Posted by: veloträumer
Große Jura-Prüfung 2012 - 02/03/13 10:52 PM

Dissertation und Große J(o)uristen-Prüfung im launenhaften Mai – mit Schwerpunkt südliches Jura und einer Veloparty à la Suisse

Inhaltsverzeichnis
Einführung & 1. JP: Teamfähigkeit & verschwiegene Agentenmission – Basel, Biel, Bern (gleich hiernach)
2. JP: Wetterfestigkeit & jurassische Philosophie – Neuenburg, Val Travers, Chasseron
3. JP: Wasserfallfotografie & empirische Pharmaproduktversuchsreihe – Jura France
JAP: Höhlentauglichkeit & infektiöse Sehschwäche – Lac de Joux, Lac Léman
Hinweis für alle Forumsteilnehmer/innen: Dieser Bericht enthält auch meine Perspektive des Forumstreffens Biel/Bienne 2012 in Wort und Bild. In der ersten Bildergalerie gibt es daher auch Bilder von unseren Ausflügen, wenngleich die Bilder schon witterungsbedingt dort eher etwas bescheiden ausfallen. Noch rechtzeitig vor den ersten Frühlingsgefühlen also nochmal Zeit, gemeinsame Raderlebnisse Revue passieren zu lassen oder sich einzustimmen auf neue Treffen. Noch passend zur Winterzeit schmerzt da schon nochmal manch kalter Finger im jurassischen Geiste.

Fachliche Abgrenzung und Prüfungsverfahren
Frage: Wie nennt man Touristen, die durch den Jura reisen?
Antwort: Jouristen.
Man könnte auch sagen, dass der neuzeitliche Jourismus einen Hybrid der Kelten- und Römersprache wiederspiegelt. Denn die Kelten nannten das „Waldland“ Jor, die Römer Juris. So gesehen ist unklar, ob eine Promotion im Fach Jourismus mit „Dr. jor“ oder mit „Dr. jur.“ abgeschlossen werden kann. Das Dekanat für Radlerlatein entschied sich zur Bezeichnung „Dr. j(o)ur.“ um Verwechslungen mit einer pseudo-wissenschaftlichen Spezies, die mit dem Jura nichts zu tun hat, zu vermeiden. Diese andere Gruppe der „Juristen“ ist eigentlich mit „Rechtsverdreher“ besser gekennzeichnet. Auch sind jene „Juristen“ als Karriereristen bekannt und neigen in besonders häufigen Fällen zur Plagiatsmethode. Aus dem rein wissenschaftlichen „Jourismus“ hingegen sind bisher noch keine Entgleisungen und Missbräuche bekannt, sodass Dr. j(o)ur. ein uneingeschränktes Qualitätssiegel darstellt.
Wer über jurassische, joristische oder juristische Grundkenntnisse verfügt, den bitte ich um Bewertung in den vier folgenden jouristischen Prüfungsfächern. Sofern bestanden, beantrage ich hiermit die offizielle Vergabe der Doktorwürde im Fach J(o)ura. Plagiatsvorwürfe bitte nur an mein Ministerialbüro trasgu prudensis. Die Teilnahme in der Prüfungskommission ist natürlich freiwillig und wird nicht honoriert. Früher übliche Bestechungsgelder für geschönte Bewertungen in bekannten Dissertationsverfahren (bitte sich Namen denken, es gibt ja mittlerweile genug davon) wurden aufgrund der Schuldenbremse gestrichen. Ggf. kann der Zeitaufwand für das Lesen als juristische Fortbildung von der Steuer abgesetzt werden. Das deutsche Steuerrecht kennt den Unterschied zwischen Jouristen und Juristen noch nicht. Bitte fragt eure(n) Steuerberater(in).
Geistig-geografische Einweisung und der Zorn Gottes
Der Jura ist eine immer noch abseitige Region – in der Schweiz wie auch in Frankreich. Vielfach einsam, im Winter rau und kalt, in warmen Monaten heiter und erfrischend, im Herbst bunt und leuchtend. Hügelketten, große und kleine Schluchten, ruhige, lieblich-kleine Natur- und Badeseen, große Seen mit lebhaften, kulturreichen Uferorten, üppige sprudelnde Karstquellen, verzauberte Mooswasserfälle, romantische Flussbiotope, einsame Hochebenen, weitreichende Alpenpanoramen, gewaltige Talkessel, geheimnisvolle Höhlen, mächtige Riesentannen, präzise Uhrenbauer, Heimstatt großer Denker, berauschender Absinth, würzige Bergkäse, schmackhafte Back- und Süßwaren, unbekannte Wein- und Essigspezialitäten, Dörfer mit sprödem Charme, städtische Kleinode abseits der großen Ferienrouten – das ist eine sträflich unvollständige Beschreibung eines Landstriches, der im Wesentlichen einen grenzbildenden Gebirgszug zwischen Schweiz und Frankreich bildet, mit einem Ausläufer zum Hochrhein ein hügeliger Gegenpart zum Schwarzwald und eine Abgrenzung zum Schweizer Mittelland andererseits. Der quellreiche Jura entwässert sich am Rande über Aare, Rhein und Rhone nebst der großen Seen von Genf, Neuchâtel und Biel, sowie inmitten durch den weitschleifigen Doubs im Norden und Westen und den mäandernden Ain im Süden.
Die mystisch anmutenden Quellen mehrerer Juraflüsse waren denn auch ein Kernthema der Tour, die im Gegensatz zu meiner Spätherbstreise 2010 Jura du Nord (Suisse) im Schwerpunkt in die mittleren und südlichen Teile des Juras führte – gewissermaßen eine Fortsetzung also. Es sei darauf verwiesen, dass ich auf der Nordjura-Tour bessere Witterungsbedingungen hatte als bei z.B. auf der gemeinschaftlichen Chasseral-Tour. Für alle, die sich für die Landschaft rund um den Chasseral interessieren und die nur verregnete Erinnerungen mit sich tragen, seien die Bilder der Nordjura-Tour unbedingt ergänzend empfohlen. Durch die föhnigen Herbsttage hatte ich damals teils fantastische Panoramabedingungen.
Neben einer größeren Schnittmenge im Nordjura gab es aber auch Orte und Strecken, die ich schon von meiner Sommerradreise 2002 (auch, aber weniger 2004) her kannte – damals mit Schwerpunkt Französisches Jura als Auftakt einer Alpen-Mittelmeerreise gewählt. Das betrifft vor allem die Region um die Cascade du Hérisson einschließlich der dort idyllisch gelegenen Seen. Aus diesen vergangenen Touren, die ich hier noch nie ausführlich dargestellt habe, möchte ich die Highlights ergänzen, die auf dieser 2012er-Tour nicht berücksichtigt sind, aber zu einjeder kompletten (französischen) Jura-Tour sein sollten: St-Ursanne, die folgende Doubs-Route bis St-Hippolyte, das Tal der Dessoubre, die Cascade de Vermondans, der Lac de St-Point (mit Hochmooren anbei), der Lac de Chalain und einige weitere Seen Richtung Cascades du Hérisson sowie Nantua mit See. Weniger attraktiv fand ich insbesondere den See von Clairvaux (sehr kommerziell), den Lac de Vouglans (allerdings nur zum kleinen Teil erkundet) und Oyonnax, ein Zentrum der Plastikindustrie.
Eine Besonderheit bildete der Anlass der Reise: Das Schweizer Forumsmitglied Markus alias mstuedel organisierte das Radreiseforumstreffen 2012 in seiner aktuellen Heimat am Bieler See. Diese Gelegenheit wollte ich nicht verpassen, meine bereits ersehnte Jura-Anschlusstour dann ab Biel zu starten, zumal eine lange Brückenwoche zwischen Himmelfahrt und Pfingsten nutzbar war. Es machte für mich auch Sinn, die Anreise ab deutscher Grenze zu beginnen und den mir eigentlich nicht zustehenden

Kalte Finger sind das Stichwort für eine ewig leidiges Thema des rollenden Freiluft-Nomaden. Die Tour könnte im Frühjahr eine Traumtour sein – wenn es der Mai gut meinen würde. Tut er aber nicht immer – sogar häufig nicht, erfahrene Forumstreffenteilnehmer wissen das – Christi Himmelfahrt ist sehr wankelmütig, was den Zorn Gottes angeht. Diesmal zürnte der angebliche Erbauer des Erdenkreises sehr unstetig als wolle er der Prognose heidnischer Völker auf den bevorstehenden Weltuntergang Nachdruck verleihen. Sonnige Frühsommerstunden wechselten mit garstigen Wind-, Nebel- und Regenfronten – gern auch am selben Tag. Waren die Tage kalt und nass, war es in der Nacht kaum besser. Waren die Tage sonnig, waren die Nächte noch kälter, um nicht zu sagen frostig. Vor allem die Folgen des Wetters bewirkten, dass ich meine Etappenziel nie halten konnte. Die Tour hätte ich als bekennendes Weichei abbrechen dürfen – ich tat es nicht. Trotzdem ist es keine Heldentour. Ich habe mir Mühe gegeben, ich habe es geschafft – nicht mehr, nicht weniger. Insgesamt habe ich fast zwei komplette Tag auf meine Planung verloren. Vor allem musste ich den äußersten Süden des Jura angrenzend an die Rhone ganz streichen.
Die regionale Aufteilung dieser Tour – besser ein jeder Juratour – ist zum Scheitern verurteilt. Dres Balmer hat über die Schwierigkeit, eine komplette Juradurchquerung mit dem Rennrad auszuarbeiten, einen netten Artikel im Schweizer velojournal vor einigen Jahren veröffentlicht: Über das Scheitern einer Juradurchquerung. Die vielen Quertäler, der zuweilen recht willkürliche Verlauf der Nationalgrenzen und schlicht immerzu wechselnde Landschaften, die sich nicht geografisch zu Blöcken ordnen lassen, erlauben meine beliebten Regionaleinteilungen von Reisegebieten nur unzulänglich. Eine grobe Orientierung liefern die Länder – Schweiz und Frankreich unterscheiden sich eben in der Kultur, wenngleich es meistens keine Sprachgrenze gibt, da grenznah auch die Schweiz im Jura (über den Kanton Jura hinaus) französischsprachig ist. So führen die ersten beiden Teile weitgehend durch Schweizer Gebiet, der Anreiseabend ganz am Anfang bewegt sich allerdings durch Frankreich. Es folgt ein großer Block, der weitgehend in Frankreich liegt – hier schäumt das meiste Wasser im Jura. Der letzte Teil ist dann wieder überwiegend eine Schweizer Route, wenngleich am Schlusstag mit einem größeren Frankreichanteil, den ich aber kulturell recht unbeachtet lasse.

Total: 12-13 Tage | 1047 km | 14580 Hm
1. Jouristische Prüfung:
Teamfähigkeit und verschwiegene Agentenmission
Jura Suisse du Nord: Basel – Biel – Bern – Geheimcode BBB für glückselige Radler an einem Schweizer See
Mi 16.5. Stuttgart 14:59 || 19:02 (real: 20:02) Haltingen – Hegenheim – Hagenthal – Flüh
11/6 °C, windig, bedeckt
E: Salat, frit. Karpfenfilets, PF, Rw, Erdbeeren „Chantilly“ 32,60 €
Ü C wild 0 €
29 km | 14,7 km/h | 2:00 h | 195 Hm
Auf verschiedenen Routen sollte das Team von Geheimcode BBB anrollen – lautlos, ohne Motoren, nur von muskulär erzeugter Speichenenergie angetrieben – eben geheim. Basel galt zwar als vielfacher Ausgangspunkt, eine zu große Zusammenballung musste aber vermieden werden, um nicht Opfer von Satellitenortung der Gegenagentenseite zu werden. Einige zogen die frühzeitige Anreise vor, um Verwirrung auf gegoogelten Tracksonaren zu erzeugen und damit die Beobachtung von massenhaften Pedalbewegungen zu vereiteln. Ich selbst wählte die solistische Tangentialmethode – sprich: Basel nur auf Sichtweite annähern, aber nicht befahren. Glücklicherweise hatte ich später im Jahr nochmal Gelegenheit, ein paar mehr Eindrücke vom der Rheinkniestadt zu gewinnen – sogar weitgehend mit Teilnehmern von Code BBB (vgl. Basel-Treff Dezember 2012).
Da muss der Planer schon ein bisschen tricksen: Eine Tagesanreise per Rad von der Grenze – das geht nur, wenn man bereits abends zuvor den Zug ab Stuttgart nimmt, sonst ist bereits ein halber Tag mit der Bahn verbummelt. Früher Büroschluss, fertig aufgepumpte Reifen und Packtaschen aufgelegt – gut vorbereitet kann die Reise bereits Mittwochmittag beginnen. Doch wehe dem, der mit der perfekten Bahn rechnet. „Personen auf den Gleisen“ heißt es wiederholt auf der Rheinstrecke – der Zug sammelt üppig Standminuten und kommt schließlich auf eine volle Stunde Verspätung. Ein Agenten-gelenktes Störmanöver? Die Geheimmission erforderte es umso mehr: Anreise zu einem möglichst unauffälligen Ort vor den Toren Basels, ungesicherte Grenzübergänge nutzen.

Das nahe Sundgau macht wenig Hoffnung auf Besserung – mal ein wenig Nieselregen, dazu alles Grau in Grau – auch die Franzosen halten sich bedeckt. Mir fehlt die Stunde nötigst – ich könnte Mariastein erreichen – Zelten auf Wiesen in Höhenlage, oder gar Luxus in der Jugendherberge Burg Rothberg – mit Mittelalterflair und geradezu 5-Sternelage in Sachen Romantik. Nicht aber mit Verspätung. Also esse ich erst mal noch in Frankreich, in Hagenthal. Eine gute Wahl! Frittierte Karpfenfilets – DIE Spezialität des Sundgaus, eigens eine „Routes de la Carpe frite“ führt an den vielen kleinen Karpfenteichen durch diesen südelsässischen Landstrich, sanft behügelt, kleine Idylle, unspektakulär, für ruhige Radstunden gemacht. Es ist zugleich die Schnittstelle zu einer weiteren Tour des Jahres – die frittierten Karpfen hatte ich schmerzlich versäumt zu kosten – jetzt habe ich das nachgeholt. Da das Ambiente stimmt, genehmige ich mir auch noch jahreszeitgemäße Erdbeeren – ich hatte das große Essen für die kleinen Kilometer nicht nötig, aber ich hatte Lust.

Es ist hier schon recht steil, die Wiesen und Weiden landwirtschaftlich abgezäunt oder eben unzugänglich für das Auslegen eines Zeltbodens. Flugs bin ich in der Schweiz – da fahren gleich Straßenbähnle – nach Basel zurück ist es nicht weit. Leider auch dicht besiedelt – zumindest die guten Flächen, danach nur noch steiles enges Tal – es ist kalt, der Atemhauch weiß im Dunkeln der Nacht. Wohin das Zelt? – dort beim Bärlauchgeruch, wo der Wanderweg in den steilen Hang hinauf führt vielleicht? – irgendwie – es muss gehen, weil hundemüde. Die Mischung aus Schutthalde und Wanderparkplatz ist nur hart, die Heringe halten nicht – vielleicht zwei davon. Improvisiert hängt das Tuch – ich hatte schon bessere Zeltnächte. Kalt ischt, kalt zieht es mir an die Stirn, in den Morgenstunden fällt die Frostgrenze. Da musst du durch, der Code heißt BBB – da kommen keine Weicheier hin. Ließ das Forum, Lappland, Island, Himalaja – alles weit unter Null, -30 °C zum Beispiel, Schneeschaum bis auf Lenkerhöhe, abgestorbene Finger, Heldennarben und das alles mit Begeisterung! Das ist die Truppe, die Code BBB folgt! – Nur nicht unterkriegen lassen, das kann ich auch, wenn auch nur im Schweizer Frühling…

Do 17.5. Flüh – Mariastein – Challpass (747m) – Röschenz – Roggenburg – La Montagne/Pleigne (881m) – Bourrignon – Le Sommet (876m) – Develier – Bassecourt – Le Pichoux – Sornetan – Combe des Peux (~1000m) – Le Fuet – Tavannes – Col du Pierre Pertuis (827m) – Biel – Sutz – Brügg – Sutz
112 km | 14,5 km/h | 7:42 h | 1760 Hm
W: 0/16/18 °C, meist sonnig, lange sehr kalte Luft, windig
B: Dia-Vortrag C. Marthaler/Velo-Museum (Spende)
E: SV
Ü: C Sutz 15,40 €
Die Nebenhöhlen haben schon mal die Schotten dicht gemacht. Atmung schwer, eiskalt durch den Rachen, gehauchte Luftsäulen steigen sichtbar aus dem Mund. Frühstück lassen wir mal, die mageren, durchgekühlten Rationen in der Tasche müssen vielleicht noch durch das Entwicklungsland Schweiz halten. Brot gibt es feiertags nämlich nicht – nicht hier auf dem Lande, sogar wochentags hätte man Mühe, einen Laden zu finden. Es gibt Dorfbrot manchmal, direkt ab Hof, aber nur an 1-2 Wochentagen, gut wer das weiß – so hält die dörfliche Gemeinschaft zusammen, dauerhaftes Brot und nur für Einheimischen, auch quasi geheim. In Mariastein gibt es sogar was zu kaufen – direkt ab Hof: Most, Milch, Anfeuerholz und Strohballen! Strohballen kaufen am Feiertag – das hat was! So ein Strohballen auf dem Rad, das würde beim Team von Code BBB Eindruck machen. Ich überlege kurz, verwerfe aber den Gedanken. Ich grüße einen Hofbauern – der beäugt mich wie einen Dieb – könnte ja einen Strohballen klauen? Er grüßt nicht zurück – der Schweizer ist misstrauisch, deswegen behält er auch noch Grenzzäune inmitten Europas und eine veritable Armee. Man weiß ja nie. Das Spiel mit dem unerwiderten Gruß wiederholt sich noch zweimal mehr am Tage, darunter auch ein Radlerpaar mit Gepäck. Erst dachte ich, sie folgen via Lützeltal auch dem Code BBB – schnell genug sind sie ja, ich kann kaum folgen. Doch wer nicht grüßt, kann auch nicht dem Code BBB folgen. Ich behalte Recht, wer weiß, wo sie hingefahren sind.
Zwischen Mariastein und Lützeltal steht noch ein Pass, der fordert mich bei der Kälte so, dass ich meine Lunge zwischendrin mal nachfühle – ob sie noch da ist. Der Hals kratzt schon. Wenn sich die Hände wieder bewegen lassen, werde ich Ingwer essen. Das hilft zwar nicht im Ewigen Eis, aber hier, wo die Sonne nun über Wolkenschichten Hoffnung auf ein bald wärmeres Himmelfahrt macht, da räumt das schon mal im Hals ein bisschen auf. Das Lützeltal fahre ich nicht aus bis Lucelle, sondern nehme den Berg nach Pleigne. Das hat Pfiff – ein erster Berg mit rechter Steigung, Rennradler fahren vorbei – die grüßen sogar! Kleine Zwischenmulde, dann kommen Prozente – nicht trinkbar, auch kaum tretbar, aber ich komme hoch – 17 % heißt es auf dem Blech an der Seite. Immerhin, das Frühjahr hat ja die Trainingsmuskeln schlapp hängen lassen. Ich weiß nicht, was mir die Reise erlauben wird. Die Ansprüche stehen auf dem Papier – das wird aber immer weniger wert, wenn der Autor jedes Jahr Geburtstag feiern muss.

Bisher war die Landschaft ansprechend, ein paar Waldstrecken, meist aber offene Wiesen und Weiden, Schweizer Kühe – glückliche selbstverständlich. Von Veganern halten sie nichts – ich habe sie gefragt.

Auch das Tal mit der Nebenstraße zur Hauptroute von Lucelle nach Bourrignon ist appetitlich. Nach einem Zwischental wieder rauf nach Bourrignon. Direkt bei der Einmündung stehen Zollbeamte – oder Polizisten, ich weiß nicht mehr genau. Auch die schauen recht misstrauisch. Zollkontrolle? – Was mache ich mit dem ganzen Schwarzgeldern in meinen Taschen? – Ich rufe „Code BBB“ und werde sofort durchgewunken.

Ab Develier ein kleines Sträßchen – muss man ahnen, nicht ausgeschildert. Lohnt aber, nochmal kurz Steilrampe, dann Felder und Wiesen, eine Hütte – mal ein Platz zum Ausruhen. Die Sonne ist warm genug, reicht sogar für ein Vollsonnenbad für den Astralkörper, das Zeltgerümpel kann auch trocknen. Wenn die Reise so weiter geht, dann können die Daumen hochgestellt werden…


Das Highlight des Tages: Die Gorges du Pichoux. Hoch aufragende, zuweilen spitz zulaufende Felswände, zerklüftet, Steinbogentunnels, sprühendes Wasser von den Seiten, verfallenes Brücklein, bunt leuchtende Mauerblumen, exotisch anmutende Bäume auf den Bergscheiteln, geduldige Angler zwischen den schäumenden Flusskaskaden, irisierendes Sonnenlicht, theatralische Schattenspiele und silberne Wasserglitzer. Bei der Einfahrt in Berlincourt steht die Ankündigung „Tour de France – 8. Juli 2012“. Unglaublich, dass der Dopingsumpf sogar durch die saubere Schweiz fahren darf.



Die Strecke über Sornetan (träumerisch und panoramareich über dem Tale gelegen) führt alsbald über eine asphaltierte Forststraße, in manchen Karten noch gestrichelt verzeichnet. Nimmt man eine andere Abzweigung, kommt man hier auch zum Berg Moron mit einem modernen Turm – einem Symbol für die Kunst des Mauerwerkens und gar von 700 Lehrlingen erbaut. Für den Abstecher fehlt mir aber Kraft und Zeit, Code BBB ruft mit Abendkulturprogramm mit Pizza und Diavortrag. Ich verfehle meine eigentlich geplante Route, es gibt noch mehr Verzweigungen als auf der simplen Straßenkarte zu sehen. Die von mir ersuchte Strecke war gerade im Bau, somit bergauf Piste gewesen – aber durchaus fahrbar. Durch den Bau waren aber auch die Schilder entfernt. Als ich den Fehler bemerkt hatte, war ich zu weit unten auf der alternativen Strecke – so schlimm ist es ja nicht – ca. 50 Hm weniger halt.


Der Col du Pierre Pertuis dürfte nicht nur mir, sondern auch den meisten Forumstreffenteilnehmern mit Code BBB bekannt sein. Man verlässt das schmucklose Tavannes und macht einen kleinen Hüpfer durch einen Laubwald, wo etwas versteckt ein Felstunnel neben/unterhalb der Straße liegt. Dieser diente bereits den Römern als Passstraße und wurde erst im Zuge des Ersten Weltkrieges von der heutigen tunnelfreien Straße abgelöst, von der wiederum heute ein neuer Autobahntunnel den großen Verkehr ableitet: Straße ersetzt Tunnel, Tunnel ersetzt Straße. Ist also alles wieder wie zu Zeiten der Römer. Schweizer vertreiben Römer, Römer vertreiben Schweizer? – Ja ist so, schon mal was von der Schweizer Garde gehört, die als Sklaven in Rom für den Papst arbeiten müssen?


Trotz meiner Streckenkürzungen war ich doch recht spät dran. Zumindest für das Halbkulturprogramm „Pizza essen“ von Code BBB. Also bin ich erstmal ausgehungert zum Sutzer Campingplatz gefahren. Da waren sie dann zu Hauf – Code BBB hat funktioniert.


Der Weltenbummler Claude Marthaler erhob dann seine Stimme, die Zuschauermassen im von mir leider nicht näher inspizierten Velo-Museum (das kärgliche Supermarktmahl war mir wichtiger

Fr 18.5. Sutz – Biel – Vingelz – Lamboing – Col du Chasseral (1502m) – Col des Pontins (1132m) – St-Imier – Col du Mont Crosin (1227m) – Les Reusilles – Etang de Gruère – Bellelay – Tavannes – Col de Pierre Pertuis (827m) – Biel – Sutz
97 km | 16,1 km/h | 5:58 h | 1900 Hm
W: 12/9/18 °C stark bew., Regen, abends Sonne
B: Käsemuseum Tête de Moine, Bellelay, Probe ~ 13 €
E: Käsefondue, Ww, ~ 35 €
Ü: C Sutz 15,40 €
Ich könnte jetzt darüber sinnieren, dass große Radbegegnungsplätze Orte der Schlaflosigkeit sind – auf keinen Fall unbedarften Radwanderern zu empfehlen. Wir erleben nicht nur neue harmonische bis dissonante Formen der konzertanten Schnarchsinfonie – auch gehört es zum Code BBB, dass die letzte Radgeschichte des Tages die beste ist, die kurz vor Morgengrauen erzählt wird.


Es gab wohl Unterschiede – die eine Gruppe naschte Schokolade in Courtelary, die andere setzte auf Mönchskäse und Rotwein in Bellelay. Einige suchten das noch letzte verbleibende Schneebrett, um die Dichtigkeit von Klickpedalschuhen zu testen, andere ließen sich lieber von unten bis oben beträufeln. Die Käse-Regen-Fahrer kamen noch in den Genuss, den romantischen Etang de Gruère zu betrachten, als dann Regentropfen ihn in ein Trauerkleid hüllten. Bei besserem Wetter darf man hier an einer Stelle auch baden – allerdings nicht jeder, sondern nur die örtliche Jugend (!) – das nennt sich Jugendförderung à la Suisse.

Käse ist nicht nur in Frankreich Kulturgut sondern auch in der Schweiz. Nur folgerichtig, dass Markus uns (die Käsegruppe) zur Käseaufklärungsstation in ein altes Kloster führte – das von Bellelay. Wer jetzt mittelalterliche Lehrmethoden erwartet hatte, musste umdenken: Videovorführung, Tablet-Museumsführung. Nicht so ganz mein Geschmack – eine persönliche Führung kann die Technik nicht ersetzen. Auch sind Papierunterlagen besser als digitale Hochleistungsfettpfotenbedienscheiben, denn erstere lassen sich kostengünstig in beliebiger Anzahl kopieren und aushändigen, die modernen Akku-Lesegeräte werden schon aus Kostengründen rationiert. Wahrscheinlich hatte es auch mit der Geheimmission Code BBB zu tun – Hochelektronik aus dem James-Bond-Kasten.
Die Herstellung des Tête de Moine (vgl. auch Bericht Nordjura und zugehöriges Bilderrätsel) folgt auch heute noch zum Glück weitgehend traditionellen Herstellungsmethoden, wovon man sich bei der anschließenden Käseprobe auch geschmacklich überzeugen kann. Das historische Käse-/Klosterinventar beeindruckte einige Forumsteilnehmer so stark, dass sie sich bei der Luftkäseherstellung so ins Zeug legten, dass nicht mal die Hochleistungskameras scharfe Bilder erzeugen konnten.

Wie wichtig Käse ist, zeigte die Rückfahrt von Bellelay. Einer hatte sich dem Käsepicknick widersetzt und prompt verlor er den Anschluss an das Peleton.



Auch wenn sich nicht alle an dem Fondue-/Raclette-Abend zu Schweizer Discountpreisen beteiligen wollten, war er doch eine schöne Zusammenkunft und landestypische Abwechslung zu den Selbstversuchen in der Herstellung von Fleischfaserkohle am Grill wenige Laufmeter weiter. Eindrucksvolle Ergebnisse für diese Art exquisiter Schuhsohlenherstellung gab es dort vor allem am nächsten Abend.



Sa 19.5. Sutz – Hagneck-Kanal – Aare-Veloroute – Bern – Münchenbuchsee – Rapperswil – Schadernau – Biel – Sutz
88 km | 18,4 km/h | 4:47 h | 840 Hm
W: 12/22 °C, teils Regen, teils heiter
E: SV (Grillabend)
Ü: C Sutz 15,40 €
Was ich bisher trotz nicht gerade geringer Schweiz-Erfahrung noch nicht geschafft habe, sollte nun Teil von Code BBB Wirklichkeit werden. Besuch der Schweizer Hauptstadt mit dem Radl. Ein bisschen jubilierendes Wiedersehen war es dennoch, mit dem Auto war ich schon mal da – sogar mit Campingübernachtung (erster Gast des Jahres bei Saisoneröffnung Anfang Mai – vor fast genau 25 Jahren!) und mit Besuch des Jazz Festivals. Das Jazz Festival hätte man auch diesmal besuchen können – am diesem Tage traten Manhattan Transfer in der Gala Night auf Manhattan Transfer „Tuxedo Junction“ (3:06 min.). Während früher das Festival hauptsächlich im städtischen Kursaal stattfand, hat Bern seit 20 Jahren mit dem Jazz-Hotel „Innere Enge“ und dem dortigen Marians Jazzroom einen neuen, weltweit einzigartigen Treffpunkt für Musiker und Freunde der swingenden und improvisierten Musik. Viele Zimmer des Hotels sind Jazzlegenden gewidmet. Doch 4-Sterne-Plus ist nicht so richtig mit Code BBB vereinbar – Publikumssaal statt Geheimhütte, Edelrobe statt Schweißtrikot, Vocalese-Hochkultur statt Sauf- und Forumslieder.

Stattdessen hohe Politik – zumindest eine Gruppe widmete sich dem Wesen der Schweizer Demokratie im Bundeshaus. Wo die zweite Gruppe verblieben war, habe ich nicht mitbekommen – nur dass auf der Rückfahrt auf einmal ganz viele nervöse Radler von Code BBB an der Aare standen und zurück nach Biel wollten. So viele, dass eine Radgruppenchefin schon mal den Lehrerstock einem bekannten Forumsmitglied – Stichwort Joghurtmatschi & sächsische Lausbuben – auf die Finger klopfen musste.


Ich hatte mich als degradierter Politikwissenschaftler der demokratischen Bildung verweigert und widmete mich stattdessen der internationalen Berner Markt- und Straßenkunde. International, weil ich u.a. auf der Suche nach Unterstand bei Platzregen einen gesprächigen Kölner an einem Marktstand fand, der auf Basis eines Franchising-Systems Schweizer Spezialitäten verkauft. Habe auch mal nicht ganz uninteressiert nachgefragt, wie das so läuft usw. Der Kölner war recht zufrieden mit seiner Schweizer Neugeburt. Muss ich vielleicht nochmal drüber nachdenken. Jedenfalls greife ich auch zu Schinken, Käse, Birnenbrot – nicht ganz billig zusammengerechnet.
Umso erstaunter war ich über preisgünstige und verschiedenartige Salate aus einer Boucherie französischen Zuschnitts direkt in einer der Hauptlaubengänge, wo ich dann auch schon genannte Rohstoffe für die Fleischkohlefaser-Versuchsreihe erhielt. Auf jeden Fall ist man mit den Einzelhändlern besser und schneller bedient als mit langen Suchorgien in nicht radzugänglichen Supermärkten. Erschrocken war ich etwas über einen Schweizer Händler auf dem Markt, als ich etwas Wolkenbruch-geschädigt Schutz an einem Gemüsestand suchte und alsgleich auf sehr unfreundliche Art vertrieben wurde, soweit ich nichts kaufen möge.

Die Aare-Route hin war ein wenig gewöhnungsbedürftig, was Ecken, Kanten, Brücken und Wegbeschaffenheit betraf – obwohl als familientaugliche Fahrradroute ausgeschrieben und als solche recht gefährlich – der junge Schweizer soll wohl früh vertraut gemacht werden mit den Tücken des Lebens und auf militärische Bodenkämpfe im unwegsamen Gelände vorbereitet werden. Manchmal muss man aufpassen, nicht mit Schwung in das Wohnzimmer von Anwohnern zu rutschen. In ein paar Jahren werden in der Schweiz wohl die Radwege dann direkt durch die Schlafzimmer geführt – Radland Schweiz halt.


Der letzte Abend von Code BBB musste schon deswegen wunschlos glücklich machen, weil alle Forums-Grämeligkeiten sich in Wohlgefallen und ausgelassener Geselligkeit auflösten. (Apropos Geselligkeit: Eine noch recht authentische Volksmusik aus dem Jura (Le Noirmont, Freiberge) könnt ihr von Antoine Flück (2:41 min.) hören – mit echten Schyzerörgelis, einer Schweizer Akkordeonvariante. ) Einzig die Komponente „Ruhig Schlaf“ dürfte ein paar Einschränkungen erfahren haben. Mein Resümee kann nicht anders ausfallen, als dass Code BBB weit harmloser war als es Geheimagenten über dubiose Kanäle munkelten, die Härteprüfung sollte hingegen eher danach noch folgen. Im Gegenteil, Code BBB war ein voller Erfolg und hinterließ bei mir tiefglückliche Erinnerungen. Danke, Markus! Danke Radreiseforum!

Bildergalerie Teil 1 (152 Fotos):
(Hinweis: Die Bilder der Stadt Biel sind bereits am Morgen des Folgetages/-kapitels aufgenommen)

Die nächste Prüfung folgt