kurz vor meinem 18. Geburtstag
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fast meinen ganzen Hausrat in vier Fahrradtaschen,
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Plastiktüten, was auch nicht wirklich gegen Nässe half. Zelt, Schlafsack, Luftmatratze, Töpfe, Pfanne und Gitarre (!) waren da oben draufgezurrt.
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Fahrradkleidung? ... Ostfriesennerz! Karten? Quatsch!
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Fast kein Geld in der Tasche
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die Jugendherbergen waren voller hübscher Mädels.
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Bergauf wurde geschoben und runter gerollt. Das dauerte länger, angekommen sind wir aber trotzdem.
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Diese ganzen Materialdiskussionen und -Überlegungen lassen uns wohl vergessen, dass das alles auch mal wesentlich einfacher ging
Schön, ja, alte Geschichten. Ich finde das reizvoll zu lesen. Und doch gibt es das "Aber". Ich habe aber mal ein paar Schlaglichter zitiert, um auch die etwas verbrämte
Nostalgie herauszuarbeiten, die sich dahinter verbirgt. Die ist ja auch etwas kokett. Deine Geschichte aus den 1970er Jahren ist ja jetzt
deine Nasenspitzenperpektive. Was aber mit dem, der damals auf weitere 50 Jahre zurückblickte, auf eine Radtour in den Golden 20er Jahren, oder vielleicht zur anrückenden Wirtschaftskrise. Oder wie hätte sich wohl
Thomas Stevenson über deine Radtour mit neumodischen Schnickschnack mokiert, wenn er als alter Mann davon gehört hätte?
Es gibt zu allen Zeiten eine Mode und dagegen unangepasste Mainstreamkritiker. Es gibt zu allen Zeiten
Jugend und Alter, Neues und Altes. Manche Traditionen leben zwar über Jahrhunderte, passen sich aber auch immer wieder anders in die Zeiten ein. Alte Zeiten sind unwiederbringlich - auch die Jugend. Heute ist die Jugend anders - auch sie wird im Alter zurückblicken, sich über die Jugend wundern, sich echauffieren über Moden. "Ist das alles nötig?" ist also eher ein Spruch verblichener Jugend, der zu allen Zeiten vorgetragen wird. Daraus folgt noch nicht, das das alles Neue wirklich nötig ist - auch nicht für die neue Jugend. Aber das muss manchmal die Jugend dann selber aushandeln, von den Alten kann es dazu nur Ratschläge aus Erfahrung geben.
Manches kehrt wieder, manches ist noch erstaunlich wie früher. Reiseradler mit
"Hausrat" sieht man auch heute noch - macht aber nicht jeder. Auch die Gitarre habe ich da und dort noch gesehen. Du solltest aber auch spielen können - das kann auch nicht jeder Radler - früher übrigens auch nicht.
Plastiktüten sehe ich auch noch - ich könnte dir ein Bild zeigen aus letztem Jahr, ein (nicht mehr ganz junger) Kauz, mit einem Hund unter einem Baldachin auf dem Rad. Ich würd's aber nicht machen - allzu kauzig wäre es bei mir auch nicht mit 18 gewesen (1980), wenn ich eine Radtour gemacht hätte. Plastiktüten sind jetzt auch nicht gerade ein Produkt, dass nostalgische Verklärung jubeln lässt. Die Platiktüte ist ein Symbol einer verheerenden Fortschrittsgläubigkeit ohne Nachhaltigkeit - ein Symbol der Wegwerfgesellschaft. (Ich möchte trotzdem nicht überall drauf verzichten.) Wenn man heute beständige Radtaschen hat, ist das also nicht nur höhrere Funktionalität sondern auch Nachhaltigkeit. Der Charme des Clochards hat ja auch immer seine Kehrseiten - nicht nur diese.
Es gab damals
in den 1970ern auch schon
schicke Rennräder von Peugeot oder von japanischen Herstellern, die in Katalogen an der Schule angeschaut wurden. Ein Klassenkamerad bot so ein Rad auch gebraucht an - 500 DM, das war für mich unbezahlbar, sonst hätte ich zugegriffen. Der Kamerad kam halt eher aus den Gedladelkreisen. Ich hätte dann ähnlich meinem Bruder (der war älter, machte mal eine mehrtägige Radreise aus dem Rheinland zum Bodensee und retour mit Internatsfreund - ähnlich deiner Beschreibung, nur wohl etwas sportlicher, ohne Gitarre) ein Rennrad mit Gepäckträger aufgerüstet usw. Aber immerhin 10-Gang-Kettenschaltung statt 3fach-Torpedo-Nabe meines Schulrads. Ich hätte auch von großen Kettenblätern geträumt - reine Angeberei, fehlte das Wissen, dass das für eine Radreise schlecht gewesen wäre.
Angeberei und Unwissen sind jetzt auch nicht soooo bewahrenswerte Merkmale - aber sehr
oft mit Jugend verbunden.
Das Rad
Berge hochschieben tun heute immer noch Pedalkollegen! Route überschätzt, schlechte Schaltungen, eiserne Zähigkeit gegen die eigenen Körpergesetze oder was auch immer. Beliebt auch Radrouten, die eigentlich nicht reiseradtauglich sind. Man sucht die letzten Refugien ohne Autos und erobert Wanderwege. Die Mountainbiker brechen vor - alsbald mit "modischem" bike packing.
Offroad statt Asphalt - eine durchaus heute moderne Haltung. Irgendwie auch Nostalgie.
Zurück zur Natur? Nicht nur, auch fragwürdige Freizeitgesellschaft, die nicht mehr Naturgrenzen anerkennt. Manches geht heute nicht mehr, weil es zuviele Gleichgesinnte gibt. Vielleicht fallen die Überforderten nicht so auf, weil es mehr Reiseradler gibt, große Gruppen, die sich an touristische Radwege halten, an Flussufern leicht entlang, manche mehr im Biergarten als auf Piste. Aber selbst die schieben heute noch manchmal, etwa wenn die Brückenauffahrt zu steil ist.
Das
Naturerleben und
Erleben eigener Grenzen ist zum Glück nicht an Ausrüstung gebunden. Liest du bei Stevenson über idyllische Dörfer und blühende Blumenwiesen im Schwarzwald, die er bewundert. Wie wahr, erlebe ich heute auch noch mit 27er-Kettenschaltung, Hightech-Zelt und -Schlafsack, Funktionskleidung und ausreichend Geld in der Tasche für Gasthofessen. Offenbar bleiben die Erlebnisgefühle über Jahrhunderte erhalten - selbst wenn die Umgebung nicht mehr ganz so aussieht wie früher. Pfannen und Töpfe sind heute meist kleiner und leichter, aber immer noch an Bord von Radlern, die draußen kochen wollten. Andere stiegen auch schon früher in Gasthöfen ab. So verschieden ist das nicht, nur die Menschen sind verschieden geblieben.
Karten gab es damals auch schon, pfiff man darauf und wollte man sich die nicht leisten, sei es drum. Karten sind heute noch so hilfreich und wertvoll wie damals. Karten gab es schon vor Hunderten von Jahren - kein neumodischer Schnickschnack. GPS wird zwar jetzt gehypt, im Kern aber nichts Neues, nur zeitgemäßer für digitales Nutzungsverhalten. Unterkünfte mit Hotelportalen unterwegs abchecken - die Unsicheren tun das heute, braucht es aber auch nicht - noch darf man auch abends an der Hoteltür klingeln. Smartphone muss natürlich dabei sein, auch für die Lieben daheim. Mozarts Frau war schon 14 Tage tot und beerdigt, als er unvorbereitet zurückkam. Das hat Vor- und Nachteile. Man sollte halt wissen, dass
digitale Technik immer ein Stück Selbstzweck ist und damit entsprechende (Erlebnis-)Zeit verbraucht. Telefone gibt es übrigens auch heute noch in den meisten Reiseländern - sogar mehr als früher, im Zweifel ebenfalls als Smartphone. "Notfalltechnik" ist also oft nur eine Chimäre der Postmoderne, die andere Abhängigkeiten verdecken hilft. Das wird halt selten wirklich wahrgenommen, ein Zivilisationskrankheit, wenig Selbstreflektion. Es braucht offenbar großflächige Facebook-Skandale um aufzuwecken. Bei dieser Digitalisierungstechnik muss aber keiner mitmachen - auch das ist (noch) ein Trugbild. (Vielleicht gilt das in 20 Jahren nicht mehr, Stichwort "Zwangsdigitalisierung".)
Jugendherbergen gibt es heute auch noch, die hübschen Mädels sind für alte Knochen wie dich aber schon mal tabu.
Hotels und Gasthöfe gab es früher auch schon - die Wahl, ob einfache Herberge oder was Besseres, hast du auch heute. Das Leben da war dann manchmal etwas anders als heute, gilt allerdings wiederum für alle Arten von Gastbetrieben. Ich kannte noch Hotels, wo die Schuhe zum Putzen vor die Tür gestellt wurden, und weibliches Personal hieß allesamt "Fräulein".
Die Geldfrage bleibt immer aktuell - arm und reich gibt es immer noch, eher sind heute mehr Reiche als Aussteiger unterwegs als früher - wegen Adventure, Herausforderung, Rückbesinnung usw. Früher war fast jeder reiche Aussteiger schon so etwas wie ein "Pionier". Der Auto-Hype des Wirtschaftswunders hat das Fahrrad ertmal diskrediert und wurde zum Gefährt für Kinder und Geringverdiener. Das gilt so heute nicht mehr, Radreisen machen jetzt auch Besserverdienende, zudem auch mehr Alte ("rüstige Rentner") - und da fängt man eher nicht mit Plastiktüten und Altmetalllasten an.
Wenn ich das mal so summmiere, ist vieles von der
Faszination Radreisen unabhängig von der Ausstattung und von den Zeiten, in denen sie unternommen werden. Eher erweitert sich das Spektrum, die Typen des Radreisens werden vielfältiger, die Machbarkeit steigt zumindest in unseren Breiten auch für Ältere, weniger Abenteuerliche, Familien usw. Die
Differenzierung nimmt zu. Damit sind auch die erlebten Gefühle vielfältiger. Du kannst auch heute noch mit historischem Singlespeed und Lederlatz über bergige Schotterpisten fahren - es ist dann aber mehr Gag als zeitgemäß. So wird es jedenfalls von der Umgebung quitttiert - ganz gleich, was du selbser denkst und fühlst. Das macht auch den Unterschied - Geschichte ist nicht wiederholbar, die Einordnung durch Gesellschaft immer wieder anders. Der Trend geht heute bei einigen weg von typischer
Radkleidung - oft aus Eitelkeit. Ich kann mit dieser Haltung nichts anfangen, wenngleich ich nicht immerzu Radkleidung brauche. Ich fahre auch mal nackt. Das ist dann zu allen Zeiten eher selten Mode (gewesen).
Entscheidend ist immer, was du aus eigener Überzeugung aus einer Sache machst. Die
Ausrüstungsdiskussionen sind ja auch medial aufgezwängt - nicht zuletzt durch ein
Forum wie dieses - gabs früher auch nicht. Man musste früher weit fahren, bevor man Gleichgesinnte traf. Heute gehst du ins Internet und findest weltweit Freunde des Radreisens. Aber diese Materialdiskussionen sind optional. Ich interessiere mich nur bedingt für Radtechnik, weil ich ein gut funktionierendes Rad habe. Der Fokus liegt dann auf den Reisen. Manche kehren das um, dreht sich alles nur noch um Rändelschrauben, digitale Aufrüstung und Grammfuchserei. Die Beitragsdichte von Technik-Threads im Forum mag da auch eine Verzerrung von "Spezialisten" liefern, die sich so in der Breite der gesamten Radreisegemeinde nicht wiederfindet. Dafür kann man verschiedene Erklärungen liefern, das würde hier zu weit führen. Wegen der technischen Entwicklungen in der technischen Angebotspalette kann man Interesse an Neuerungen nie ganz vermeiden, aber ein großer Teil der
Hypes und Trends lässt sich auch leicht umgehen.
Gute Ausrüstung ist aber nicht wirklich kontrapoduktiv. Lord Francis Douglas und einige seiner Matterhorn-Erstbesteigerkollegen sind nach heutigen Kenntnissen abgestürzt, weil sie das damals beste verfügbare Seilmaterial nicht allesamt benutzt hatten. Radreisen ist nun weit weniger gefährlich. Aber gleichwohl ändert da wie dort die Qualität der Ausrüstung nichts an dem Erlebnis als solches. Manche "anderen" Erlebnisse sind ja durchaus verzichtbar - nicht nur Todesstürze, auch Verletzungen durch schlechte Wartung des Rades, durch Wind niedergerissen schlechte Zelte oder einfach kalte Füße im Schlafsack oder eine Pannenserie wegen abgefahrener Reifen. Ein bisschen Klugheit schadet nicht dem Erleben.
Wenn ich
meine erste Radreise - noch recht frisch zurück 1999, weil Spätzünder - nicht mit "optimaler" Ausrüstung gefahren bin, so sehe ich da keinerlei mentalen Unterschied zu meiner heutigen Situation mit weitgehend optimierter Ausrüstung. Im Gegenteil: Der Wandel vom eher rein radlerischen, introvertierten Fokus auf eine mehr zeitoffene Kultur-/Naturperspektive kam mit der zunehmenden Erfahrung, durch Interessenwandel, durch Einschnitte sonstwie. Die Ausrüstung hingegen wurde besser, auch das Rad wurde erneuert und optimiert. Würde ich zu veralteter und schlechter Ausrüstung zurückkehren, würde es mein Erleben eher einschränken. Du bist dann mehr mit den Mängeln beschäftigt.
Ich kann zwar Haare zurückschneiden, aber Erfahrungen weniger. Das endet ebenso darin, dass ich Ausrüstung verbessere als auch darin, dass ich nicht jede Innovation mitgehe. Erfahrung ist weder konservativ noch hippelig.