Re: Giro Piemontese Grande

Posted by: veloträumer

Re: Giro Piemontese Grande - 11/22/17 07:46 PM

„Goethe hat unwiderlegbar dargelegt, wie besonders begabte Leute … dringend der Behilflichkeit des Teufels bedürfen”
Robert Walser

P-0 Bildreportage mit Daten in 10 Regionalblöcken
Übersicht & Digitrack


Summen: 37 Tage, 52 Pässe | 2425 km | 47535 Hm
Mittelwerte: 66 km/d | 1285 Hm/d | 1960 Hm/100 km

Digitrack GPSies (am PC nachgebaut, kein Live-Tracking; Stadtfahrten sind angedeutet, aber nicht authentisch; enthält einige kleinere Fehler (u.a. ist die Strecke Gavi – Novi Ligure falsch gezeichnet): Giro Piemontese Grande

Da ich hier keine ausführlichen Etappenbeschreibungen leiste, noch einige Grundbemerkungen vorweg. In der Reihe meiner großen mehrwöchigen Radreisen steht diese unmittelbar nach der Karantanien-Reise im Vorjahr an zweiter Stelle nach Schwierigkeitsgrad (topografische Schwierigkeit, barometrisch gemessen in Hm/100 km). Die im Vergleich zu meinen Alpentouren der letzten 10 Jahre eher „geringe“ Anzahl der Pässe sollte nicht täuschen, denn etliche Bergstraßen waren Stichstraßen ohne Passübergänge, was der Typik der Piemonteser Alpen entspricht. Durch äußere Umstände verhinderte Routen, Abkürzungen und „entschärfte“ Wege legen nahe, dass die Tour der Planung nach noch schwieriger hätte ausfallen können. Die Anzahl supersteiler Rampen war hier kaum geringer als auf der vorgenannten Südostalpen-Tour, was die immer wieder betonten Unterschiede aus steilen Ostalpen und weniger steilen Westalpen zwar nicht widerlegt, aber doch recht nachdrücklich relativiert. Es ist allerdings spezifisch, dass die Piemonteser Alpen im prozentualen Durchschnitt mehr heftige Steigungen aufweisen als die französische Westalpenseite. Dies ist aber eine Spezialbetrachtung topografischer Nuancen, die für einen durchschnittlichen Alpenberadler keine Aussagekraft hat, der in viele dieser Nischen gar nicht eindringt.


Eine von vielen Steilrampen im Piemont: Der Colle della Vaccera

Es geht aber auch anders. Die Region kennt weit einfachere Varianten gleich in unmittelbarer Nachbarschaft – nicht nur in den Weinregionen der Langhe und des Monferrato, sondern auch entlang des Alpenfußes. Ebenso ist nicht jedes Alpental sehr steil, charakteristisch waren sehr unterschiedliche Steigungsstufen in langgezogenen Tälern. Deswegen gibt es auch erhebliche Schwankungen, was den Schwierigkeitsgrad angeht, was wiederum typisch ist, wenn man den Natur- und Kulturraum Alpen umfassend kennen lernen möchte. Und das war auch hier wieder einmal mein Fokus, und nicht, wie man ob meiner Datenblöcke irrig meinen könnte, eine sportliche Rekordtour. Nicht zufällig lag auch diesmal der Durchschnittswert km/d weit unter den Durchschnitten der großen Reisen in den vergangenenen Jahre (aber identisch mit Karantanien im letztem Jahr – auch eine „Inspirationsreise“).

Die Mühen der Tour sind vor allem das, was die Spuren und legendhafte Fantasie im Gedächtnis tiefer einprägt (vgl. Zitat Vassalli oben) oder gar erst Inspiration erzeugt. Das würde sicherlich erst vollständig begreifbar, wenn man meine komplette Geschichte dazu lesen würde. Die Mußezeiten waren also tief anregend in den Gedanken, und trotzdem empfand ich manche Verweilzeit wieder mal als zu kurz, musste ich manchmal sogar vor den Wetterkapriolen überhastet flüchten. Andererseits brachten mich manche Zwangspausen und Leistungseinschränkungen zur Döselei, die nicht unbedingt immer „effizient“ nutzbar waren im Sinne des Natur- oder Kulturerlebens. Aber auch das sind nicht Verlustzeiten, sondern wertige Mußezeiten. Meistens merkt man das erst, wenn diese Momente vorbei sind, in der Erinnerung arbeiten.

Die Reiseregion war mir gewiss nicht neu, obwohl es nicht mehr als 2-3 Wiederholungspässe gab. Dennoch gab es eine Reihe von Schnittpunkten, gar einige identische Streckenabschnitte zu Touren der Vergangenheit. Allen voran ist wohl meine Tour Westalpen Sommer 2009 zu nennen. Im Süden lagen hier Schnittmengen in den Ligurischen Alpen etwa mit Orten etwa wie Isolabona, Ponte di Nave, Garessio oder aber auch erste Ausblicke auf die LGKS mit dem Guárdia- und Garezzo-Pass. Im Norden lagen einige Schnittmengen im Biellese, am Ortasee und nördlichen Lago Maggiore. Mehrere Schnittstellen gab es ebenso zum Großen Alpen-Südbogen (2007). Dort warf ich am Colle di Valcavera einen ersten Blick auf die MSKS, deren Beschaffenheit mir dort recht passabel erschien. Abwärts gings wie heuer das Vallone dell’Arma nach Demonte, den Ginster dort immer noch gut in Erninnerung. Ich kam durchs Valle Varáita, jedoch ohne echte Schnittmenge. Eine weitere signifikante Überschneidung lag im Norden mit dem Val Vigezzo und der Region Locarno. Noch vor meine Forumszeit reicht eine Reise im Jahre 2002, die mich u. a. über Avigliana und Pinerolo ins Valle Vermenagna Richtung Tende-Pass brachte, mit weiteren Parallelläufen im Valle Roya.

Aus dem Forum heuer lenkte mich der sportliche Kletterspezialist Stefan alias Moarg (Alpenbogen Nizza – Bad Reichenhall) auf meine alte Gedankenspur, Po-Quelle, Nivolet-Pass und Col de Lys noch erkunden zu wollen. Der Kosmos wuchs jedoch weit größer an. Gibt es im Norden an der Grenze zur Schweiz nicht noch einen gigantischen Wasserfall, der seine Pracht nur durch Schleusenöffnung zu bestimmten Uhrzeiten preisgibt? Regte sich daran anschließend die schwammige Erinnerung aus Autofahrerzeiten über ein wildes, enges Tal am Rande des Val Grande – will da nochmal hin! Kroch die alte Vision vom Monte Verità vom naturverbundenen, nackten Leben wieder ins Gedächtnis, dessen Geschichte ich noch nie vollständig erkundet hatte.


Eines der Leitziele für meinen Giro Piemontese Grande: Die offizielle Po-Quelle auf dem Hochplateau Pian del Re

Die Ligurische Grenzkammstraße stufte ich lange als für mich nicht fahrbar ein, den Geschmackszünder brachte die Instandsetzung des Mautbereichs im Jahre 2014 und Formulierungen wie „Unterschiede zu zuvor sind dramatisch“, „Schotterstraße für fast jedes Fahrzeug“, „demnächst für Chopperfahrer“ usw. auf Alpenrouten.de (Motorrad-Guide für die Alpen). Solche Wertungen von Hardcore-Crossern verdächtige ich allerdings der Übertreibung – so locker ist das aauch heute nicht. Wie groß die Unterschiede zu vorher sind, mag ich nicht ganz aus der recht anschaulichen Beschreibung der nordöstlichen Hauptroute von Forumsmitglied Holger rauslesen ( Provencalischer Sommer 2009, Beschreibung aber nur über dessen Website), der noch die alte Wegequalität gefahren ist. Zumindest konnte ich alle Bereiche auf der heutigen Mautstrecke ohne Schieben fahren, was nach Holgers Lesart wohl auf alter Straße nicht hätte der Fall sein dürfen. Wie auch alle anderen LGKS-Notizen im Forum fehlt es aber noch an einer aktuellen Dokumentation seit Instandsetzung, die hoffentlich hiermit geliefert ist (deswegen auch ausführlich im Glossar behandelt).

Italien-Kenner Gerhard aus dem Forum lieferte mir ein paar gute Hinweise zum Wein- und Haselnuss-Piemont, auch nur über dessen Website (Langhe/Monferrato), über dessen Herrlichkeit ich bereits weit vor meiner Forumszeit in einem Artikel einer Radzeitschrift las, welchen ich mit der Hoffnung auf Realisierung archivierte. Aus dem Genueser Hinterland waren mir menschenverlorene Naturschutzgebiete mit romantischen Wasserstellen vor Jahren mal zu Ohr gekommen. Als ich dann die Landkarte wieder anschaute, schienen auf einmal mehr Täler gegraben zu sein als ich jemals zuvor wahrgenommen hatte – nicht nur im Apennin, sondern auch in den Alpen. Was Wunder, heißt es ja, die Alpen wachsen immer noch…



Keine Frage, wurde mein Konzept wieder sehr eigenwillig. Der Leitfaden durch einen Wanderweg wie den GTA wählte ich ja schon häufiger zu einer Eigeninterpretation für Radfahrer – etwa mit der Via Dinarica, dem Alpe Adria Trail oder dem Katharerweg in den Pyrenäen. Es ist hier letztlich für jeden was dabei, der sich intensiver mit dem Piemont beschäftigen möchte – unabhängig von der Fortbewegungsart. Langsam ist allerdings immer kohärent – zumal in einer Region mit der Wiege der Slow-Food-Bewegung (samt einer Universität für gastronomische Wissenschaft in Bra).

Die eher wenigen Übergänge nach Frankreich bin ich schon auf früheren Alpentouren gefahren und standen diesmal nicht an. Auch konnten die beradelten Stichtäler nur eine Auswahl darstellen, zu verzweigt und vielfältig sind die Möglichkeiten. Das gilt auch für die Offroad-Möglichkeiten. Dafür müsste man auch immer versuchsbereit sein, denn längst lassen sich nicht alle Wegezustände vorab eruieren. Dabei hilft schon mal eine Negativauswahl, wenn etwa Forumsmitglied Markus alias mstuedel zwar genussvoll den Übergang vom Valle di Bognanco ins Zwischenbergental schildert (Säumerpasstour "Passo del Monscera"), desgleichen aber die Route als eher ungeeignet für Reiserad qualifiziert. (Ein Stich zumindest ins Valle di Bognanco bis Ende der Fahrbarkeit entfiel aus anderen Gründen.)


Zwangspause wie Mußezeit im Regenschleier am Lago di Mergozzo

Aus verschiedenen Gründen musste ich auch die meisten geplanten Wanderungen ausfallen lassen, wobei ich ohnehin keine Konkurrenz zum GTA-Wanderer angestrebt hatte. Obwohl nie richtig kalt, herrschte etwa die Hälfte der Reisezeit eine sehr labile, nicht selten gewittrige Wetterlage (einmal über 24 h Dauerregen), der ich gelegentlich Tribut zahlen musste. Etwa zur Hälfte der Strecke stand auch die Tourfortsetzung auf der Kippe, um nicht zu sagen, dass ich wohl selten so nahe am endgültigen Abschied vom Erdenball gewesen bin. Das Glück im Unglück mag mit irdischen Maßstäben nicht zu messen sein. Sicherlich war auch eine Portion Unvernunft dabei, die Tour mit aufgeschlagenen Knien fortzusetzen, deren Wundschließung nicht zuletzt wegen mangelnder Ruhe zwei Monate dauern sollte. (In seltsamer wie mysteriöser Weise gab es hier Parallelen zur Westalpentour 2009, auf der ich gewichtige Teile mit einer knirschenden Sehne zu Ende gefahren bin.)

Die somit ausgeschütteten Endorphine müssen dann wohl auch zwangsläufig zu den fantastischen Geschichten geführt haben – kann ich doch solche Gedankenniederschläge mir selbst nicht verwehren – auch wenn es dafür wohl kaum eine dankbare Leserschaft gibt. Es ist von der Kunst überliefert, dass sie nur nachhaltig wirkt, wenn der Mensch, der sie formuliert, auch die Wege des Leids gegangen ist. Genau das bewirkt auch die Furchen im Gedächtnis, von denen Vassalli gesprochen hat – im übertragenden Sinne der Berge auch immer dort, wo es Abgründe gibt, die von eingeebneten Vernunftnormen abweichen. Vieldeutig und poetisch heißt es auf Keith Jarrett’s Album „Dark Intervals“: „Light is only precious during dark intervals.“


Abkürzungen:
A = Albergo
AE = Abendessen
B = Besichtigungen und Orte mit längerer Verweilzeit (Städte, Dörfer, Naturorte, Badestellen, Wanderungen, Museen etc.)
C = Camping
H = Hotel
ME = Mittagessen
mFr = mit Frühstück
mFr/AE = Halbpension
P = Pizzeria
R = Ristorante
Ü = Übernachtung
W = Wetter
X = Extras, besondere Vorkommnisse

Fortsetzung folgt