Posted by: veloträumer
Re: Was ist dran am Mythos Nordkap? - 08/11/15 03:41 PM
Wie mit dem Nordkap verhält es sich auch mit anderen Orten, die einen Mythos umgibt - ob Seidenstraße, Kap der guten Hoffnung, die Enden der Welten (wie viele gibt es?), der höchste Berg, der größe See oder gar die Romantische Straße. Den Mythos haben andere geschaffen und es ist deine Sache, dir den Mythos einzuverleiben, ihn nachzuahmen, zu versinnbildichen. Der Mythos ist Gedanke, ist Fantasie, ist der transzendente Atem, den du einem Ort unterstellst. Du kannst selbst einen Ort zum Mythos machen oder eben versuchen, einen vorhandenen Mythos nachzuempfinden. Es hilft dabei, viel über den Ort zu wissen - mancher Mythos beruht auf der Geschichte des Ortes - nicht auf seiner Ästhetik oder Schönheit.
Meine Geschichts- und Lateinlehrerin pflegte zu erzählen, wie sie im heutigen Ruinenfeld des Forum Romanum in Rom die Säulenhallen und das Leben der Römer in Tunikas und Togas auferstehen sah, und ihr die Reden von Marc Anton oder die Gedichte von Catull von den Podesten und Plätzen ins Ohr gefallen sind. Jeder, der ein Buch mit Leidenschaft gelesen, bei dem sich starke Bilder aufdrängen, kennt das. Mir brannten sich unvergesslich Bilder aus Bulwers Roman "Die letzten Tage von Pompeji" ein - sodann mit entsprechenden Nachwirkungen bei den Besuchen der versunkenen Stadt gleichwohl. Bei meiner Radreise vor einigen Jahren dort zum dritten Mal empfand ich in Pompeji allerdings nur den Gestank von Müll und den Lärm von Autos. Die Fantasiebilder waren zu schwach geworden, um die Realerlebnisse zu verdrängen. Vielleicht fehlte mir auch nur die Zeit, die gleichen Gefühle erneut zu empfinden wie früher.
Mancher Mythos ist eben nur banal - also etwa der eines geografischen Extrempunktes wie das Nordkap. Was erwartest du vom geografischen Mittelpunkt Deutschlands? Andere Orte beinhalten zumindest Geschichten oder Sagen, die den Mythos ausmachen. Die Geschichte (sowie soziale, wirtschaftliche) Bedeutung nannte ich schon (der Mythos der Seidenstraße beruht nicht unerheblich auf seiner wirtschafltichen Bedeutung als Handelsroute - also "Verkehr", "Geschäfte machen"). Mancher Ort hingegen erreichte den Nimbus als Mythos durch besondere Formen der Natur (Berg-/Gesteinsformen, seltsamer Pflanzenbewuchs, eigenartige Landschaftsanordnungen, besondere Erscheinungen wie Spiegeleffekte - und natürlich herausragende Schönheit - was immer das sein mag). Manche Formen habe sich im Laufe der Zeit mit sagenhaften Erzählungen verknüpft, die den Mythos gemeinsam schaffen (z.B. der Berg Canigou). Man muss also auch einfach Sinn haben, den Mythos als etwas Besonderes nachzuempfinden - egal auf welche Weise. Es ist daher nicht selten, dass man in den eigenen Augen den Mythos nicht wiederfindet. Die Nüchternheit ist dabei der größte Feind des Fantasiegebildes, dass man braucht, um leuchtende Augen zu bekommen. Nicht zuletzt lockt ein mythischer Ort Heerscharen von Erwartungshungrigen an, die damit wiederum eine ernüchterne Atmosphäre schaffen (Massentourismus, Verbauungen usw.).
In Zeiten meiner Jugend lernte ich zwei Südafrikanerinnen beim Trampen in der Provence kennen. Beim gemeinsamen Ziel Aix-en-Provence fragten sie mich, was an Aix so Besonderes sei. Ich antwortete, es sei die Hauptstadt der Provence. "Ja klar, aber was sonst noch?" fragten sie zurück, worauf es mir die Sprache verschlug, derweil ich nichts mehr hinzuzufügen hatte. Was will man noch mehr? - Mir reichte damals dieses Wort "Provence" um ins Schärmen zu geraten, den Anklang lauwarmer Nächte, das Zirpen von Zikaden, der Duft von Lavendel, das offenherzige Leben auf den Märkten, der Geruch der reifen Früchte oder das heitere Spiel von Straßenmusikanten, Gauklern und Theaterleuten unter Platanenalleen. Das war Mythos genug und das war Aix! Heute weiß ich nicht, ob mir das reichen würde, die gleiche Verzückung aus einer besenkammergroßen, stickigen Unterkunft heraus zu erspüren, bei überhöhten Preisen der Straßencafes und Restaurants und wo es auf der Flaniermeile mehr lautstark nach Benzin riecht als an anderen unbekannteren Flecken in der Provence, wo man den Mythos - besser: die Faszination - dieser Region viel intensiver erleben kann.
In früheren Radljahren war ich mit Superlativen leichter in Erregung zu versetzen - der erste Zweitausender, der höchste Alpenpass, der südlichste Punkt der Reise. Das schob mir Tränen in die Augen. Mancher Mythos ist heute zur Routine verkommen, gleichzeitig gibt es unscheinbarere Momente, die mir Tränen in die Augen drücken. Das alles ist eine Sache, die sich zwischen Kopf und Seele abspielt - immer weniger können es vorgegebene Wertungen erwirken. Dennoch bleibe ich von den Eindrücken der Außenwelt abhängig - ein besonders schöner Ort, erstrahlt in herrlichem Frühmorgenglanz, sorgt immer noch für unbeschriebliche Glücksmomente. Es darf ein bekannter Ort sein, muss aber nicht. Profane Wetterkapriolen können außergewöhnliche Orte zum Nichts degradieren. Oder sie sie lassen einen Juchzen, wie der leuchtende Regenbogen über dem verregneten See, wo man noch kurz vorher über das schlechte Wetter fluchte. Der Ort muss mir die Inspiration zuflüstern. Die wichtigste Quelle der Inspiration ist die Muse, die Zeit, in der man die eigene Fantasie fließen lassen kann. Manchmal sind es nur kurze, aber zeitlose Momente. Manchmal wächst der Mythos nur mit meinem Tun, mit der Art des Erlebens, die nicht wiederholbar ist.
Früher strebte auch ich eher auf den Pfaden der mythischer Orte, die andere bestimmt oder hinterlassen haben. Jetzt reifen immer mehr Orte und Wesen zu Bildern, die einen eigenen Mythos schaffen, der nicht teilbar ist. Das ist der Mythos der eigenen Fantasie. Manchmal kann ich davon etwas erzählen - aber das ist nicht sicher. Es bleibt auch immer ein Geheimnis. Sonst wäre es kein neuer Mythos.
Meine Geschichts- und Lateinlehrerin pflegte zu erzählen, wie sie im heutigen Ruinenfeld des Forum Romanum in Rom die Säulenhallen und das Leben der Römer in Tunikas und Togas auferstehen sah, und ihr die Reden von Marc Anton oder die Gedichte von Catull von den Podesten und Plätzen ins Ohr gefallen sind. Jeder, der ein Buch mit Leidenschaft gelesen, bei dem sich starke Bilder aufdrängen, kennt das. Mir brannten sich unvergesslich Bilder aus Bulwers Roman "Die letzten Tage von Pompeji" ein - sodann mit entsprechenden Nachwirkungen bei den Besuchen der versunkenen Stadt gleichwohl. Bei meiner Radreise vor einigen Jahren dort zum dritten Mal empfand ich in Pompeji allerdings nur den Gestank von Müll und den Lärm von Autos. Die Fantasiebilder waren zu schwach geworden, um die Realerlebnisse zu verdrängen. Vielleicht fehlte mir auch nur die Zeit, die gleichen Gefühle erneut zu empfinden wie früher.
Mancher Mythos ist eben nur banal - also etwa der eines geografischen Extrempunktes wie das Nordkap. Was erwartest du vom geografischen Mittelpunkt Deutschlands? Andere Orte beinhalten zumindest Geschichten oder Sagen, die den Mythos ausmachen. Die Geschichte (sowie soziale, wirtschaftliche) Bedeutung nannte ich schon (der Mythos der Seidenstraße beruht nicht unerheblich auf seiner wirtschafltichen Bedeutung als Handelsroute - also "Verkehr", "Geschäfte machen"). Mancher Ort hingegen erreichte den Nimbus als Mythos durch besondere Formen der Natur (Berg-/Gesteinsformen, seltsamer Pflanzenbewuchs, eigenartige Landschaftsanordnungen, besondere Erscheinungen wie Spiegeleffekte - und natürlich herausragende Schönheit - was immer das sein mag). Manche Formen habe sich im Laufe der Zeit mit sagenhaften Erzählungen verknüpft, die den Mythos gemeinsam schaffen (z.B. der Berg Canigou). Man muss also auch einfach Sinn haben, den Mythos als etwas Besonderes nachzuempfinden - egal auf welche Weise. Es ist daher nicht selten, dass man in den eigenen Augen den Mythos nicht wiederfindet. Die Nüchternheit ist dabei der größte Feind des Fantasiegebildes, dass man braucht, um leuchtende Augen zu bekommen. Nicht zuletzt lockt ein mythischer Ort Heerscharen von Erwartungshungrigen an, die damit wiederum eine ernüchterne Atmosphäre schaffen (Massentourismus, Verbauungen usw.).
In Zeiten meiner Jugend lernte ich zwei Südafrikanerinnen beim Trampen in der Provence kennen. Beim gemeinsamen Ziel Aix-en-Provence fragten sie mich, was an Aix so Besonderes sei. Ich antwortete, es sei die Hauptstadt der Provence. "Ja klar, aber was sonst noch?" fragten sie zurück, worauf es mir die Sprache verschlug, derweil ich nichts mehr hinzuzufügen hatte. Was will man noch mehr? - Mir reichte damals dieses Wort "Provence" um ins Schärmen zu geraten, den Anklang lauwarmer Nächte, das Zirpen von Zikaden, der Duft von Lavendel, das offenherzige Leben auf den Märkten, der Geruch der reifen Früchte oder das heitere Spiel von Straßenmusikanten, Gauklern und Theaterleuten unter Platanenalleen. Das war Mythos genug und das war Aix! Heute weiß ich nicht, ob mir das reichen würde, die gleiche Verzückung aus einer besenkammergroßen, stickigen Unterkunft heraus zu erspüren, bei überhöhten Preisen der Straßencafes und Restaurants und wo es auf der Flaniermeile mehr lautstark nach Benzin riecht als an anderen unbekannteren Flecken in der Provence, wo man den Mythos - besser: die Faszination - dieser Region viel intensiver erleben kann.
In früheren Radljahren war ich mit Superlativen leichter in Erregung zu versetzen - der erste Zweitausender, der höchste Alpenpass, der südlichste Punkt der Reise. Das schob mir Tränen in die Augen. Mancher Mythos ist heute zur Routine verkommen, gleichzeitig gibt es unscheinbarere Momente, die mir Tränen in die Augen drücken. Das alles ist eine Sache, die sich zwischen Kopf und Seele abspielt - immer weniger können es vorgegebene Wertungen erwirken. Dennoch bleibe ich von den Eindrücken der Außenwelt abhängig - ein besonders schöner Ort, erstrahlt in herrlichem Frühmorgenglanz, sorgt immer noch für unbeschriebliche Glücksmomente. Es darf ein bekannter Ort sein, muss aber nicht. Profane Wetterkapriolen können außergewöhnliche Orte zum Nichts degradieren. Oder sie sie lassen einen Juchzen, wie der leuchtende Regenbogen über dem verregneten See, wo man noch kurz vorher über das schlechte Wetter fluchte. Der Ort muss mir die Inspiration zuflüstern. Die wichtigste Quelle der Inspiration ist die Muse, die Zeit, in der man die eigene Fantasie fließen lassen kann. Manchmal sind es nur kurze, aber zeitlose Momente. Manchmal wächst der Mythos nur mit meinem Tun, mit der Art des Erlebens, die nicht wiederholbar ist.
Früher strebte auch ich eher auf den Pfaden der mythischer Orte, die andere bestimmt oder hinterlassen haben. Jetzt reifen immer mehr Orte und Wesen zu Bildern, die einen eigenen Mythos schaffen, der nicht teilbar ist. Das ist der Mythos der eigenen Fantasie. Manchmal kann ich davon etwas erzählen - aber das ist nicht sicher. Es bleibt auch immer ein Geheimnis. Sonst wäre es kein neuer Mythos.