Re: Was bleibt von einer Radtour?

Posted by: kettenraucher

Re: Was bleibt von einer Radtour? - 10/30/12 05:40 PM

Tolle Frage und eine ebenso tolle Einführung von Dir. Ich traue mich gar nicht, irgendetwas dazu zu sagen, aber es kribbelt irgendwie in den Fingern. Du hast wohl einen zentralen Nerv bei mir getroffen. Spontan und ohne darüber nachzudenken, sind mir bleibende Erinnerungen – jedenfalls für die Variante, dass ich alleine unterwegs bin/war:

Die Mischung aus Neugier, Unverständnis und Bewunderung bei den nicht radelnden Menschen, auf die man unterwegs so trifft

Im Gegensatz zum vorgegebenen Alltag und seiner Fremdbestimmung, das Gefühl ständig freie und eigene Entscheidungen über existenzielle Dinge treffen zu können, ja zu müssen. Das trifft mich immer wieder mit kolossaler Wucht und einer Mischung aus Sorge und Euphorie

Das Gefühl, etwas Ungewöhnliches zu tun, das nur von Wenigen geteilt wird, verbunden mit meinem Bedauern über diese Tatsache

Das Gefühl, körperlich von Tag zu Tag fitter, athletischer und leistungsfähiger zu werden

Das völlige Unverständnis über den gesellschaftlichen Mainstream

Das Gefühl, mich ständig um alles und jede Kleinigkeit selbst kümmern zu müssen

Das Gefühl, ein unverbesserlicher Romantiker und Außenseiter zu sein

Das Gefühl, dass es keine bessere Gelegenheit zum klaren Denken gibt, als auf Radreise zu sein

Das Gefühl, dass mich dieses klare Denken davon wegführt, gesellschaftliche Normen und ihre Irrationalitäten anzuerkennen

Das Gefühl, unendlich glücklich und stolz zu sein und dass meine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem Hier und Jetzt miteinander verschmelzen

Das Gefühl und die Sicherheit, zu wissen, was wichtig ist für mich und was nicht

Das Gefühl der tiefsten Liebe, Sehnsucht und Dankbarkeit zu meiner Frau

Die Klarheit der Gefühle und des Denkens, die ich im Alltag wegen dem ganzen Schrott nicht realisieren kann

Die tief empfundene Freude an mir selbst, meinem Rad und der Welt, in der ich lebe

Die tief empfundene Dankbarkeit, dass ich bislang nicht hungern oder übermäßig leiden musste

Das Gefühl, unendlich stark zu sein und alles zu können, auch wenn es unüberwindlich erscheint

Das Gefühl, dass es viel klüger wäre, mehr - oder wenigstens öfter - unterwegs zu sein

Das Gefühl, mir ganz gewaltig den Arsch abzufrieren und den ganzen Kram gehörig zu verfluchen

All das vermisse ich, wenn ich nicht auf Radtour bin. Oder mit anderen Worten: All das bleibt von Radreisen als Erinnerung in mir