Re: Reiserad - welche Bremsstrategie?

Posted by: veloträumer

Re: Reiserad - welche Bremsstrategie? - 04/14/16 12:28 PM

Um es noch etwas anders zu wenden, nicht ganz ohne ironische Spitzen: Die Entwicklung der Bremsen ist nicht linear zu einem Status Quo des Fahrrades entwickelt worden, sondern neue Fahrradtypen und Fahrweisen haben nach neuen Lösungen gerufen, die an anderen Rädern mehr oder weniger schlecht angepasst wurden und bis heute dort ggf. nicht erwünscht sind. Die Scheibenbremse wurde sicherlich nicht im Rennradlager gefördert - auch wenn sich einige heute auch mit Rennrad daran versuchen. Die alte Bremsmechanik ist aber immer noch die bessere Lösung für die Zwecke der Rennradler. MTB-Downhill-Kamikazes, Fully-Tricktechniken mit Pirouetten-Shows, zivilisationsmüde Reiseradtrends im Himalaya in allen Gewichtsklassen usw. ließen aber den Ruf nach neuen Bremsen lauter werden, teils bautechnisch notwendig, teils dem Fahrstil abgenötigt. Früher war der Radler rank und schlank, als er aufs Rad stieg - für Sportliche gab es nur eine Modellklasse. Heute wird auch mal die gesamte Kettenblattsalatdiät auf dem Sattel durchgezogen. Bergflöhe sind jetzt selten geworden, die athletische Modellathlet aus dem BMI-Studio kommt heute ebenso überall hin wie Knubbelspecki - und sei er durchgespritzt. Entsprechend vielfältig ist der Fahrgestängewald - ohne Fitnessattribut ist aber nahezu keines mehr verkäuflich.

Für Felgen entstanden neue schleiffreie Belastungsszenarios, die dem konventionellen Rennradsport noch unbekannt waren. Der Garmin-Update-Abenteurer will bei Regen auch nicht mehr anhalten und Nächte auf fremden Hütten verbringen, sondern im Security-Paket der modernen Allwettertecknik mit Schlammgesicht unten präzise gestoppt ankommen, über Smartphone auf die Zehntelsekunde genau angekündigt, die Mikrowellenpizza digital abgestimmt bereits fertig vor der Maulklappe. Applaus bitte!

Was der Fahrer nicht mehr beherrscht, soll die Technik richten. Wir denken mal kurz an ABS, sicherlich ein applauswürdige Bremstechnikinnovation, gleichzeitig aber auch eine Alibi-Technik, dem Geschwindigkeitsrausch weiter zu fröhnen, die Gefahren damit weitgehend nur scheinbar im Griff - denn man darf ja jetzt schneller? Der software-gesteuerte, automatisierte Individualverkehr klopft schließlich heute schon an die Tür. Im Computerzeitalter wird Individualität immer mehr zum Euphemismus. Die Verantwortung wird in Einsen und Nullen übertragen. Kann es noch ohne die neueste Technik gehen?

Aufs Rad übertragen: die Notwendigkeit neuer Bremssysteme ist begrenzt, mit geeigneter Bremsstrategie kam man mit alten Systemen kaum weniger schlecht ans Ziel. Auch wird der moderne Weltreisende verblüfft sein, dass man ggf. in Takatukaland noch nie von Scheibenbremsen gehört hat, schon gar nicht von der einzig passenden Modellvariante Passe-nur-wenn-Millimeter-genau-vom-Monopolhersteller-aus-reichstem-Land. Den Unterschied zwischen Cantilever und V-Brake habe ich nie als so revolutionär empfunden - nicht zum Bremsen, eher sehe ich die maßgeblichen Vorteile beim Austausch der Bremsbeläge, im Justieren. Gewissermaßen habe ich aber die richtige Zeit-Fett-Bremstyp-Kurve - anfangs begann ich als Fliegengewicht (Stempel- & Rücktrittbremse, Seitenzugbremse), wurde fetter, aber noch rank und schlank (Cantilever), das Bäuchlein wächst (V-Brake) - was wird morgen sein? - man muss die Bremssysteme anpassen. grins

Es also nicht Retrostil von Unverbesserlichen, wenn es heute Parallelwelten verschiedener technischer Bremssysteme an Rädern gibt, mögen einige älter, andere neuer sein. Manche Vorteile alter Systeme sind auch nicht mehr bekannt, wenn sie durch neue verdrängt werden (man denke auch an Landkarten vs. Navi-Systeme). Was neu, was alt ist, kehrt sich manchmal gar ohne erkennbare Notwendigkeit um. So schrieb mir jüngst jemand aus seiner Rentnerperspektive, dass die Tochter zum musikalischen Vergnügen Vinylscheiben im hippen London anhört, er selbst es aber vorziehe an altmodischen CDs im traditionsbewussten Rheinland festzuhalten. Vermutlich betreibt die Enkelin Streaming. Mal sehen, wie lange es dauert, dass das Media-Streaming altmodisch geworden ist und durch die Schellack-Platte oder Tontrommeln abgelöst wird. schmunzel

veloträumer,
der auch mal Fußbremse einsetzt