Re: Was ist dran am Mythos Nordkap?

Posted by: Cruising

Re: Was ist dran am Mythos Nordkap? - 08/11/15 07:51 AM

Hallo miteinander,

jetzt muss ich zu diesem Faden auch noch meinen Senf dazugeben. Solche Themen, auch wenn man ihnen auf den ersten Blick ihren Tiefgang nicht ansieht, sind echte und wertvolle Grundsatz-Diskussionen zur Philosophie des Reisens, die (völlig berechtigt und wertfrei) die unterschiedlichsten Intentionen für eine Radreise offen legen.

Also, zum Nordkap wollte auch ich absolut und garnie nicht – das war aber nicht immer so. Wie der Schlumpf weiter oben schreibt, war das tatsächlich in den 70ern mal ein Traumziel, auch für mich. Für meinen 100-Mark-Opel Rekord aber unerreichbar, der schon in Stuttgart am Pragsattel in den roten Temperaturbereich geriet grins Später, in unserer Wohnmobil-Phase, hatten wir uns das Nordkap dann mal vorgenommen, sind tatsächlich auch gestartet und hatten so irgendwo um den Polarkreis genug von der elenden Fahrerei, sind umgedreht und in Südnorwegen Wandern gegangen. Und heute mit dem ganzen Kommerz… gestrichen. Ich habe ein tiefsitzendes Problem mit solchen Dingen, die angeblich „Kult“ sind. Genauso würden mich keine 10 Pferde auf den Jakobsweg bringen, schon deswegen, weil man sich dort eine blöde Muschel um den Ranzen hängt, die aussieht als wäre sie von einer Tankstellenkette gesponsert und die mich immer an ein Warndreieck erinnert. Wo solche Typen umeinander tigern muss ich nicht sein, sorry. Und hinterher kriegt man eine Urkunde, die einen als „Qualitätspilger“ ausweist, egal ob man ein gläubiger Mensch ist oder nicht Aber man hat gezeigt, dass man dazugehört.

Dieses Kult-Angeberei, gefördert von unserer gezielt leistungsorientierten Gesellschaft, führt dann so weit, dass manche sich im Rollstuhl auf das Matterhorn lupfen lassen. Oder, wie neulich in einem Interview mit Arved Fuchs gelesen, sich mit einem Wahnsinns Aufwand an Logistik ein paar Kilometer vor dem Nordpol auf dem Packeis aussetzen lassen und dann vollends zu Fuß hinlatschen, damit sie sich dort fotografieren lassen können. Und in der Kneipe heißt es dann: „Mann, der Karle war schon zu Fuß am Nordpol…“ Absolut ätzend, wo bleibt die Freude – und vor allem das echte Interesse an der Natur und Kultur eines Reiseziels?

Ich persönlich finde immer, das wichtigste an einer Reise ist ein Roter Faden – und ein selbst gestecktes Ziel. Je weiter entfernt von einem „Kult“, desto besser. Unsere USA-Durchquerung von NYC nach LA war ein solches Ziel, selbstverständlich jeden Meter geradelt. War auch eine gute Zeit auf der Route 66 damals vor 20 Jahren – heute weist die Mother Road starke Parallelen mit dem Nordkap auf und es gibt bald mehr Factory Outlet Stores als historische Kneipen.

Auch unsere Panamericana-Tour in Etappen hatte einen ein solchen Roten Faden. Auch wenn wir aus diversen Gründen Mut zur Lücke haben mussten und bewusst auch andere Verkehrsmittel eingebaut haben, etwa die Alaska Ferry. Trotzdem, auch eine echt befriedigende Tour mit langer Nachwirkung. Und dieses Jahr bei unserer Tour von Houston nach Key West war auch der Rote Faden wichtig – und die Tatsache, dass man per pedales über das Meer zum „Southernmost Point of the USA“ kommen konnte, schon mehr als halfway to Cuba. Wenn tatsächlich die Fähre nach Havanna nächstes Jahr in Betrieb gehen sollte, machen wir das vielleicht nochmal zwinker

So viel wollte ich jetzt gar nicht schreiben schmunzel Der langen Rede kurzer Sinn: Jeder muss einen eigenen auf seine persönlichen und echten Interessen zugeschnittenen Roten Faden haben – und ohne „Kult“. Das erfordert auch ein gewisses Maß an Persönlichkeit, aber es wird dann 100%ig eine befriedigende Reise, wie auch immer: Have Fun!

Gruß Thomas
www.bikeamerica.de