Re: Umfrage: Was hält dich vom Radreisen ab?

Posted by: Friedrich

Re: Umfrage: Was hält dich vom Radreisen ab? - 12/22/20 02:50 PM

Die Fragestellung im Betreff war und ist für mich auch irreführend.

Ich habe mit 13 Jahren während den Sommerferien meine erste längere Radreise mit zwei Freunden gemacht. Der sehr bescheidenen Ausrüstung und den noch bescheideneren zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln (Schüler aus einfachen Arbeiterfamilien) standen die sehr bescheidenen Ansprüche gegenüber und der Wunsch selbstständig, aus eigener Kraft und ohne Aufsicht und Bevormundung zu reisen. Neben den Fahrrädern ohne Gangschaltung aber mit Stempel- und Rücktrittbremse gehörte zur "Luxusausstattung" ein Jägerrucksack, ein billiger Regenmantel und eine alte Pferdedecke aber kein Zelt und keine Schlafmatte. Auf dem Speiseplan stand neben dem riesigen, von daheim mitgenommenen geräucherten Stück Speck mit Zwiebeln, Paprika, Gurken und Tomaten; "ghiveci" oder Schweinerippchen mit Bohnen in der Dose auf dem Speiseplan. Nach so einer Reise ist das Thema Geldsorgen und Selbstzweifel passé. Der Wunsch irgend welche Abenteuer zu erleben oder das Bedürfnis die eigenen Grenzen kennen zu lernen, wie man oft lesen kann, hatte keiner von uns, doch seither ist Radreisen ein wichtiger Teil unseres Lebens aber keineswegs Lebensinhalt.

Später, als Schichtarbeiter mit einer 6 Tage-Woche und 18-21 Tagen Urlaub waren lange Fahrradreisen reinste Utopie. Behelfen konnte man sich indem man unbezahlten "Studienurlaub" der einem bestimmten Teil des sozialistischen Proletariats zustand in Anspruch nahm (gab es auf Antrag und gegen Vorlage des Abiturzeugnisses). Schaut aber ganz blöd aus wenn man während des "Studienurlaubs" einen schweren Fahrradunfall hat und anschließend 3 Monate arbeitsunfähig ist. In meinem ganzen Berufsleben war ich einmal 3 1/2 Monate am Stück verreist (dabei recht wenig mit dem Fahrrad unterwegs weil diese Reise einen ganz anderen Grund und Zweck hatte). Damals habe ich zum Jahreswechsel 6 Wochen alten und 6 Wochen neuen Urlaub mit 2 Wochen unbezahltem Urlaub zusammengelegt. Ein zweites mal hätte ich wegen einer heiklen privaten Angelegenheit bei deren Lösung mir der Arbeitgeber sehr entgegengekam 6 Wochen regulären Urlaub mit 3 Monaten unbezahltem Urlaub kombinieren können. Bei einer mehrmonatigen Radreise hätte es dieses Entgegenkommen nicht gegeben.

Laut Betriebsvereinbarung (vermutlich) waren 3 Wochen Urlaub am Stück sicher - ich habe meistens 4 Wochen am Stück nehmen können, manchmal sogar 5. Wenn man ledig ist oder einen radbegeisterten Partner hat kann man leicht eine mehrwöchige Radreise unternehmen, ansonsten wird es vermutlich problematisch, die Beziehung leidet darunter oder geht kaputt. In meinen letzten 4 - 5 Arbeitsjahren habe ich es jährlich, inklusive 32 Tagen Urlaub, meistens auf etwa 80 arbeitsfreie Tage gebracht. Leider gab es keine Möglichkeit diese zusammenhängend frei zu nehmen.

Wenn man mehrsprachig in und mit unterschiedlichen europäischen Kulturen aufgewachsen ist (es gab und gibt da wo ich aufgewachsen bin 18 anerkannte Ethnien / Minderheiten) sollte der Wunsch in fremde Sprachen und Kulturen einzutauchen bis zu einem bestimmten Maß befriedigt sein.

Meinen Job einfach hinschmeißen, Wohnung aufgeben und ein paar Jahre reisen wäre mir nie eingefallen aber nicht aus finanziellen Gründen. Zu den Chancen ab einem bestimmten Alter nach mehrjähriger Unterbrechung einen ähnlich sicheren und vernünftig bezahlten Job zu finden möchte ich mich nicht äußern. Wie es in den kleinen, vom Inhaber geführten Betrieben zugeht wurde weiter oben geschildert. Ich kenne das aus eigener Erfahrung weil ich mir das "nebenberuflich" angetan habe (auch um mir ein Bild zu machen).

Ich war über 6 Jahre aus politischen Gründen (auf die ich nicht näher eingehen möchte) von meinen Eltern, Großeltern und Geschwistern getrennt, von meiner langjährigen Freundin und von meinen Freunden. Mir Ähnliches wegen einer, zwar wann immer abbrechbaren, mehrjährigen Fahrradreise antun? Wirklich nicht.

Exotische Radreiseziele? Das Exotischste wäre für mich Z.B. Pacific Coast Highway, Great Divide MTBR oder Rußland. An anderen exotischen Radreisezielen besteht meinerseits geringeres Interesse. Europa hat landschaftlich und kulturell so phantastisch viel zu bieten daß ein Reiseradlerleben vermutlich nicht ausreicht um das alles zu erkunden - vorausgesetzt man stellt nicht so hohe Ansprüche wie manch versierter Timbuktufahrer den Eurolandia langweilt. Was der wohl von einem Reiseradler hält der durch das Allgäu, den Bayerischen Wald, durch die Pyrenäen, Tschechien oder durch das Salzkammergut tourt? Fragen wir lieber nicht.

Die Erfahrung daß die Aufnahmefähigkeit nach einer bestimmten Zeit arg nachlässt wurde schon angesprochen und ist mir nicht fremd.

Zu behaupten "die Angst fährt immer mit" wäre arg übertrieben aber ich habe einen schweren, fremdverschuldeten Fahrradunfall im "zivilisierten" Europa mit Krankenhausaufenthalt und "Heimflug nur mit ärztlicher Begleitung" als nicht besonders angenehm in Erinnerung.

Obwohl ich jetzt zeitlich und finanziell unabhängig, bzw. abgesichert bin würde ich keine Radreise die länger wie 4 - 5 Monate dauert unternehmen.

Kurz zusammengefasst waren bei mir die Hauptgründe beruflich bedingter Zeitmangel sowie soziale und familiäre Bindungen und Verpflichtungen, gefolgt von der Sorge um einen einigermaßen sicheren und vernünftigen Arbeitsplatz mit dezentem Einkommen, nachlassender Aufnahmefähigkeit und fehlendem Interesse für bestimmte Länder und Gegenden dieser Erde. Geld, Selbstzweifel, fehlende Informationen, Lebensmittelunverträglichkeit oder Karierreängste haben in meinem Fall keine Rolle gespielt (ist vermutlich bei den Meisten so ähnlich). Ich hoffe hiermit deine Fragen einigermaßen zufriedenstellend beantwortet zu haben.