brechen, erwähne Mietkosten, Lagerkosten und eine fiktive zu ernährende Kinderschar - da nimmt das Gespräch eine überraschende Wende: „3000 Kilometer hält so was - sagt der Fahrradhändler - aber ich hab schon 30.000 damit runter!“ Wir stellen fest (nach eingehender Diskussion): dann ist das wieder günstig - und er hat dem Händler ein Schnippchen geschlagen: „Zehn Mal so weit für´s gleiche Geld!“.
Wer 30.000 km auf dem Tacho hat, der kennt sich aus. Also frage ich ihn nach dem weißen Berg, den ich gestern gesehen habe. „Salzabraum!“ - „Und was macht damit?“ - „Rumliegen lassen. - Und irgendwann wird´s begrünt.“ - „Also dann nicht mehr erkennbar als weißer Berg?“ - „Doch, aber in grün!“
Ich notiere als frisch Erlerntes: ein Ritzel kostet nur ein Zehntel, wenn man nur weit genug fährt - und weiße Berge liegen rum, manchmal auch in grün...
Schon mittags komme ich in Wolfenbüttel an. Die Abfahrt in die Stadt zieht sich über sicher zwei Kilometer hin - so komme ich unverschwitzt in die Zivilisation; das Hotel ist ein mittelalterlicher, verwinkelter Bau mit eigenem Charme und leckerem Wildgulasch.
Wolfenbüttel hat eine schöne Altstadt, Fachwerkhäuser, einen imposanten protestantischen Dom, eine ebensolche Bibliothek und ein Strassencafe. Letzteres nutze ich, um die Menschen flanieren zu sehen.
Abends finde ich einen Pub zum Nachttrunk. Ich bin der einzige Gast - denn ein Champions-League-Spiel wird öffentlich-rechtlich übertragen: da zieht Sky nicht so.
Donnerstag, 24.10.2013 Wolfenbüttel - Klein Wanzleben 82 kmWolfenbüttel hat auch einen Park. Den durchfahre ich nach einem Frühstück der „rationierten Art“, werde kurz über Strassen geleitet, finde Feldwege, die gut asphaltiert, aber auch grob geschottert sind, bewältige einige Steigungen (die ich kaum noch als solche wahrnehme) und freue mich über einen stetigen Rückenwind.
In Schöningen erinnere ich mich, gelesen zu haben, dass nun eine Passage kommt, in der es über mindestens 60 km keine Einkaufsmöglichkeit mehr geben würde. Also suche ich in Schöningen einen Discounter, decke mich mit Expeditionsnahrung (Prinzenrolle) und Kaltgetränken ein, schicke kurz eine potentielle Abschieds-SMS an die Daheimgebliebenen und fahre mutig weiter.
Kurz hinter Schöningen bin ich fasziniert: der Tagebau hat sich in das Land gefressen, ein Bagger lässt mein Rad wie ein Puky-16-Zöller wirken und die drapierten Findlinge sind als Souvenir viel zu unhandlich. Ich lasse sie liegen und frage mich, wie wohl diese Landschaft in ein paar Jahrzehnten aussehen wird. Jetzt sind es Narben und offene Wunden... .
Ein paar Kilometer weiter erreiche ich Hötensleben und überquere die ehemalige Grenze. Ein Rest der Befestigungsanlagen ist erhalten - als Denk- und Mahnmal.
Ab hier ändert sich auch mein Orientierungsverhalten:
Während von Hameln bis hierher die Beschilderung des Radweges sehr gut war (immer in Richtung Brandenburger Tor!), fehlen diese Schilder fast vollständig.
Dank des GPS-Tracks ist es aber kein Problem, die richtigen Abzweige zu finden.
Meistens geht der Weg über Feldwege. Ab hier oft auch Betonplatten. Grober Schotter ist doof zu fahren, aber die Marterstrecken sind überschaubar.
Erntezeitbedingt sind die Wege oft sehr verschmutzt; Landwirtschaft ist halt sehr erdverbunden - und ebendiese findet sich dann auch auf dem Weg.
In Seehausen lockt mich ein Hinweisschild zu einer Eisdiele (oder ist es ein Restaurant? Oder ein Cafe? Oder ein Museum für zeitgenössisches Sammelsurium?). Der kleine Abstecher lohnt sich: dieses Piraten-Cafe ist ein Muss für jeden Seehausen-Passierenden!
Bei Waldmeisterfassbrause und Kaffee sitze ich auf der Terrasse, lausche der lautstarken Aufarbeitung einer tieferen Beziehungskrise neben mir und lasse meinen Blick schweifen über Krims und Krams, der sich überall verteilt entdecken lässt.
Warum enden eigentlich so viele Restaurantpreise in der ehemaligen DDR auf fünf?
Bis Klein Wanzleben ist es nicht mehr weit, Rübenfelder säumen meinen Weg - und damit habe ich auch schon die zentrale Frucht dieses Ortes entdeckt:
Klein Wanzleben ist das Zentrum der Zuckerrübenindustrie!
Wie mir erzählt wird, kommen über 50 % aller Zuckerrübensamen weltweit aus diesem Ort. Und Zuckerrüben sind tatsächlich überall präsent: Beim Abendessen gibt´s als Küchengruss süss-sauer eingelegte Zuckerrübe, nach der (rübenfreien) Forelle einen Zuckerrübenschnaps und an den Wänden des Hotels zeugen alte Werbeplakate von der langen Tradition dieses Industriezweiges.
Damit entscheide ich mich, den Matsch auf den Feldwegen nicht mehr als radverschmutzenden Dreck zu bewerten, sondern ihn als Zeichen landwirtschaftlich traditionellen Kulturgutes mit touristischer Entdeckerfreude zu betrachten: es kommt eben auf die Perspektive an...
Freitag, 25.10.2013 Klein Wanzleben - Ladeburg 57 kmIch verlasse die Rübenmetropole und finde meinen Weg dank GPS leicht und unverfährlich. Wie schon an den Tagen vorher, ist es dieser interessante Mix aus kurzen Strassenpassagen, Feldwegen und auch mal Walddurchfahrten, der keine Langeweile aufkommen lässt.
Auf einem Hochplateau ist der Feldweg auf einmal zugeparkt von ca. 100 Pkw. Die Kennzeichen aus ganz Deutschland lassen mich an eine Neuauflage des Woodstock-Konzerts denken, wenn da nicht diese Alukisten auf den Ladeflächen wären. Ein Kilometer weiter steht mitten im Nirgendwo ein Bierwagen und ein Dixi-Klo. Freundliche Menschen in Gummistiefeln und Outdoor-Bekleidung zerren ihre Vierbeiner aus meiner Fahrspur, aber es sind einfach zu viele - ich steige ab und schiebe. Am Horizont laufen Vierbeiner und Zweibeiner in interessanten Figuren über den Acker, am Rand stehen andere Zweibeiner mit Ferngläsern und notieren Wichtiges auf offiziell wirkenden Formularen. Ab und zu raunt die Menge am Bierwagen... Man klärt mich auf: hier ist gerade die Bundessiegerprüfung der Fährtenhunde im Gange. Zwei Kilometer weiter hat mich die Einsamkeit wieder.
In Schönebeck überquere ich die Elbe - und werde gerade noch rechtzeitig von einem Einheimischen gerettet!
Am Ortsausgang, also schon nach der Elbquerung taucht auf einmal ein Radler neben mir auf: Spaten quer auf dem Träger, Harke längs am Oberrohr, Fahrer so ca. 70 Jahre alt, das Rad ein echtes Tourenrad auf XT-Niveau.
„Na, wo geht´s hin?“ - „Richtung Berlin“ - „Da gibt´s nen Problem: die Brücke ist gesperrt!“ - „Welche Brücke?“ - „Die über (Kanalname habe ich vergessen), wird repariert.“
Aufgrund des Hochwassers musste eine Brücke gesperrt werden, also würde die Ausweichroute über Plötzky führen. Wenn ich das an der gesperrten Brücke erfahren hätte,wären das zehn Kilometer Umweg gewesen. Aber ich hatte ja Glück: der Mann kam zur rechten Zeit. Er führte mich über Schleichwege sicher auf die Alternativroute, bot mir Windschatten an und sorgte für etwas Abwechslung auf der Strecke.
Warum er das tat? Ganz einfach: seine Frau hatte ihn dazu verdonnert, den Garten umzugraben - er fuhr aber lieber Fahrrad...
In Gommern mache ich eine längere Mittagsrast. Der hausgemachte Kartoffelsalat am Imbisswagen vor der Kirche ist klasse! Allein dafür lohnt sich die Fahrt nach Gommern!
Schon um kurz nach 13.00 Uhr bin ich in Ladeburg - dem Rückenwind sei dank!
Bis 14.00 Uhr hat das Hotel geöffnet, dann wäre Mittagspause.
Drei Dörfler halten gerade ihren Frühschoppen - und ich bin gern gesehene Abwechslung.
Dieses Restaurant und Pension wurde kurz nach der Wende eröffnet. Es versprach, eine Goldgrube zu werden, denn die Strasse nach Magdeburg führte genau am Haus vorbei. Dann kam die Umgehung - und die Gäste wurden deutlich weniger. Auch hier wieder die Frage der Perspektive: ich habe die Verkehrsarmut auf der Landstrasse genossen, für den Wirt wäre etwas mehr Durchgangsverkehr sicher besser.
Mein Rad steht komfortabel im Saal des Hotels, ich selbst geniesse das Zimmer, die Dusche und das Bett. Morgen ist Endspurt!
Samstag, 26.10.2013 Ladeburg - Gross Briesen 60 kmVon Ladeburg aus erreiche ich den Hohen Fläming. Dieses riesige Waldgebiet mit weichem Sandboden kenne ich als Reiter. Da ist dieser Untergrund ideal.
Aber als Radfahrer? Einige Wege führen durch den Wald - und werden zu Schiebestrecken. Der Sandboden überfordert mich und meine Bereifung (37-622). Aber zum Glück sind es nur kurze Abschnitte.
Auf dem Weg nach Rottstock befahre ich eine ehemalige Bahntrasse. Dieser Weg ist wunderbar zu fahren. So könnte es weitergehen.
Aber kurz hinter Rottstock biege ich ab in Richtung Gräben, verlasse damit den Radweg Hameln- Berlin und fahre zu meinem Ziel der Reise: dem Reiterhof Gross-Briesen, den Freunde dort seit über zehn Jahren betreiben.
Fazit:Der Radweg Hameln- Berlin ist aus meiner Sicht empfehlenswert. Die Wegbeschaffenheit ist ok, die wenigen problematischen Teile lassen sich erschieben.
Was mir wieder klar wurde: eine Radreise lebt nicht (allein) von den spektakulären Landschaften (obwohl: der Ith....
), sondern von den Begegnungen mit Menschen. Und diese Begegnungen bleiben mir in Erinnerung, verbunden mit schönen Landschaftsbildern.